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Das Ende eines Schuljahres fühlt sich immer irgendwie besonders an. Das ist jedes Jahr so und diesen Sommer umso mehr, weil es kein nächstes Schuljahr mehr geben wird. An der Schule sind alle schon im Ferienmodus. Die Lehrer tragen kurze Hosen und T-Shirts im Unterricht. Sie zeigen Filme und räumen ihre Schreibtische aus. Niemand hat mehr Energie, sich groß um irgendetwas Gedanken zu machen. Wir zählen einfach nur die Tage herunter und vertrödeln die Zeit. Alle wissen inzwischen, an welche Uni sie gehen werden, und die Gegenwart fühlt sich schon so an, als würde man durch einen Rückspiegel auf sie zurückschauen. Auf einmal kommt einem das Leben schnell und langsam zugleich vor. Als würde man an zwei Orten auf einmal sein.

Die Prüfungen laufen gut, sogar Mathe ist nicht so schlimm wie befürchtet. Und schwupps, ist meine Schulzeit vorbei. Peter ist zu seinem Trainingswochenende gefahren. Nach nur einem Tag vermisse ich ihn schon so sehr wie Weihnachten im Juli. Peter ist die heiße Schokolade in meiner Tasse, meine roten Handschuhe, das warme Gefühl am Weihnachtsmorgen.

Weil er versprochen hat, sich zu melden, wenn er mal Pause hat, habe ich mein Handy neben mich gelegt und den Klingelton auf laut gestellt. Heute Morgen rief er an, aber da stand ich gerade unter der Dusche, und bis ich es hörte, war er wieder weg. Sieht so unsere Zukunft aus? Vermutlich wird es anders sein, wenn ich am College bin und vollgepackte Tage habe, aber im Moment kommt es mir so vor, als würde ich auf einem Leuchtturm stehen und darauf warten, dass das Schiff meines Geliebten in den Hafen fährt. Für einen romantischen Menschen wie mich kein unangenehmes Gefühl, momentan jedenfalls. Das wird sich ändern, sobald es sich nicht mehr so neu anfühlt und Normalität geworden ist, ihn nicht mehr jeden Tag zu sehen. Im Moment aber ist diese Sehnsucht mit einem ganz eigenen, perversen Glücksgefühl verbunden.

Am späten Nachmittag wandere ich in meinem langen weißen Nachthemd, in dem ich laut Margot aussehe wie die Mädchen aus Unsere kleine Farm und laut Kitty wie ein Gespenst, in die Küche. Ich setze mich an den Tresen, ein Knie hochgezogen, öffne eine Dose mit Pfirsichen und esse sie mit der Gabel direkt aus der Dose. Es ist wahnsinnig befriedigend, in die siruptriefenden Pfirsichspalten zu beißen. Ich seufze laut.

Kitty schaut von ihrem Computer auf und fragt: »Wieso seufzt du so?«

»Ich vermisse … Weihnachten.« Ich beiße in einen weiteren Pfirsich.

Ihre Miene hellt sich auf. »Ich auch! Ich will dieses Jahr unbedingt ein paar Elche im Vorgarten aufstellen. Aber nicht diese billigen, sondern so hübsche aus Draht mit vielen Lichtern.«

Ich seufze wieder und stelle die Dose ab. »Klar.« Langsam liegt mir der Sirup schwer im Magen.

»Hör auf zu seufzen.«

»Warum tut es eigentlich so gut, wenn man seufzt?«, überlege ich laut.

Daraufhin stößt auch Kitty einen tiefen Seufzer aus. »Na ja, es ist ein bisschen wie Atmen. Und Atmen fühlt sich immer gut an. Luft ist einfach angenehm.«

»Aber wirklich.« Ich spieße einen weiteren Pfirsich auf. »Ich frage mich, wo man solche Hirsche kaufen kann. Im Kaufhaus vielleicht?«

»Es gibt doch diese Weihnachts-Deko-Läden. Da können wir uns mit allem eindecken. Ist nicht in Williamsburg auch einer?«

»Ja, auf dem Weg zum Outlet-Center. Einen neuen Kranz brauchen wir auch. Und Lichterketten wären cool. Damit der Garten so eine Winter-Wunderland-Stimmung bekommt. Vielleicht sollten wir den Baum dieses Jahr in Pastellfarben schmücken.«

Trocken sagt sie: »Nicht gleich übertreiben, bitte.«

Ich achte nicht darauf. »Wir dürfen nicht vergessen, dass Trina auch ziemlich viel Dekokram hat. Sie hat sogar ein ganzes Weihnachtsdorf, erinnerst du dich? Das liegt alles in den Kisten in der Garage.« Trinas Dorf besteht nicht nur aus einer kleinen Krippenszene, es gibt sogar einen Friseur, eine Bäckerei und einen Spielzeugladen. »Ich weiß gar nicht, wo wir das aufstellen sollen.«

Kitty zuckt die Schultern. »Dann müssen wir von unserem Kram was wegschmeißen.«

Meine Güte, Kitty ist wirklich so was von unsentimental!

