Das ist das letzte Mal, dass wir diese Treppe zusammen hochgehen: Peter, zwei Stufen auf einmal nehmend, ich dicht hinter ihm, schnaufend und keuchend, um mit ihm Schritt zu halten. Es ist der letzte Schultag für die Zwölftklässler, der letzte Tag meiner Schulzeit an der Highschool.
Oben angekommen, sage ich: »Ich finde es irgendwie angeberisch, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ist dir schon mal aufgefallen, dass so was nur Jungs machen?«
»Mädchen würde es bestimmt auch tun, wenn sie größer wären.«
»Margots Freundin Chelsea ist eins dreiundsiebzig, und ich glaube nicht, dass sie zwei Stufen auf einmal nimmt.«
»Willst du damit sagen, dass Jungs die größeren Angeber sind?«
»Vermutlich. Findest du nicht?«
»Kann sein«, gibt er zu.
Die Schulglocke läutet, und die Schüler gehen in ihre Klassenzimmer.
»Sollen wir die erste Stunde schwänzen und Pfannkuchen essen gehen?« Er hebt lockend die Augenbrauen und zieht mich am Riemen meiner Schultasche zu sich her. »Komm schon, du willst es doch auch.«
»Auf keinen Fall. Heute ist mein letzter Schultag. Ich muss mich unbedingt von Mr. Lopez verabschieden.
Peter stöhnt. »Du Streberin.«
»Du wusstest, wie ich bin, als wir zusammengekommen sind«, erkläre ich.
»Das stimmt.«
Bevor wir getrennte Wege gehen, strecke ich erwartungsvoll die Hände aus.
Peter sieht mich neugierig an.
»Mein Jahrbuch!«
»Oh Mist! Schon wieder vergessen.«
»Peter! Heute ist der letzte Schultag! Und ich habe erst die Hälfte aller Unterschriften zusammen!«
»Tut mir leid«, sagt er und fährt sich durch die Haare, sodass sie ganz zerzaust aussehen. »Soll ich schnell nach Hause fahren und es holen?« Er sieht aufrichtig betrübt aus, aber ich bin trotzdem sauer.
Als ich nicht gleich antworte, macht Peter Anstalten, zurück zur Treppe zu gehen, aber dann halte ich ihn doch auf. »Nein, bleib da. Schon gut. Ich lasse es einfach bei der Abschlussfeier herumgehen.«
»Bist du sicher?«, fragt er.
»Klar.« Wir haben heute nicht mal mehr einen ganzen Schultag, da will ich nicht, dass er nur wegen meines Jahrbuchs noch mal nach Hause fährt.
Im Unterricht geht es ziemlich entspannt zu, wir laufen eigentlich nur herum und verabschieden uns von den Lehrern, den Sekretärinnen, den Cafeteria-Mitarbeiterinnen und der Schulkrankenschwester. Viele von ihnen werden wir bei der Abschlussfeier sehen, aber nicht alle. Ich verteile die Kekse, die ich am vergangenen Abend noch gebacken habe. Wir bekommen unsere letzten Noten – alles in Ordnung, ich brauche mir keine Sorgen zu machen.
Es dauert Ewigkeiten, mein Schließfach leer zu räumen. Ich finde irgendwelche Zettel von Peter, die ich aufgehoben habe, und stecke sie sofort ein, damit ich sie in sein Scrapbook kleben kann. Ein alter Müsliriegel. Staubige schwarze Haargummis, was echt ironisch ist, weil man sonst nie ein Haargummi findet, wenn man eins braucht.
