21

Es ist spät. Ich sitze in meinem Bett und schaue mir die Unterlagen aus dem Willkommenspaket an, das ich vom William and Mary erhalten habe. Leider stellt sich heraus, dass Erstsemester keine Autos auf dem Campus haben dürfen. Gerade als ich Peter anrufen will, um ihm das zu sagen, bekomme ich eine Nachricht von John Ambrose McClaren. Überrascht lese ich seinen Namen auf dem Display. Es ist lange her, seit wir das letzte Mal gesprochen haben. Dann lese ich, was er schreibt.

Stormy ist letzte Nacht im Schlaf verstorben. Die Beerdigung ist am Mittwoch in Rhode Island. Ich dachte, du würdest das gerne
wissen.

Einen Moment lang sitze ich völlig perplex da. Wie kann das sein? Bei meinem letzten Besuch ging es ihr doch gut. Sie war topfit. Sie war Stormy. Sie kann nicht tot sein. Nicht meine Stormy. Die legendäre Stormy, die mir beibrachte, wie man roten Lippenstift so aufträgt, dass er »selbst einen Abend voller Küsse und Champagner übersteht«.

Ich fange an zu weinen und kann gar nicht mehr aufhören. Ich bekomme keine Luft mehr und kann vor lauter Tränen nichts mehr sehen. Sie tropfen auf das Handy, immer wieder wische ich sie mit dem Handrücken weg. Was soll ich zu John sagen? Er war ihr Lieblingsenkel, und sie standen sich sehr nahe.

Zuerst tippe ich: Das tut mir so leid. Kann ich dir irgendwie helfen? Dann lösche ich es wieder, denn wie könnte ich ihm schon helfen?

Das tut mir so leid. Sie war so eine temperamentvolle und besondere alte Dame. Ich werde sie sehr
vermissen.

Danke. Ich weiß,
dass sie dich auch sehr gernhatte.

Bei seiner Nachricht strömen mir neue Tränen über das Gesicht.

Stormy hat immer gesagt, sie fühle sich so, als sei sie erst in den Zwanzigern. Und dass sie manchmal träumen würde, sie sei wieder ein Mädchen und würde ihren Ex-Männern begegnen, die alle alt wären, aber sie wäre immer noch die junge Stormy. Sie sagte, wenn sie morgens aufwache, sei sie dann jedes Mal ganz überrascht, in dem alten Körper mit den alten Knochen zu stecken. »Nur meine Beine, die sind noch ganz die Alten«, meinte sie. Und das stimmte auch.

Ich bin fast erleichtert, dass die Beerdigung in Rhode Island ist, zu weit weg, um hinzufahren. Seit dem Tod meiner Mutter war ich auf keiner Beerdigung mehr. Damals war ich neun, Margot elf und Kitty erst zwei. Ich erinnere mich vor allem daran, wie ich neben meinem Vater sitze, der Kitty auf dem Arm hält, und spüre, wie sein Körper zittert, während er stumm weint. Kittys Wangen waren ganz nass von seinen Tränen. Sie hat nichts verstanden, nur, dass er sehr traurig war. Immer wieder sagte sie: »Nicht weinen, Daddy«, und er versuchte, sie anzulächeln, aber sein Lächeln sah aus, als würde es jeden Moment schmelzen. So hatte ich mich bis dahin noch nie gefühlt – als ob nichts mehr sicher wäre und auch nie wieder sein würde.

Wieder kommen mir die Tränen, wegen Stormy, wegen meiner Mutter, wegen allem.

Stormy wollte, dass ich ihre Memoiren für sie aufschreibe. Stürmisches Wetter sollte der Titel lauten. Dazu sind wir nie gekommen. Wer soll ihre Geschichten jetzt erzählen?

Peter ruft an, aber ich bin zu traurig, um mit ihm zu reden, und lasse die Mailbox rangehen. Am liebsten würde ich John anrufen, aber dazu habe ich kein Recht. Stormy war seine Großmutter, und ich bin nur ein Mädchen, das ehrenamtlich in ihrem Altersheim ausgeholfen hat. Der einzige Mensch, mit dem ich reden möchte, ist meine Schwester, weil sie Stormy ebenfalls kannte und weil es mir immer besser geht, wenn ich mit Margot spreche. Aber in Schottland ist jetzt Nacht.