Nüchtern fügt sie hinzu: »Unsere Sachen sind sowieso nicht mehr besonders toll. Die Baumdecke sieht ziemlich mitgenommen aus. Warum muss man etwas behalten, nur weil es alt ist? Neu ist fast immer besser als alt, weißt du.«

Ich wende den Blick ab. Die Baumdecke hat Mommy beim Weihnachtsbasar unserer Grundschule gekauft. Eine Mutter aus dem Förderkreis war begeisterte Strickerin. Margot und ich haben uns gestritten, welche wir nehmen sollten; sie wollte die rote mit dem karierten Rand, ich die weiße, weil ich dachte, dann würde es aussehen, als stünde unser Baum im Schnee. Mom hat die rote Decke genommen, weil sie fürchtete, die weiße könnte zu schnell dreckig werden. Die rote Baumdecke hat sich gut gehalten, aber Kitty hat recht: Es ist Zeit, sie auszumustern. Nur wegwerfen will ich sie auf keinen Fall und Margot sicher auch nicht. Zumindest ein Stück davon werde ich in meine Hutschachtel legen.

»Trina hat eine hübsche Baumdecke«, sagte ich. »Ganz weich und aus Kunstfell. Jamie Fox-Pickle wird es lieben, sich da reinzukuscheln.«

Mein Handy summt, und ich springe auf, um zu sehen, ob es Peter ist, aber es ist nur Daddy. Er will später was vom Thailänder zum Abendessen mitbringen und fragt, ob wir lieber Pad Thai oder Pad Si Yu wollen? Ich seufze wieder.

»Ehrlich, Lara Jean, wenn du noch ein Mal so laut seufzt, dann …« Kitty mustert mich drohend. »Ich weiß genau, dass du nicht wegen Weihnachten traurig bist. Peter ist gerade mal einen Tag weg, und du tust so, als wäre er in den Krieg gezogen.«

Ich beachte sie nicht und schreibe Dad aus reiner Gehässigkeit Pad Si Yu zurück, weil Kitty Pad Thai lieber mag.

In dem Moment trifft die E-Mail ein. Von der Zulassungsstelle an der UNC. Mein Bewerberstatus wurde aktualisiert. Ich klicke auf den Link.

Herzlichen Glückwunsch …

Ich bin nicht mehr auf der Warteliste. Was zum …?

Völlig verdattert sitze ich da und lese die Zeilen immer wieder. Ich, Lara Jean Song Covey, habe einen Studienplatz an der Universität von North Carolina in Chapel Hill! Ich bin sprachlos. Nie hätte ich gedacht, dass ich dort angenommen werden würde. Aber ich habe einen Platz!

»Lara Jean? Hallo?«

Erschrocken schaue ich auf.

»Ich habe dich gerade dreimal was gefragt. Was ist los mit dir?«

»Ähm … ich glaube, ich habe gerade einen Platz an der UNC in Chapel Hill bekommen.«

Kitty bleibt der Mund offen stehen. »Wahnsinn!«

»Komisch, was?« Verdattert schüttele ich den Kopf. Wer hätte das gedacht? Ich bestimmt nicht. Ich hatte die UNC ganz vergessen, nachdem ich auf der Warteliste gelandet war.

»Es soll total schwer sein, da reinzukommen, Lara Jean!«

»Ich weiß.« Ich bin immer noch wie benommen. Nachdem ich von der UVA abgelehnt worden war, habe ich mich richtig minderwertig gefühlt, als sei ich nicht gut genug, um dort zu studieren. Aber die UNC will mich haben! Dabei braucht man als Auswärtige deutlich bessere Noten für einen Studienplatz an der UNC, als die UVA von einheimischen Bewerbern verlangt.

Kittys Lächeln verblasst. »Aber wolltest du nicht auf das College of William and Mary gehen? Hast du nicht schon die Anzahlung überwiesen? Und wolltest du nicht nächstes Jahr an die UVA wechseln?«

Die UVA. Für einen kurzen Moment hatte ich den Wechsel an die UVA völlig vergessen und mich einfach nur über die Zusage der UNC gefreut. »Das ist der Plan«, sage ich.