»Ich finde es richtig traurig, die Sachen wegzuwerfen, sogar den alten Müsliriegel«, sage ich zu Lucas, der auf dem Fußboden sitzt und mir Gesellschaft leistet. »Ich habe ihn jeden Tag am Boden meines Schließfachs liegen sehen. Er ist wie ein alter Freund. Sollen wir ihn uns teilen, zur Erinnerung an diesen Tag?«
»Igitt«, sagt Lucas. »Der ist bestimmt längst vergammelt.« Nüchtern fügt er hinzu: »Nach der Abschlussfeier werde ich vermutlich keinen von den Leuten hier wiedersehen.«
Ich schaue ihn verletzt an. »He! Was ist mit mir?«
»Dich schon. Du kommst mich ja auch in New York besuchen.«
»Ooh! Ja, bitte.«
»Mein College liegt so zentral, dass ich alle Broadway-Theaterstücke sehen kann, die ich möchte. Es gibt sogar eine App, über die man verbilligte Studentenkarten kaufen kann.« Er starrt versonnen ins Leere.
»Du hast echt Glück«, sage ich.
»Ich nehme dich mit. Und wir können zusammen in eine Schwulenkneipe gehen. Das wird total lustig.«
»Super!«
»Aber alle anderen sind mir ziemlich egal.«
»Wir haben immer noch die Strandwoche«, erinnere ich ihn.
Er nickt und spottet: »Die Strandwoche wird uns für den Rest unseres Leben bleiben«, worauf ich ein Haargummi nach ihm werfe.
Lucas soll sich ruhig über mich lustig machen, weil ich so sentimental bin. Ich weiß, dass diese Tage etwas Besonderes sind. Die Schulzeit ist eine Zeit, an die wir uns unser ganzes Leben lang erinnern werden.
Nach der Schule gehe ich mit zu Peter, weil bei uns wegen der Hochzeit völliges Chaos herrscht. Peters Mom trifft sich nach der Arbeit mit ihrem Buchclub, Owen ist beim Fußball, das heißt, wir haben das Haus für uns. Es kommt mir so vor, als wären wir sonst nur in seinem Auto wirklich allein, deshalb sind solche Gelegenheiten selten und besonders. Meine letzte Fahrt von der Schule nach Hause, zusammen mit Peter K. Es passt, dass meine Schulzeit so endet wie fast jeder Tag im letzten Jahr – ich auf dem Beifahrersitz von Peters Auto.
Als wir in sein Zimmer kommen, setze ich mich auf sein ordentlich gemachtes Bett. Die Decke ist schön glatt gezogen, und sogar die Kissen sehen aus, als wären sie aufgeschüttelt worden. Der Bezug wirkt neu, vermutlich schon fürs College gekauft, mit einem Karomuster in Kirschrot, Cremeweiß und Dunkelblau, das bestimmt seine Mutter ausgesucht hat.
»Deine Mom macht dein Bett, oder?«, frage ich und lehne mich gegen die Kissen.
»Ja«, sagte er, ohne dass es ihm auch nur im Geringsten peinlich wäre. Er lässt sich auf das Bett fallen, ich rücke zur Seite und mache ihm Platz.
Die Nachmittagssonne dringt durch die hellen Vorhänge und hüllt den Raum in ein traumhaftes Licht. Wenn ich diesem Licht einen Namen geben müsste, würde ich es »Sommer am Rande der Stadt« nennen. Peter sieht wunderschön darin aus. Er sieht immer gut aus, aber ganz besonders in diesem Licht. In Gedanken mache ich ein Foto von ihm, einfach so. Jeder Ärger darüber, dass er mein Jahrbuch vergessen hat, schmilzt dahin, als er sich an mich kuschelt, den Kopf auf meine Brust legt und sagt: »Ich kann dein Herz schlagen hören.«
Ich spiele mit seinen Haaren, weil ich weiß, dass ihm das gefällt. Seine Haare sind so weich für einen Jungen. Ich liebe den Geruch seines Waschmittels, seiner Seife, von allem.
Er schaut zu mir auf und fährt mit dem Finger die Kurve meines Mundes nach. »Der Teil gefällt mir am besten.« Dann richtet er sich auf und liebkost mit den Lippen meinen Mund. Vorsichtig beißt er in meine Unterlippe. Ich mag alle seine Küsse, aber die zarten mag ich am liebsten. Dann küsst er mich drängend und voller Leidenschaft, die Hände in meinen Haaren vergraben, und ich denke, nein, diese Küsse sind die besten.
