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Am Tag der Abschlussfeier wache ich schon frühmorgens auf. Ich bleibe im Bett liegen und lausche den Geräuschen des Hauses, das gerade erwacht. Dad werkelt unten herum und macht Kaffee, Margot steht unter der Dusche, Kitty schläft vermutlich immer noch tief und fest, und Trina auch. Sie sind beide Langschläfer.

Ich werde diese Geräusche vermissen, wenn ich weg bin. Ein Teil von mir hat schon Heimweh danach. Aber ein anderer Teil von mir freut sich unendlich auf diesen nächsten Schritt. Ich hätte nie gedacht, dass es so kommen würde, nicht, nachdem alles anders gelaufen ist, als ich gehofft hatte.

Als Geschenk für den Schulabschluss überreicht Margot mir ein Set mit allem, was man auf dem College braucht: eine Augenmaske aus pinkfarbenem Satin, auf die mit hellem, silberblauem Faden mein Name gestickt ist, ein USB-Stick, der wie eine goldene Lippenstifthülse geformt ist. Ohrstöpsel, die wie Erdnüsse aussehen, pinkfarbene Plüschhausschuhe, ein Schminktäschchen aus Nylon mit ganz vielen Schleifchen darauf. Ich liebe jede einzelne Kleinigkeit.

Kitty hat mir eine wunderschöne Karte gebastelt. Es ist eine Collage mit Bildern von uns drei Schwestern, aber sie hat die Fotos mit einer App in Strichzeichnungen verwandelt wie in einem Ausmalbuch und mit Buntstiften angemalt. In der Karte steht: Herzlichen Glückwunsch. Viel Spaß auf dem College. P. S. Ich werde dich vermissen – auf einer Skala von 1 bis 10: 11.

Tränen steigen mir in die Augen, ich nehme meine kleine Schwester in den Arm und umarme sie ganz fest, so lange, bis sie sagt: »Schon gut, schon gut – das reicht.« Aber sie freut sich, das merke ich.

»Das rahme ich ein«, verkünde ich.

Trinas Geschenk ist ein altes cremefarbenes Teeservice mit roten Rosenblüten und Goldrand. »Das hat meiner Mutter gehört«, sagt sie zu mir, und ich bin ganz gerührt. Das Service ist wunderschön. Als ich sie umarme, flüstere ich ihr ins Ohr: »Das ist das schönste Geschenk«, und sie zwinkert mir zu. Dieses Zwinkern ist wirklich ihre Spezialität. Es sieht ganz natürlich aus.

Mein Dad nimmt einen Schluck von seinem Kaffee und räuspert sich. »Lara Jean, mein Geschenk ist eins, an dem auch Margot und Kitty teilhaben werden.«

»Was ist es? Was ist es?«, drängelt Kitty.

»Ruhe, es ist mein Geschenk.« Erwartungsvoll schaue ich Daddy an.

Breit lächelnd verkündet er: »Ich schicke euch drei im Sommer mit Grandma nach Korea. Herzlichen Glückwunsch zum Schulabschluss, Lara Jean!«

Kitty kreischt los, Margot strahlt, und ich bin sprachlos. Seit Jahren reden wir davon, nach Korea zu fliegen. Mom wollte immer mit uns dorthin.

»Wann denn, wann?«, fragt Kitty begeistert.

»Nächsten Monat.« Trina lächelt sie an. »Euer Vater und ich gehen auf Hochzeitsreise, und ihr fliegt nach Korea.«

Nächsten Monat?

»Oh, dann kommt ihr gar nicht mit?«, schmollt Kitty.

Margot dagegen freut sich. Ravi verbringt den Sommer bei Verwandten in Indien, deshalb hat sie noch keine Pläne.

»Wir würden wirklich gerne mitkommen, aber ich kann nicht so lange Urlaub nehmen«, erklärt Dad bedauernd.