Gleich am nächsten Morgen rufe ich Margot an. Ich weine wieder, als ich ihr die Nachricht überbringe, und sie weint mit. Margot hat schließlich die Idee, im Belleview eine Gedenkfeier für Stormy abzuhalten. »Du sagst ein paar Worte, servierst ein bisschen was zu knabbern, und dann können alle ihre Erinnerungen austauschen. Das wäre sicher schön für ihre Freunde dort; sie können schließlich auch nicht zur Beerdigung.«

Ich putze mir die Nase. »Das würde Stormy sicher gefallen.«

»Ich wünschte, ich könnte dabei sein.«

»Das wünschte ich auch.« Meine Stimme ist ganz zittrig. Wenn Margot bei mir ist, fühle ich mich immer stärker.

»Du hast doch Peter«, meint sie.

Bevor ich zu Schule fahre, rufe ich Janette an, meine frühere Chefin im Belleview, und erzähle ihr von der Idee mit der Gedenkfeier. Sie ist sofort einverstanden und schlägt als Termin den Donnerstagnachmittag vor, noch vor dem Bingo.

Als ich Peter in der Schule von der Feier erzähle, zieht er ein langes Gesicht. »Mist. Da muss ich mit meiner Mutter zu den Campustagen.« Das ist der Tag der offenen Tür für angehende Erstsemester an der UVA. Man besucht mit seinen Eltern den Campus, darf schon mal in Seminare reinschnuppern und die Wohnheime besichtigen. Ein wichtiges Ereignis. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, als ich noch dachte, ich würde ebenfalls dort studieren.

»Ich kann es aber auch schwänzen«, bietet er an.

»Auf keinen Fall. Deine Mutter würde dich umbringen. Du musst gehen.«

»Das ist mir egal«, sagt er, und ich glaube ihm sogar.

»Schon gut. Du hast Stormy ja gar nicht gekannt.«

»Ich weiß. Aber ich wäre gern für dich da.«

»Der gute Wille zählt«, sage ich zu ihm.

Anstatt Schwarz zu tragen, wähle ich ein Sommerkleid, das Stormy so hübsch an mir fand. Es ist weiß und am Saum mit kornblumenblauen Vergissmeinnicht bestickt, dazu hat es kurze Puffärmel, die mir von der Schultern rutschen, und eine schmale Taille. Weil ich es letztes Jahr am Ende des Sommers gekauft habe, konnte ich das Kleid bisher erst einmal anziehen. Ich war mit Peter im Kino verabredet und fuhr auf dem Weg dorthin noch schnell bei Stormy vorbei. Sie meinte, ich sähe aus wie ein Mädchen aus einem italienischen Film. Deshalb habe ich mich für dieses Kleid entschieden, zusammen mit den weißen Sandalen für die Schulabschlussfeier und einem Paar Spitzenhandschuhen, die Stormy bestimmt auch gefallen hätten. Sie stammen aus einem Secondhandladen in Richmond, und als ich sie nun anziehe, sehe ich fast vor mir, wie Stormy in solchen Handschuhen auf Bällen oder Tanzabenden über die Tanzfläche wirbelt. Nur den rosafarbenen Diamantring, den sie mir geschenkt hat, lasse ich zu Hause. Den möchte ich erst an meinem Abschlussball tragen, so wie Stormy es gewollt hat.

Ich nehme unsere Bowleschüssel mit ins Altersheim, dazu eine Kristallschale mit Erdnüssen, einen Stapel Cocktailservietten, die mit Kirschen bestickt sind und die ich bei einer Haushaltsauflösung ergattert habe, außerdem unsere Thanksgiving-Tischdecke. Im Heim verteile ich ein paar Rosen auf dem Klavier, an dem Stormy immer saß, und bereite dann eine Bowle aus Gingerale und gefrorenem Fruchtsaft zu. Ohne Alkohol, was Stormy sicher abgelehnt hätte, aber wegen ihrer Medikamente dürfen nicht alle Bewohner alkoholische Getränke konsumieren. Dafür stelle ich eine Flasche Champagner neben die Schüssel, falls jemand seine Bowle etwas aufpeppen möchte. Zum Schluss lege ich Frank Sinatra auf, von dem Stormy immer sagte, sie hätte ihn sich als zweiten Ehemann gewünscht.