Zwischen den Küssen fragt er mich: »Wieso magst du eigentlich nur mit mir knutschen, wenn wir bei mir sind?«
»Ich … ich weiß nicht. Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht.« Es stimmt, dass wir nur bei Peter herumknutschen. Es fühlt sich komisch an, in einem Bett, in dem ich schon schlafe, seit ich ein kleines Mädchen bin, einen Jungen zu küssen. Aber wenn ich in Peters Bett liege oder in seinem Auto sitze, vergesse ich das alles und verliere mich in dem Moment.
Wieder küssen wir uns, Peter hat sein T-Shirt bereits ausgezogen, ich habe meins noch an, da klingelt unten das Telefon. Peter meint, das sei vermutlich der Installateur, der Bescheid sagen will, wann er kommt, um die Leitungen zu reparieren. Er zieht sein T-Shirt an und rennt nach unten, und in dem Moment sehe ich mein Jahrbuch auf seinem Schreibtisch liegen.
Ich stehe auf und blättere auf die letzte Seite. Sie ist immer noch leer. Als Peter zurückkommt, sitze ich wieder auf seinem Bett und verliere kein Wort darüber. Ich frage auch nicht, warum er noch nichts reingeschrieben hat. Keine Ahnung, warum. Stattdessen verkünde ich, dass ich gehen müsste, weil Margot nachher aus Schottland zurückkommt und ich noch ihre Lieblingssachen im Supermarkt einkaufen will.
Peter ist enttäuscht. »Willst du nicht noch ein bisschen bleiben? Ich kann dich doch nachher zum Einkaufen fahren.«
»Ich muss auch noch das obere Bad putzen«, erkläre ich und stehe auf.
Er versucht, mich an meinem T-Shirt zurück aufs Bett zu ziehen. »Komm schon, nur fünf Minuten.«
Ich lege mich wieder neben ihn, und er kuschelt sich an mich, aber ich kann immer nur an das Jahrbuch denken. Ich arbeite schon seit Monaten an seinem Scrapbook, da könnte er doch wenigstens ein paar nette Sätze für mich schreiben.
»Das ist eine gute Übung fürs College«, murmelt er, zieht mich an sich und schlingt die Arme um mich. »An der UVA sind die Betten ziemlich schmal. Wie sind die Betten an der UNC?«
Mit dem Rücken zu ihm sage ich: »Keine Ahnung. Ich habe noch kein Wohnheimzimmer dort gesehen.«
Er vergräbt sein Gesicht in der Grube zwischen meinem Nacken und meiner Schulter. »Das war eine Fangfrage«, sagt er, und ich spüre, wie er lächelt. »Um herauszufinden, ob du mit Chris zusammen bei irgendeinem Kerl auf dem Zimmer warst. Glückwunsch, du hast bestanden.«
Ich kann nicht anders, ich muss lächeln. Dann wird mein Gesicht wieder ernst, und ich beschließe, ihn ebenfalls zu prüfen. »Ich darf nachher mein Jahrbuch nicht vergessen.«
Er erstarrt und sagt leichthin: »Das muss ich erst suchen. Es liegt hier irgendwo. Wenn ich es nicht finde, bringe ich es dir später vorbei.«
Ich rücke von ihm weg und richte mich auf. Verwirrt schaut er zu mir hoch. »Ich habe mein Jahrbuch auf deinem Schreibtisch gesehen, Peter. Ich weiß, dass du noch nichts reingeschrieben hast.«
Peter setzt sich ebenfalls auf und fährt sich seufzend durch die Haare. Seine Augen wandern zu mir, dann schaut er zu Boden. »Ich weiß einfach nicht, was ich schreiben soll. Ich weiß, du erwartest was ganz Tolles, Romantisches von mir, aber ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich hab es ein paar Mal versucht, und jedes Mal … sitze ich nur da und krieg nichts auf Papier gebracht. Du weißt doch, dass ich so was nicht gut kann.«
Mitfühlend erkläre ich: »Es ist mir egal, was du schreibst, solange es von Herzen kommt. Sei einfach so süß wie immer. Sei du selbst.« Ich krabbele zu ihm und lege ihm die Arme um den Hals. »Okay?«
Peter nickt, und ich gebe ihm einen kleinen Kuss, er richtet sich auf und küsst mich fester, und dann ist mir mein blödes Jahrbuch auf einmal völlig egal. Ich nehme jeden Atemzug von ihm wahr, jede Bewegung. Ich präge mir alles gut ein, verstaue es in meinem Herzen.