Mein Handy summt, und mein Herz tut einen Satz, weil ich denke, es wäre Peter, aber die Nachricht ist nicht von ihm. Sie ist von Chris.

Lust auf Starbucks?

Ich schreibe zurück:

STELL DIR VOR: Ich hab einen Platz an der UNC!

OMG! Ich ruf dich an.

Eine Sekunde später klingelt mein Handy, und Chris kreischt: »Wie cool ist das denn!«

»Danke! Ich meine, wow. Ich bin nur … Es ist so eine gute Uni! Ich hätte nie gedacht …«

»Und was machst du jetzt?«, will sie sofort wissen.

»Ähm.« Ich schaue zu Kitty, die mich mit Adleraugen beobachtet. »Nichts. Ich gehe trotzdem aufs William and Mary.«

»Aber ist die UNC nicht die bessere Uni?«

»Sie steht auf jeden Fall höher in den Ranglisten. Keine Ahnung. Ich war noch nie da.«

»Dann los«, sagt sie.

»Den Campus besichtigen? Wann?«

»Jetzt sofort! Ganz spontan!«

»Bist du verrückt? Das ist vier Stunden von hier!«

»Blödsinn. Es sind nur knapp dreieinhalb Stunden. Ich habe gerade nachgeschaut.«

»Aber bis wir dort sind, ist es …«

»Sechs Uhr. Na und? Wir laufen ein bisschen herum, essen was und fahren wieder zurück. Warum nicht? Wir sind jung. Und du solltest die Uni wenigstens anschauen, der du absagen willst.« Bevor ich widersprechen kann, sagt sie: »Ich hol dich in zehn Minuten ab. Pack was zu essen für unterwegs ein.« Dann legt sie auf.

Kitty sieht mich an. »Du fährst nach North Carolina? Jetzt gleich?«

Ich schwebe wie auf einer Wolke und lache: »Sieht so aus.«

»Heißt das, du willst doch dort studieren und nicht in Williamsburg?«

»Nein, es ist nur – ich will einfach mal hinfahren. Meine Pläne haben sich nicht geändert. Aber sag Dad nichts davon.«

»Warum nicht?«

»Eben … weil. Sag ihm, dass ich mit Chris unterwegs bin und zum Abendessen nicht da sein werde, aber bitte verrate ihm nichts von der UNC.« Dann ziehe ich mich an und fliege wie eine Hexe durchs Haus und werfe alles Mögliche in eine Stofftasche. Getrocknete Wasabi-Erbsen, Mikado-Sticks, Wasserflaschen. Chris und ich sind noch nie zusammen irgendwo hingefahren, dabei habe ich mir das immer gewünscht. Und was kann es schon schaden, sich Chapel Hill anzuschauen, nur um zu sehen, wie die Stadt so ist? Ich werde sicher nicht dort studieren, aber es macht trotzdem Spaß, es sich vorzustellen.

Chris und ich haben schon die halbe Strecke nach Chapel Hill zurückgelegt, als ich merke, dass mein Akku leer ist. »Hast du vielleicht ein Auto-Ladekabel?«, fragte ich.

Sie singt laut mit dem Radio mit. »Nö.«

»Mist!« Ihr Akku ist auch fast leer, weil wir ihr Handy als Navi benutzt haben. Mir ist nicht ganz wohl dabei, ohne Handy so weit zu fahren. Vor allem, nachdem ich Kitty verboten habe, Dad zu sagen, wo ich bin. Wenn uns nun was zustößt? »Was meinst du, wann sind wir zurück?«

»Hör auf, dir ständig wegen allem Sorgen zu machen, Grandma Lara Jean. Das klappt schon.« Chris lässt die Fenster herunter und tastet nach ihrer Handtasche.

Ich hebe sie vom Boden auf und hole ihre Zigaretten heraus, bevor sie noch einen Unfall baut.

An einer roten Ampel zündet sie sich eine Zigarette an und saugt den Rauch tief in sich ein. »Wir sind wie Pionierinnen. Das macht das Ganze noch viel aufregender. Unsere Vorfahren hatten schließlich auch keine Handys.«

»Aber vergiss nicht, dass wir uns nur umschauen wollen. Ich gehe trotzdem aufs William and Mary.«

»Und du solltest nicht vergessen, dass es hier um das Ausloten von Optionen geht«, sagt Chris.

Das sagt auch Margot ständig. Die beiden haben mehr gemeinsam, als sie ahnen.