John hat versprochen, ebenfalls zu kommen, falls er rechtzeitig von Rhode Island zurück ist, und diese Aussicht macht mich ein bisschen nervös. Seit meinem Geburtstag vor fast einem Jahr haben wir uns nicht mehr gesehen. Wir waren nie wirklich ein Paar, aber wir wären fast zusammengekommen, und so etwas bedeutet mir schon viel.

Die ersten Gäste treffen ein. Eine Pflegerin schiebt Mrs. Armbruster in ihrem Rollstuhl herein, die an Demenz leidet, aber früher gut mit Stormy befreundet war, dann kommen Mr. Perelli, Alicia, Shanice vom Empfang und Janette. Es ist eine kleine Gruppe. Tatsächlich kenne ich immer weniger Leute im Belleview. Ein paar sind zu ihren Kindern gezogen, ein paar sind gestorben. Auch in der Belegschaft sind nicht mehr viele vertraute Gesichter. Das Heim hat sich verändert, ohne dass ich es mitgekriegt habe.

Ich stehe vorne im Raum, und mein Herz klopft wie wild in meiner Brust. Ich bin furchtbar nervös wegen meiner Rede, ich habe Angst, dass ich mich verhaspele und nicht die richtigen Worte finde. Ich möchte es gut machen; ich möchte, dass Stormy stolz auf mich ist. Alle schauen mich erwartungsvoll an, nur Mrs. Armbruster strickt und starrt ins Leere. Meine Knie zittern unter meinem Kleid. Ich hole tief Luft und will gerade anfangen, da kommt John Am­brose McClaren herein, in einem gebügelten Hemd und Stoffhosen. Er setzt sich neben Alicia aufs Sofa, ich winke ihm, und er lächelt mir aufmunternd zu.

Ich hole noch einmal tief Luft. »Es war im Jahr 1952.« Ich räuspere mich und schaue auf das Blatt in meiner Hand. »Es war Sommer, und im Radio wurde Frank Sinatra gespielt. Lana Turner und Ava Gardener waren berühmte Filmstars. Stormy war achtzehn. Sie spielte in einer Blaskapelle und war zu der Schülerin mit den schönsten Beinen gekürt worden, und sie war jeden Samstag mit einem anderen Jungen verabredet. An dem Abend ging sie mit einem Jungen namens Walt aus und sprang wegen einer Mutprobe nackt in den städtischen See. Stormy konnte eben keiner Herausforderung widerstehen.«

Mr. Perelli lacht und sagt: »Das stimmt, das konnte sie nicht.« Die anderen murmeln zustimmend: »So war sie nun mal.«

»Ein Bauer rief die Polizei, und als die Polizisten mit ihren Lampen den See anleuchteten, befahl Stormy ihnen, sich umzudrehen, bevor sie aus dem Wasser kam. In dieser Nacht wurde sie von einem Polizeiauto nach Hause gebracht.«

»Nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal«, ruft jemand. Alle lachen, und ich spüre, wie sich meine verkrampften Schultern entspannen.

»Stormy hat in einer Nacht mehr erlebt als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Sie war eine echte Naturgewalt. Sie hat mir beigebracht, dass es in der Liebe …« Auf einmal kommen mir die Tränen, und ich muss noch mal von vorne anfangen. »Stormy hat mir beigebracht, dass es in der Liebe darum geht, jeden Tag mutige Entscheidungen zu treffen. Genau das hat sie auch getan. Sie hat sich immer für die Liebe entschieden und immer für das Abenteuer. Beides gehörte für sie untrennbar zusammen. Jetzt ist sie zu einem neuen Abenteuer aufgebrochen, und wir wünschen ihr viel Glück dabei.«

Auf dem Sofa wischt sich John mit dem Ärmel über die Augen.

Ich nicke Janette zu. Sie schaltet die Stereoanlage an, und das Lied Stormy weather erklingt. »Don’t know why there’s no sun up in the sky …«

Kurz darauf kommt John auf mich zu, zwei Plastikbecher mit Fruchtbowle in der Hand. Reumütig sagt er: »Bestimmt würde sie uns befehlen, ein bisschen was Stärkeres reinzukippen, aber …« Er reicht mir einen Becher, und wir stoßen an. »Auf Edith Sinclair McClaren Sheehan, besser bekannt als Stormy.«

»Stormy hieß in Wirklichkeit Edith? Das klingt so ernst. Es klingt nach jemandem, der Wollröcke trägt und dicke Strümpfe und abends Kamillentee trinkt. Stormy hat aber immer nur Cocktails getrunken!«