Als wir uns voneinander lösen, sieht er mich an und sagt: »Ich war gestern bei meinem Vater.«
Meine Augen werden groß. »Ehrlich?«
»Ja. Er hat Owen und mich zum Abendessen eingeladen. Ich wollte erst nicht hin, aber dann hat Owen mich gebeten mitzukommen, und da konnte ich nicht Nein sagen.
Ich lege mich hin und lehne den Kopf an seine Brust. »Und wie war es?«
»Ganz gut, denke ich. Er hat ein schönes Haus.«
Ich sage nichts, sondern warte, bis er weiterspricht. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagt er: »Erinnerst du dich noch an diesen alten Film, den wir mal zusammen angeschaut haben, wo der arme Junge draußen vor dem Haus steht und sich die Nase an der Scheibe platt drückt? So hab ich mich gefühlt.«
Mit »diesem alten Film« meint er Willy Wonka und die Schokoladenfabrik und die Szene, in der Charlie zusieht, wie die anderen Kinder sich im Süßigkeitenladen austoben, nur er kann nicht rein, weil er kein Geld hat. Der Gedanke, dass Peter – der gut aussehende, selbstbewusste, unbekümmerte Peter – sich genauso fühlen könnte, treibt mir fast die Tränen in die Augen. Vielleicht hätte ich ihn nicht so drängen sollen, wieder Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen.
»Er hat für seine Kinder einen Basketballkorb aufgehängt. Ich hab ihn früher so oft um einen gebeten, aber nie einen bekommen. Dabei sind die Jungs nicht mal besonders sportlich. Ich glaube nicht, dass Everett in seinem Leben schon mal einen Basketball in der Hand hatte.«
»Hat es Owen denn Spaß gemacht?«
Widerwillig nickt er. »Ja. Er hat mit Clayton und Everett Videospiele gezockt. Mein Vater hat Hamburger und Steaks gegrillt. Er hat sogar eine Küchenschürze getragen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er meiner Mutter jemals in der Küche geholfen hat, solange sie verheiratet waren.« Peter hält inne. »Aber den Abwasch hat er nicht gemacht, also hat er sich vermutlich doch nicht geändert. Trotzdem, man hat schon gemerkt, dass Gayle und er sich Mühe geben. Sie hat einen Kuchen gebacken. War aber nicht so gut wie deine Kuchen.«
»Was für ein Kuchen?«, erkundige ich mich.
»Einen Schokokuchen. Ziemlich trocken.« Peter zögert und sagt dann: »Ich hab ihn zur Abschlussfeier eingeladen.«
»Wirklich?« Mein Herz schwillt an.
»Er hat immer wieder nach der Schule gefragt und … ich weiß nicht. Ich musste daran denken, was du gesagt hast, und da hab ich es einfach getan.« Er zuckt mit den Schultern, als wäre es ihm einerlei, ob sein Vater dabei ist oder nicht. Aber das spielt er nur – es ist ihm nicht egal. Natürlich nicht. »Du wirst ihn also kennenlernen.«
Ich kuschele mich enger an ihn. »Ich bin so stolz auf dich, Peter.«
Er lacht leise. »Weshalb?«
»Weil du deinem Vater eine Chance gibst, obwohl er keine verdient hat.« Ich schaue zu ihm auf. »Du bist ein netter Junge, Peter K.«
Das Lächeln, das sich daraufhin auf seinem Gesicht ausbreitet, lässt meine Liebe zu ihm nur noch größer werden.