Den Rest der Fahrt schalten wir zwischen verschiedenen Radiosendern hin und her, singen laut mit und beratschlagen, ob Chris sich die Haare vorne pink färben soll oder nicht. Ich bin überrascht, wie schnell die Zeit vergeht. In weniger als dreieinhalb Stunden sind wir in Chapel Hill, genau wie Chris gesagt hat. Wir parken direkt an der Franklin Street, die so was wie die Hauptstraße zu sein scheint. Sofort fällt mir auf, wie sehr der UNC-Campus dem der UVA ähnelt. Viele Ahornbäume, viel Grün, viele Backsteingebäude.

»Hübsch hier, oder?« Ich bleibe stehen und bewundere einen pink blühenden Hartriegel. »Komisch, dass hier auch so viele davon wachsen, obwohl er doch die Staatsblume von Virgina ist. Welche Staatsblume hat eigentlich North Carolina? Weißt du das?«

»Keine Ahnung. Können wir jetzt bitte, bitte was essen? Ich bin am Verhungern.« Chris hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege, und wenn sie hungrig ist, sollte man sich besser vorsehen.

Ich lege den Arm um sie, und plötzlich überkommt mich eine tiefe Zuneigung zu ihr, weil sie mich auf diese Reise entführt hat. »Okay, dann wollen wir diesen hungrigen Magen mal besänftigen. Auf was hast du Lust? Pizza? Sandwich? Chinesisch?«

Sie legt ebenfalls den Arm um meine Schulter. Bei der Aufzählung der verschiedenen Möglichkeiten bessert sich ihre Laune sofort. »Du darfst aussuchen. Alles außer Chinesisch. Oder Pizza. Weißt du was? Lass uns Sushi essen.«

Zwei Jungen kommen die Straße lang, und Chris ruft: »He!«

Sie drehen sich um. »Was geht?«, fragt der eine. Er ist schwarz, gut aussehend, groß und kräftig und trägt ein T-Shirt auf dem CAROLINA WRESTLING steht.

»Wisst ihr vielleicht, wo es hier gutes Sushi gibt?«, fragt Chris.

»Ich esse kein Sushi, deshalb kann ich dir das leider nicht sagen.« Er schaut seinen rothaarigen Kumpel an, der nicht ganz so gut aussieht, aber trotzdem noch passabel. »Was meinst du?«

»Im Spicy Nine«, sagt der und mustert Chris. »Einfach die Franklin runter, dann kommt ihr direkt daran vorbei.« Er zwinkert ihr zu, dann gehen sie weiter.

»Sollen wir ihnen folgen?«, fragt sie und schaut ihnen nach. »Fragen, was sie heute Abend noch vorhaben?«

Ich ziehe sie in die Richtung, in die Jungs gezeigt haben. »Ich dachte, du hast Hunger.«

»Stimmt«, meint sie. »Aber das wäre schon mal der erste Punkt in der Pro-Spalte. Hübsche Kerle.«

»Ich bin mir sicher, dass es auf dem William and Mary auch hübsche Jungs gibt.« Hastig füge ich hinzu: »Nicht dass das für mich wichtig wäre. Ich habe ja schon einen Freund.« Der übrigens immer noch nicht angerufen hat. Mein Handy hat nur noch fünf Prozent, das heißt, wenn er es tut, wird es zu spät sein.

Nachdem wir Sushi gegessen haben, bummeln wir durch die Läden an der Franklin Street. Ich überlege, ob ich Peter eine Baseballmütze von der UNC mitbringen soll, aber er würde sie vermutlich sowieso nicht anziehen, weil er auf eine andere Uni geht.

Als wir an einem Laternenpfahl vorbeikommen, an dem ein paar Plakate hängen, bleibt Chris abrupt stehen. Sie deutet auf den Flyer von einem Musikclub namens Cat’s Cradle, wo an diesem Abend eine Band namens Meow Mixx spielen soll. »Komm, da gehen wir hin.«

»Hast du von der Band schon mal gehört?«, frage ich. »Was für Musik machen die überhaupt?«

»Ist doch egal. Lass uns hingehen!« Sie greift nach meiner Hand und wir rennen lachend die Straße hinunter.

Vor dem Club hat sich eine Warteschlange gebildet, und die Band spielt bereits. Fetzen tanzbarer Musik dringen durch die offene Tür. Zwei Mädchen stehen vor uns in der Schlange, Chris schlingt die Arme um mich und erzählt ihnen: »Meine beste Freundin hier hat gerade eine Zusage für die UNC bekommen.«

Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, als Chris mich als ihre beste Freundin bezeichnet. Es ist schön zu wissen, dass wir uns immer noch so viel bedeuten, obwohl sie ihre neuen Freundinnen von der Arbeit hat und ich mit Peter zusammen bin. Und auf einmal bin ich mir sicher, dass wir immer befreundet sein werden, auch wenn sie in Costa Rica, Spanien oder sonst wo landet.

