»Ich finde, der Abschlussball ist so was wie Silvester«, behauptet Lucas.
Ich lümmele mit Chris und ihm im Krankenzimmer herum, weil die Schulkrankenschwester gerade Mittagspause macht und nichts dagegen hat, wenn wir es uns solange auf ihrem Sofa gemütlich machen. Da unser letztes Schuljahr bald vorbei ist, sind alle hier ziemlich großzügig zu uns.
»Silvester ist ja noch die harmlose Variante«, spottet Chris und zupft an ihren Fingernägeln.
»Würdest du mich bitte aussprechen lassen?« Lucas seufzt und fängt noch mal an. »Wie schon gesagt, der Abschlussball bricht doch unter der Last der Erwartungen, die an ihn gestellt werden, völlig zusammen – ein perfekter Highschool-Abend, den jeder amerikanische Teenager erleben muss. Man wendet so viel Zeit und Geld dafür auf, dass man meint, man wäre verpflichtet – nein, man hätte geradezu ein Recht darauf –, einen epischen Abend zu erleben. Was kann einem solchen Erwartungsdruck schon gerecht werden?«
Ich glaube, der perfekte Highschool-Abend wird am Ende irgendein kleiner, unwichtiger Moment sein, den man weder geplant noch erwartet hat. Er passiert einfach. Ich hatte schon ungefähr zwölf perfekte Schulabende mit Peter, deshalb muss der Prom für mich kein besonders außergewöhnlicher Abend werden. Wenn ich daran denke, stelle ich mir Peter im Smoking vor, wie er meinen Vater höflich begrüßt und Kitty ein Anstecksträußchen ans Kleid heftet. Und wie wir alle für ein Foto vor dem Kamin posieren. Ich muss Peter unbedingt bitten, auch für Kitty einen kleinen Strauß mitzubringen.
»Heißt das, du gehst nicht hin?«, frage ich Lucas.
Wieder seufzt er. »Keine Ahnung. Es gibt eben niemanden hier, mit dem ich Lust hätte, hinzugehen.«
»Wenn ich Peter nicht hätte, würde ich dich fragen«, sage ich. Dann schaue ich von Lucas zu Chris. »He, warum geht ihr zwei nicht zusammen?«
»Ich gehe nicht zum Prom«, meint Chris. »Ich fahre vermutlich mit meinen Applebee-Leuten nach Washington, um durch die Clubs zu ziehen.«
»Du kannst doch den Prom nicht einfach ausfallen lassen, Chris. Mit deinen Freunden kannst du jeden Tag durch die Clubs ziehen. Den Abschlussball gibt es nur ein Mal!«
Am Tag nach dem Ball habe ich Geburtstag, und ich bin ein bisschen gekränkt, dass Chris das offenbar vergessen hat. Wenn sie nach Washington fährt, wird sie vermutlich das ganze Wochenende dort verbringen, und dann werde ich sie an meinem Geburtstag nicht sehen.
»Der Prom ist doch total öde. Nichts für ungut. Ich meine, du wirst dich bestimmt super amüsieren, Lara Jean; schließlich bist du mit dem Ballkönig zusammen. Und wie heißt das Mädchen, mit dem du dich angefreundet hast? Tammy?«
»Pammy«, sage ich. »Aber wenn du nicht dabei bist, macht es keinen Spaß.«
Sie legt den Arm um mich. »Oooh.«
»Wir hatten uns doch vorgenommen, zusammen zum Abschlussball zu gehen und dann auf dem Spielplatz der Grundschule den Sonnenaufgang anzuschauen.
»Das kannst du doch mit Kavinsky tun.«
»Das ist aber nicht das Gleiche.«
»Reg dich nicht auf«, meint Chris. »Vermutlich wirst du in der Nacht deine Unschuld verlieren, da wirst du mit Sicherheit nicht an mich denken.«
»Ich habe nicht vor, in der Abschlussballnacht Sex zu haben«, fauche ich.
Mein Blick wandert zu Lucas, der mich mit großen Augen anstarrt. »Lara Jean … du hast noch nie mit Kavinsky geschlafen?«
Ich vergewissere mich, dass niemand auf dem Gang steht und lauscht. »Nein, aber bitte erzähl das keinem. Nicht dass ich mich deswegen schäme oder so. Ich will nur nicht, dass alle davon wissen. Das ist meine Sache.«
»Das verstehe ich, klar, aber … wow«, sagt er und klingt immer noch total baff. »Das ist echt … wow.«
»Warum ist das so außergewöhnlich?«, frage ich und spüre, wie meine Wangen heiß werden.
»Er sieht so … gut aus.«
Ich lache. »Das stimmt.«
»Ist doch logisch, dass Sex in der Prom-Nacht so ein Thema ist«, sagt Chris. »Es ist nun mal Tradition, aber dazu kommt, dass alle schick angezogen sind und die ganze Nacht wegbleiben dürfen. Die meisten Leute werden nie wieder so gut aussehen wie an ihrem Abschlussball, so rausgeputzt, und das ist eigentlich ziemlich traurig. Wie Lemminge rennen sie zur Maniküre und Pediküre und lassen sich die Haare glätten. Voll banal.«
»Lässt du dir nie die Haare glätten?«, fragt Lucas.
Chris verdreht die Augen. »Natürlich.«
Ich sage: »Und warum verurteilst du dann andere Leute, wenn sie …«
»Hör zu, darum geht es hier doch gar nicht. Ich will damit nur sagen …« Sie runzelt die Stirn. »Warte, worüber haben wir gerade gesprochen?«
»Haare glätten, Maniküre, Lemminge?«, meint Lucas.
»Davor.«
»Sex?«, sage ich.
»Genau! Klar ist es ein Klischee, seine Jungfräulichkeit in der Nacht des Abschlussballs zu verlieren, aber so was wird nicht ohne Grund zum Klischee. Die Bedingungen sind einfach optimal: Man darf die ganze Nacht wegbleiben, man sieht gut aus und so weiter und so fort. Da ist es nur logisch, dass es dazu kommt.«
»Ich schlafe doch nicht zum ersten Mal mit einem Jungen, weil es praktisch ist und meine Frisur gut aussieht, Chris.«
»Musst du ja nicht.«
In meiner Fantasie wird mein erstes Mal im College passieren, in meinem eigenen Zimmer, als erwachsene junge Frau. Es ist schwer vorstellbar, dass es jetzt passiert, solange ich noch zu Hause wohne, wo ich Lara Jean, die Schwester und Tochter, bin. Im College werde ich einfach nur Lara Jean sein.