John lacht. »Aber echt.«

»Wieso hieß sie dann Stormy? Warum nicht Edie?«

»Wer weiß?«, meint John mit einem schiefen Lächeln. »Deine Rede hätte ihr jedenfalls sehr gefallen.« Sein Blick ist warm und anerkennend. »Du bist ein sehr nettes Mädchen, Lara Jean.«

Ich blinzele verlegen und weiß nicht, was ich sagen soll. Obwohl wir nie zusammen waren, fühlt sich das Wiedersehen mit John so an, wie ich mir die Begegnung mit einem Ex-Freund vorstelle. Irgendwie wehmütig. Vertraut, aber auch ein bisschen unangenehm, weil zwischen uns so vieles unausgesprochen geblieben ist.

Dann sagt er: »Stormy hat mich ständig darum gebeten, dass ich meine Freundin mitbringen soll, wenn ich sie besuche, aber irgendwie habe ich das nie geschafft. Jetzt habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen.«

So beiläufig wie möglich sage ich: »Oh, du bist mit jemandem zusammen?«

Er zögert einen Sekundenbruchteil lang und nickt dann. »Sie heißt Dipti. Wir haben uns bei Model United Nations an der UVA kennengelernt. Sie hat mich bei der Wahl für den Komiteevorsitz geschlagen.«

»Wow«, sage ich.

»Ja, sie ist toll.«

Dann reden wir beide gleichzeitig weiter.

»Weißt du schon, wo du studierst?«

»Hast du dich schon entschieden …?«

Wir lachen, und auf einmal ist da eine Art Einverständnis zwischen uns.

John sagt: »Ich habe mich noch nicht entschieden. Entweder College Park oder das William and Mary. College Park hat eine gute Wirtschaftsfakultät und liegt in der Nähe von Washington. Das William and Mary steht weiter oben in den Ranglisten, dafür ist Williamsburg ziemlich weitab vom Schuss. Deshalb weiß ich es noch nicht. Mein Vater ist ziemlich sauer; er wollte unbedingt, dass ich an die UNC gehe, aber ich habe keinen Platz bekommen.«

»Das tut mir leid.« Ich beschließe, nicht zu erwähnen, dass ich dort auf der Warteliste stehe.

John zuckt mit den Schultern. »Vielleicht versuche ich, im zweiten Jahr zu wechseln. Mal sehen. Und du? Gehst du an die UVA?«

»Ich bin nicht genommen worden«, gestehe ich.

»Oh Mann! Ich habe schon gehört, dass sie dieses Jahr total streng aussortiert haben. Die zweitbeste Schülerin unserer Schule hat keine Zusage bekommen, und ihre Bewerbung war megagut. Deine bestimmt auch.«

Schüchtern sage ich: »Danke, John.«

»Und wo wirst du dann hingehen?«

»Ans William and Mary.«

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Ernsthaft? Das ist toll! Und Kavinsky?«

»An die UVA.«

Er nickt. »Wegen seinem Lacrosse, oder?«

»Was ist mit … Dipti?« Ich sage es so, als würde ich mich nicht an ihren Namen erinnern, dabei habe ich ihn erst vor zwei Minuten gehört. »An welches College geht sie?«

»Sie hatte schon im Frühzulassungsverfahren eine Zusage für Michigan.«

»Wow, das ist ganz schön weit weg.«

»Deutlich weiter als die Entfernung zwischen der UVA und dem William and Mary, das ist mal sicher.«

»Wollt ihr trotzdem … zusammenbleiben?«

»Wir haben es vor«, sagt John. »Wir werden es auf jeden Fall mit einer Fernbeziehung versuchen. Was ist mit dir und Peter?«

»Wir auch, zumindest im ersten Jahr. Im zweiten möchte ich an die UVA wechseln.«

John stößt mit seinem Becher an meinen. »Viel Glück, Lara Jean.«

»Dir auch, John Ambrose McClaren.«

»Wenn ich auf das William and Mary gehe, rufe ich dich an.«

»Mach das«, sage ich.

Ich bleibe länger im Belleview als gedacht. Jemand holt ein paar alte Platten, und die Leute fangen an zu tanzen. Mr. Perelli besteht da­rauf, mir trotz seiner schmerzenden Hüfte Rumba beizubringen. Als Janette In the mood von Glenn Miller auflegt, trifft mein Blick Johns, und wir lächeln verstohlen, weil wir beide an die USO-Party denken. Der Abend damals kommt mir vor wie ein Film. Wie etwas, das lange zurückliegt.