Eines der Mädchen umarmt mich spontan und sagt: »Herzlichen Glückwunsch! Es wird dir bestimmt supergut gefallen.« Sie hat die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck: HILLARY IST MEINE PRÄSIDENTIN.

Ihre Freundin spielt an ihrem Ohrstecker herum, der wie ein Lolli aussieht, und sagt: »Gib Ehaus oder Craige als Wohnheimwunsch an. Da ist es am lustigsten.«

Kleinlaut gestehe ich: »Ich werde gar nicht herkommen. Wir sind nur hier, um uns die Uni mal anzuschauen. Nur zum Spaß.«

»Oh, wo gehst du dann hin?«, fragt sie mich mit einem leicht kritischen Ausdruck auf ihrem sommersprossigen Gesicht.

»Auf das College of William and Mary.«

»Das ist aber noch nicht sicher«, mischt Chris sich ein.

»Ziemlich sicher«, sage ich.

»Ich bin hergekommen, obwohl ich schon in Princeton angemeldet war«, erzählt das Mädchen mit den Zöpfen. »So gut hat es mir bei der Besichtigung gefallen. Du wirst schon sehen. Ich heiße übrigens Hollis.«

Wir stellen uns vor, und die Mädchen erzählen mir von der tollen Englischfakultät und dass sie immer zu den Basketballspielen im Dean Dome gehen und welche Kneipen auf der Franklin Street keinen Ausweis sehen wollen. Da ist Chris, die bei dem Bericht über die Englischfakultät schon abgeschaltet hatte, plötzlich wieder ganz Ohr. Bevor wir reingehen, gibt Hollis mir noch ihre Nummer. »Falls du dich doch noch umentscheidest.«

Drinnen ist es voll, eine Menge Leute stehen vor der Bühne, trinken Bier und tanzen. Die Band besteht aus zwei Typen mit Gitarren und Laptop, die Elektropop spielen. Die Musik dröhnt durch den ganzen Raum. Das Publikum ist gemischt: ein paar ältere Typen mit Band-T-Shirts und Bärten, die beinahe schon im Alter meines Vaters sind, aber auch viele Studenten. Chris versucht, den Stempel von ihrer Hand zu rubbeln, damit sie uns Bier kaufen kann, aber ohne Erfolg. Mich stört das nicht, weil ich Bier nicht wirklich mag, und außerdem muss sie uns heute Abend ja wieder nach Hause fahren. Ich frage die Leute um uns herum nach einem Ladegerät und bekomme dafür von Chris einen strafenden Klaps auf den Arm. »Wir sind auf Abenteuer unterwegs«, schreit sie. »Dafür brauchen wir kein Handy!«

Dann packt sie meine Hand und zieht mich vor die Bühne. Wir tanzen uns bis zur Mitte durch und hüpfen im Takt der Musik, obwohl wir keins der Stücke kennen. Einer der Musiker war früher mal auf der UNC, und mitten im Auftritt lässt er die Menge den Kampfgesang der Tar Heels anstimmen, der Basketballmannschaft der Uni: »I’m a Tar Heel born, I’m a Tar Heel bred, and when I die, I’m a Tar Heel dead!« Die Menge flippt aus und der ganze Club bebt. Chris und ich kennen den Text nicht, aber wir brüllen mit allen anderen: »Go to hell, Duke!«, an die Rivalen von der Duke University gerichtet.

Unsere Haare schwingen wild durch die Luft, ich schwitze und habe so viel Spaß wie fast noch nie in meinem Leben. »Das ist so cool!«, schreie ich Chris ins Gesicht.

»Aber echt!«, schreit sie zurück.

Nach dem zweiten Set der Band verkündet Chris, sie sei wieder hungrig, und wir schlendern hinaus in die Nacht.

Wir wandern eine Ewigkeit die Straße entlang, bis wir auf einen Imbiss namens Cosmic Cantina stoßen. Es ist ein winziger Mexikaner mit einer langen Schlange davor, und Chris behauptet, das sei entweder ein Zeichen für extrem gutes oder extrem billiges Essen. Wir bestellen jeder einen Burrito und schlingen sie geradezu in uns hinein. Sie sind prall gefüllt mit Reis und Bohnen, geschmolzenem Käse und hausgemachter Salsa. Eigentlich eher mild im Geschmack, abgesehen von der scharfen Sauce. Sie ist so scharf, dass meine Lippen brennen. Wären unsere Handys nicht außer Betrieb, hätte ich bestimmt im Internet nach den besten Burritos in Chapel Hill gesucht. Aber dann hätten wir diesen Imbiss nicht entdeckt, und seltsamerweise ist es der leckerste Burrito meines Lebens.