Es mag seltsam klingen, bei der Gedenkfeier für jemanden, den man gernhatte, glücklich zu sein, aber so ist es. Ich bin froh, weil der Tag gut gelaufen ist und wir Stormy mit Stil verabschiedet haben. Wie schön, dass wir diese Gelegenheit hatten.

Als ich vom Belleview zurückkomme, hockt Peter mit einem Starbucks-Becher vor unserer Haustür.

»Ist keiner zu Hause?«, frage ich und eile durch den Vorgarten. »Musstest du lange warten?«

»Nein.« Er streckt die Arme aus und zieht mich an sich. »Setz dich kurz zu mir, bevor wir reingehen«, sagt er und vergräbt sein Gesicht an meinem Bauch.

Ich setze mich neben ihn.

»Wie war die Gedenkfeier? Wie lief deine Rede?«

»Gut, aber erzähl du erst von den Campustagen.« Ich nehme ihm den Becher aus der Hand und trinke einen Schluck. Der Kaffee ist kalt.

»Na ja. Ich hab mich in ein Seminar reingesetzt. Ein paar Leute kennengelernt. Nicht besonders aufregend.« Er nimmt meine rechte Hand und fährt mit dem Finger über meinen Spitzenhandschuh. »Die sind cool.«

Etwas beschäftigt ihn, etwas, das er nicht ausspricht. »Was ist los? Ist was passiert?«

Er wendet den Blick ab. »Mein Dad stand heute Morgen vor der Tür und wollte uns begleiten.«

Meine Augen werden groß. »Und … hast du es ihm erlaubt?«

»Nein.« Mehr sagt er dazu nicht.

Zögernd meine ich: »Offenbar will er wieder eine Beziehung zu dir aufbauen, Peter.«

»Dazu hatte er jede Menge Gelegenheiten, und jetzt ist es zu spät. Der Zug ist abgefahren. Ich bin kein Kind mehr.« Er hebt den Kopf. »Ich bin ein Mann, aber das ist weiß Gott nicht sein Verdienst. Und jetzt will er einfach nur die Anerkennung dafür einheimsen. Vor seinen Golfkumpels damit angeben, dass sein Sohn für die UVA Lacrosse spielt.«

Ich zögere. Dann denke ich an das Gesicht seines Vater, als er Peter auf dem Lacrossefeld beobachtet hat. Da lag so viel Stolz in seinen Augen – und Liebe. »Peter … und wenn … und wenn du ihm doch noch eine Chance gibst?«

Peter schüttelt den Kopf. »Du kapierst das einfach nicht, Lara Jean. Und du kannst froh sein, dass es so ist. Dein Vater ist total cool. Er würde alles für euch tun. Mein Dad ist nicht so. Er macht das bloß für sich. Wenn ich ihn wieder in mein Leben lasse, wird er nur wieder alles versauen. Das ist es nicht wert.«

»Aber vielleicht doch. Du weißt nie, wie viel Zeit dir mit deinen Eltern noch bleibt.« Peter zuckt zusammen. So was habe ich noch nie zu ihm gesagt, noch nie habe ich meine Mutter in so einem Zusammenhang erwähnt, aber nach Stormys Tod kann ich nicht anders. Ich muss es aussprechen, weil es stimmt und weil es mir sonst irgendwann leidtun würde. »Es geht nicht um deinen Vater. Es geht um dich. Es geht darum, später nichts zu bereuen. Tu dir nicht selbst weh, nur um es ihm heimzuzahlen.«

»Ich will nicht mehr über meinen Vater reden. Ich bin nicht deshalb hier, sondern um dich zu trösten.«

»Okay. Aber erst musst du mir versprechen, dass du darüber nachdenkst, ob du ihn vielleicht doch zur Abschlussfeier einlädst.« Peter will etwas erwidern, aber ich unterbreche ihn. »Denk einfach darüber nach. Mehr nicht. Bis zur Feier ist es noch einen ganzen Monat. Du musst das nicht jetzt entscheiden, also sag nicht gleich Nein.«

Peter seufzt, und ich bin mir sicher, dass er meinen Vorschlag ablehnen wird. Stattdessen fragt er: »Wie war deine Rede?«

»Ganz okay, denke ich. Ich glaube, Stormy hätte sie gefallen. Ich habe erzählt, wie sie mal nackt baden war und von der Polizei erwischt wurde. Oh, und John war auch rechtzeitig da.«

Peter nickt diplomatisch. Ich hatte ihm erzählt, dass John vielleicht auch kommen würde, und alles, was er dazu gesagt hat, war: »Cool, cool.« Er konnte auch schlecht darüber meckern – schließlich war Stormy Johns Großmutter.