Nachdem wir gegessen haben, frage ich: »Wie spät ist es eigentlich? Wir sollten langsam zurückfahren, wenn wir vor eins zu Hause sein wollen.«

»Aber du hast doch den Campus noch gar nicht richtig gesehen«, protestiert Chris. »Gibt es da nichts, was dich interessiert? Eine langweilige Bibliothek oder so was in der Art?«

»Niemand kennt mich so gut wie du, Chris«, sage ich, und sie blinzelt geschmeichelt. »Eine Sache würde ich mir tatsächlich gern anschauen … sie ist in allen Prospekten abgebildet: die Old Well.«

»Dann mal los.«

Beim Gehen frage ich sie: »Findest du nicht, dass Chapel Hill ein bisschen wie Charlottesville ist?«

»Nein, ich finde, es ist viel cooler.«

»Du bist wie Kitty. Du denkst, alles, was neu ist, ist automatisch auch besser«, sage ich.

»Und für dich ist immer nur das Alte gut«, gibt sie zurück.

Da hat sie recht.

Den Rest des Wegs legen wir in kameradschaftlichem Schweigen zurück. Ich denke darüber nach, in welcher Hinsicht mich die UNC an die UVA erinnert und in welchen Punkten eher nicht.

Auf dem Campus ist es ruhig, vermutlich sind die meisten Studenten schon in den Sommerferien. Trotzdem sind noch Leute unterwegs: Mädchen in Sommerkleidern und Sandalen und Jungs in kurzen Hosen und UNC-Baseballkappen.

Wir überqueren eine Wiese, und da zwischen den Wohnheimgebäuden liegt sie, die Old Well. Eine kleine Rotunde, wie eine Miniaturversion des Rundgebäudes an der UVA, mit einem Trinkbrunnen in der Mitte. Hinter ihr ragt eine große Weiß-Eiche in die Höhe, die umringt ist von Azaleen, deren grellpinke Blüten mich an Stormys Lippenstift erinnern. Ein bezaubernder Anblick.

»Kann man sich hier was wünschen?«, fragt Chris und tritt an den Brunnen.

»Ich meine, gelesen zu haben, dass es Glück bringen soll, wenn man am ersten Tag des Semesters einen Schluck aus dem Brunnen trinkt«, erkläre ich. »Glück oder gute Noten.«

»Da, wo ich hingehe, brauche ich keine guten Noten, aber Glück nehme ich gerne mit.«

Chris beugt sich vor, um einen Schluck zu trinken, da warnen ein paar Mädchen im Vorbeigehen: »Lieber nicht! Hier pinkeln ständig die Verbindungstypen rein …«

Ihr Kopf fährt zurück, und sie springt mit einem Satz vom Brunnen weg. »Iiiih!« Dann meint sie: »Komm, wir machen ein Selfie.«

»Das geht nicht. Unsere Handys sind tot, hast du das vergessen? Wir werden die Erinnerung einfach in unserem Herzen bewahren müssen, so wie früher.«

»Schön gesagt«, sagt Chris. »Sollen wir langsam zurück?«

Ich zögere. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin noch nicht bereit, schon aufzubrechen. Vielleicht werde ich nie wieder hierherkommen. Ich entdecke eine Bank vor einem der Backsteingebäude und setze mich. »Lass uns noch ein bisschen bleiben.«

Ich ziehe die Knie hoch, und Chris nimmt neben mir Platz. Sie spielt mit den vielen Armbändern an ihrem Handgelenk. »Ich wünschte, ich könnte mit dir herkommen.«

»Ans College oder an die UNC?« Ihr nachdenklicher Tonfall erwischt mich so unvorbereitet, dass ich versäume, sie daran zu erinnern, dass ich ja auch nicht hier studieren werde.

»Entweder – oder. Beides. Versteh mich nicht falsch – ich freue mich total auf Costa Rica. Es ist nur … ich weiß nicht. Es kommt mir so vor, als würde ich was verpassen, weil ich nicht gleichzeitig wie alle anderen aufs College gehe.« Fragend sieht sie mich an.