»Und auf welche Uni geht McClaren?«

»Er hat sich noch nicht entschieden. Entweder Maryland oder das William and Mary.«

Peters Augenbrauen fliegen in die Höhe. »Wirklich? Das ist ja schön.« Er sagt es auf eine Weise, die klarmacht, dass er das keineswegs schön findet.

Ich bin irritiert. »Wie bitte?«

»Nichts. Hat er gewusst, dass du da auch hingehst?«

»Nein, das hab ich ihm heute erst erzählt. Aber das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun. Du benimmst dich ganz schön komisch, Peter.«

»Na ja, wie würdest du es denn finden, wenn ich dir erzählen würde, dass Gen an die UVA geht?«

»Keine Ahnung. Ich denke, es würde mich nicht groß stören.« Das meine ich ernst. Es ist lange her, dass ich wegen Peter und Genevieve eifersüchtig war. Seitdem haben Peter und ich so viel zusammen erlebt. »Außerdem ist das was anderes. John und ich waren nicht mal zusammen. Wir haben seit Monaten nicht mehr miteinander gesprochen. Und übrigens hat er eine Freundin. Und er hat sich auch noch gar nicht entschieden.«

»Und wo studiert seine Freundin?«

»In Ann Arbor.«

Er schnalzt abfällig mit der Zunge. »Das wird doch sowieso nicht halten.«

Leise sage ich: »Vielleicht denken andere Leute auch so über uns.«

»Das kann man doch absolut nicht vergleichen. Wir wohnen nur ein paar Stunden voneinander entfernt, und außerdem wechselst du sowieso bald hierher. Wir sind also höchstens ein Jahr getrennt. Und am Wochenende fahre ich zu dir. Das ist absolut kein Problem.«

»Du hast zwei Mal ›absolut‹ gesagt«, sage ich, um ihn zum Lächeln zu bringen. Als sein Gesicht ernst bleibt, fahre ich fort: »Du wirst Training haben und Spiele. Da wirst du keine Lust haben, jedes Wochenende nach Williamsburg zu kommen.« Zum ersten Mal denke ich darüber nach, wie wir das hinkriegen sollen.

Peter wirkt erst etwas betroffen, dann sagt er schulterzuckend: »Gut, dann kommst du eben zu mir. Du wirst dich schon an die Fahrt gewöhnen. Du musst eigentlich nur auf der Interstate bleiben.«

»Am William and Mary dürfen Erstsemester kein Auto haben. Und an der UVA auch nicht. Das habe ich nachgeschaut.«

Peter winkt ab. »Dann bitte ich eben meine Mutter, mir mein Auto zu bringen, wenn ich zu dir kommen will. Es ist ja nicht weit. Und du nimmst den Bus. Wir kriegen das schon hin. Um uns mache ich mir keine Sorgen.«

Ich schon, ein bisschen jedenfalls, aber das erwähne ich nicht, weil Peter offenbar nicht über die praktische Durchführbarkeit unserer Pläne reden will. Und ich eigentlich auch nicht.

Er rückt näher zu mir und fragt: »Soll ich heute vielleicht bei dir übernachten? Ich kann noch mal vorbeikommen, wenn meine Mutter im Bett ist. Dann kann ich dich ablenken, wenn du traurig bist.«

»Netter Versuch«, sage ich und kneife ihn in die Wange.

»Hat Josh mal bei euch übernachtet? Bei deiner Schwester, meine ich?«

Ich überlege. »Nicht dass ich wüsste. Ich bezweifele es. Schließlich reden wir hier von meiner Schwester und Josh.«

»Stimmt, das passt nicht zu ihnen.« Peter senkt den Kopf und reibt seine Wange an meiner. Er findet mein Gesicht so schön weich, das sagt er immer wieder. »Wir sind ganz anders als die zwei.«

Du hast doch nach ihnen gefragt, will ich sagen, aber dann küsst er mich, und ich kann nicht mal meinen Gedanken beenden, geschweige denn einen Satz.