Ich beruhige sie. »Das College wird auch nächstes Jahr noch hier sein und auf dich warten, Chris. Und im Jahr darauf auch. Wann immer du willst.«

Chris dreht sich um und blickt über den Rasen. »Vielleicht. Mal sehen. Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, wie du hier studierst, Lara Jean. Du nicht?«

Ich schlucke. »Aber ich habe alles schon genau geplant: Erst das William and Mary für ein Jahr, dann an die UVA.«

»Du meinst, Peter und du, ihr habt das so geplant. Und deshalb zögerst du.«

»Okay, Peter und ich haben alles schon geplant. Aber das ist nicht der einzige Grund.«

»Aber der wichtigste.«

Das kann ich nicht abstreiten. Das Einzige, was mir fehlen wird, ob ich nun am William and Mary studiere oder hier, ist Peter.

»Warum gehst du nicht für ein Jahr hierher?«, fragt Chris. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob du hier studierst oder am William and Mary? Du wirst auf keinen Fall an der UVA sein, dann kannst du doch genauso hierherkommen.« Sie wartet nicht auf eine Antwort. Stattdessen springt sie auf, rennt auf den Rasen, schleudert ihre Schuhe von sich und schlägt eine ganze Reihe von Rädern.

Aber was ist, wenn ich hierherkomme und es gefällt mir richtig gut? Wenn ich nach einem Jahr nicht mehr wegwill? Was dann? Aber wäre es nicht wunderbar, wenn es mir hier gut gefallen würde? Ist das nicht eigentlich der Sinn und Zweck des Ganzen? Wa­rum darauf bauen, dass es einem irgendwo nicht gefällt? Warum nicht die Chance ergreifen und darauf setzen, dass es gut werden wird?

Ich lege mich auf die Bank, strecke die Beine aus und schaue zum Himmel. Hoch über mir erstreckt sich von beiden Seiten ein Baldachin aus Ästen, der eine Baum steht neben dem Wohnheimgebäude, der andere ist mitten in den Rasen gepflanzt. Ihre Zweige ragen über den Fußweg hinweg und berühren sich in der Mitte. Warum könnten Peter und ich nicht wie diese zwei Bäume sein: weit entfernt und trotzdem verbunden? Denn ich glaube, ich könnte hier glücklich werden. Ich könnte mir gut vorstellen, hier zu leben.

Was hat Stormy noch gesagt? Am letzten Tag, als ich sie gesehen habe, an dem Tag, an dem sie mir ihren Ring geschenkt hat? Sag niemals Nein, wenn du eigentlich Ja sagen willst.

Als Chris vor unserem Haus hält, ist es kurz nach drei. Sämtliche Lampen brennen. Oje.

Ich drehe mich zu ihr. »Kommst du mit mir rein?«, flehe ich.

»Niemals. Da musst du alleine durch. Ich muss nach Hause und meine Mutter beruhigen.«

Ich umarme Chris zum Abschied, steige aus und trotte die Stufen hoch. Noch während ich in meiner Tasche nach meinem Schlüssel suche, fliegt die Haustür auf. Es ist Kitty, in einem riesigen Schlaf­shirt. »Das gibt richtig Ärger«, flüstert sie.

Ich trete ein, und Dad steht direkt hinter ihr, immer noch in seiner Arbeitskleidung. Trina sitzt auf dem Sofa und wirft mir einen Blick zu, nach dem Motto: Das gibt richtig Stress. Und das tut mir zwar leid für dich, aber du hättest wenigstens anrufen können.

»Wo warst du den ganzen Abend?«, brüllt Dad. »Und warum bist du nicht an dein Handy gegangen?«

Ich schrumpfe zusammen. »Mein Akku ist leer. Tut mir leid. Ich hab nicht gemerkt, dass es so spät geworden ist.« Kurz überlege ich, ob ich, um die Stimmung etwas zu lockern, einen Witz darüber machen soll, dass wir Millenials genau aus dem Grund wieder Uhren tragen sollten, aber ich glaube nicht, dass das jetzt noch was bringt.

Daddy marschiert im Wohnzimmer auf und ab. »Und warum hast du nicht Chris’ Handy genommen?«

»Ihr Akku ist auch leer …«

»Wir haben uns zu Tode geängstigt! Kitty sagte, du wärst mit Chris los, ohne zu sagen, wohin …« Bei diesen Worten wirft Kitty mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich war kurz davor, die Polizei anzurufen, Lara Jean! Wenn du jetzt nicht zur Tür reingekommen wärst …«

»Tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir wirklich furchtbar leid.«

»Das ist so unverantwortlich«, murmelt Dad vor sich hin, ohne mir zuzuhören. »Lara Jean, du magst jetzt achtzehn sein, aber …«

Vom Sofa aus sagt Trina: »Dan, bitte sag jetzt nicht: ›Aber du wohnst immer noch unter meinem Dach.‹ Das ist so ein abgedroschener Spruch.«

Dad fährt zu ihr herum. »Er mag abgedroschen klingen, aber er ist trotzdem wahr! Und hier passt er sehr gut! Sehr, sehr gut!«

»Lara Jean, erzähl ihnen einfach, wo du warst«, sagt Kitty ungeduldig.

Dad wirft ihr einen anklagenden Blick zu. »Kitty, hast du etwa gewusst, wo sie ist?«

»Ich musste ihr versprechen, es keinem zu erzählen!«

Bevor er darauf etwas sagen kann, erkläre ich: »Ich war mit Chris in North Carolina.«

Er wirft die Hände in die Höhe. »In North Carolina? Was zum … Wie kannst du es wagen? Du hast, ohne mich zu informieren, den Staat verlassen? Noch dazu mit einem leeren Handy?«

Mir ist ganz schlecht, weil ich ihm so viel Kummer bereitet habe. Ich weiß nicht, warum ich nicht angerufen habe. Ich hätte mir ja von jemandem ein Handy ausleihen können. Vermutlich bin ich so mitgerissen worden von diesem Abend, davon, dort zu sein, dass ich nicht mehr an zu Hause oder an das wirkliche Leben denken wollte. »Tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so, so leid. Ich hätte anrufen sollen.«

Er schüttelt den Kopf. »Und warum warst du in North Carolina?«

»Weil …« Ich halte inne. Wenn ich es jetzt laut ausspreche, dann war’s das. »Weil ich einen Platz an der UNC bekommen habe.«

Dads Augen werden groß. »Wirklich? Das … das ist ja wunderbar. Und was ist mit dem William and Mary?«

Ich lächele und hebe die Schultern.

Trina kreischt auf und springt von der Couch. Sie lässt die Flanelldecke fallen, in die sie sich gewickelt hatte, und stolpert fast darüber. Dad zieht mich an sich und umarmt mich, und Trina schlingt ebenfalls die Arme um mich. »Oh mein Gott, Lara Jean!«, sagt sie und klopft mir auf den Rücken. »Du wirst ein Tar Heel!«

»Ich freue mich, dass du dich freust«, sagt Dad und wischt sich eine Träne aus dem Auge. »Ich bin zwar immer noch stinksauer, weil du nicht angerufen hast. Aber ich freue mich trotzdem.«

»Dann wirst du also doch an die UNC gehen?«, fragt Kitty von ihrem Sitzplatz auf der Treppe.

Ich schaue zu ihr. Mit einem zittrigen Lächeln sage ich: »Ja, das werde ich.« Peter und ich werden einen Weg finden. Wir werden das schon schaffen.

Ich berichte ihnen ausführlich von meinem Abend: von dem Konzert im Cat’s Cradle, dem Burrito in der Cosmic Cantina, dem Campus mit der Old Well. Trina macht Popcorn, und es ist fast Morgen, als wir alle ins Bett gehen.

Als Dad ins Schlafzimmer schlurft, flüstert Trina mir zu: »Dein Vater ist in einer Nacht um zehn Jahre gealtert. Sieh nur, er geht, als würde er einen Stock brauchen. Dank dir muss ich jetzt einen alten Mann heiraten.« Wir fangen beide an zu lachen und können gar nicht mehr aufhören. Ich glaube, wir sind beide schon im Delirium vor Schlafmangel. Trina rollt sich auf den Rücken und strampelt mit den Beinen, weil sie so lachen muss. Kitty, die auf dem Sofa eingeschlafen ist, wacht auf und sagt: »Was ist denn so lustig?«, worüber wir nur noch mehr lachen müssen. Daddy bleibt auf der Treppe stehen, dreht sich um und schaut kopfschüttelnd auf uns hinunter. »Ihr verbündet euch immer gegen mich«, meint er.

»Finde dich damit ab, Dad. Du lebst nun mal in einem Matriarchat.« Ich hauche ihm einen Kuss zu.

Er verzieht das Gesicht. »He, denk nicht, ich hätte vergessen, dass du die ganze Nacht weggeblieben bist, ohne wenigstens anzurufen.«

Ups. Vielleicht ist es noch zu früh für so viel gute Laune. Während er die Treppe nach oben trottet, rufe ich: »Tut mir wirklich furchtbar leid!«

Es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe, aber nicht, dass ich gefahren bin.