»Und für wie lange?«, frage ich. »Wie lange werden wir weg sein?«

»Den ganzen Juli über«, sagt Dad und trinkt seinen Kaffee aus. »Grandma und ich haben alles organisiert. Ihr werdet bei eurer Großtante in Seoul wohnen und vormittags auf eine koreanische Sprachschule gehen. Anschließend macht ihr noch eine Rundreise durch das ganze Land. Jeju, Busan – das volle Programm. Und Lara Jean, noch etwas Besonderes nur für dich: ein koreanischer Backkurs! Keine Angst, er wird auf Englisch abgehalten.«

Kitty vollführt einen kleinen Freudentanz auf ihrem Stuhl, Margot schaut mich mit glänzenden Augen an. »Du wolltest doch immer lernen, wie man diese koreanischen Buttercremetorten macht! Und wir können jeden Tag shoppen gehen und Gesichtsmasken und Schreibwaren und andere hübsche Kleinigkeiten kaufen. Und wenn wir zurückkommen, können wir koreanische Filme endlich ohne Untertitel anschauen!«

»Ich kann es kaum erwarten«, sage ich lächelnd.

Margot, Kitty und Dad fangen an, über Organisatorisches zu sprechen, nur Trina mustert mich aufmerksam. Das Lächeln klebt auf meinem Gesicht.

Ein ganzer Monat. Wenn ich zurückkomme, geht kurz darauf schon das College los, und Peter und ich werden den Sommer über kaum Zeit miteinander verbracht haben.

Alle Mädchen auf der Abschlussfeier tragen Weiß – Kleider, Schuhe, alles. Ich trage das Kleid, das Margot vor zwei Jahren auch anhatte: ärmellos, mit kleinen Punkten und einem knielangen Rock. Trina hat den Saum für mich umgenäht, weil ich kleiner bin. Margot hatte Converse dazu an, ich trage weiße Lackleder-Sandalen mit Riemchen und Lochmuster.

Im Auto streiche ich meinen Rock glatt und sage zu Kitty: »Vielleicht trägst du dieses Kleid auch bei deinem Schulabschluss, Kitten. Und du wirst unter der Eiche posieren, so wie wir. Das würde ein wunderschönes Triptychon ergeben.« Ich frage mich, welche Schuhe Kitty tragen wird. Weiße Stilettos würden genauso passen wie weiße Turnschuhe oder weiße Rollschuhe.

Kitty verzieht das Gesicht. »Ich will doch nicht das gleiche Kleid tragen wie ihr. Ich will mein eigenes Kleid. Außerdem wird der Schnitt bis dahin total aus der Mode sein.« Sie verstummt. »Was ist ein Triptychon?«

»Das ist, ähm, ein Kunstwerk, das aus drei einzelnen Teilen besteht.« Heimlich gebe ich Triptychon bei Google ein, um mich zu vergewissern, dass ich ihr nichts Falsches erzähle. »Also, das sind sozusagen drei Tafeln, die nebeneinander hängen. Und zusammen betrachtet werden sollten.«

»Das liest du von deinem Handy ab.«

»Ich hab mich nur noch mal vergewissert«, verteidige ich mich. Wieder streiche ich mein Kleid glatt und prüfe nach, ob mein Barett auch in meiner Tasche liegt. Heute ist mein Abschied von der Highschool; irgendwie hat es sich ganz heimlich an mich herangeschlichen – das Erwachsenwerden, meine ich.

Trina, die uns fährt, sucht nach einem Parkplatz, Margot sitzt auf dem Beifahrersitz und schreibt Nachrichten auf ihrem Handy, Kitty neben mir schaut aus dem Fenster. Dad ist mit seinem Auto gefahren, um Grandma abzuholen. Nana, Dads Mutter, ist mit ihrem Freund in Florida und kommt nicht. Ich wünschte nur, Mommy könnte dabei sein. So viele wichtige Momente, die sie alle verpasst. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mir einzureden, dass sie es dennoch weiß, dass sie es irgendwie sehen kann. Trotzdem wünsche ich mir sehnsüchtig, meine Mutter könnte mich an meinem Abschlusstag in den Arm nehmen.

Während die jahrgangsbeste Schülerin die Abschlussrede hält, suche ich immer wieder in der Menge nach Peters Familie. Ob sein Vater wohl bei Peters Bruder und Mutter sitzt oder getrennt von ihnen? Ob ich Peters Halbbrüder auch kennenlernen werde? Meine eigene Familie habe ich schon gefunden – sie ist schwer zu übersehen. Jedes Mal, wenn ich zu ihnen schaue, winken sie wie wild. Außerdem trägt Trina einen breitkrempigen Hut wie beim Pferderennen. Die Zuschauer hinter ihr können vermutlich überhaupt nichts sehen. Margot musste sich sehr beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen, als Trina damit nach unten kam. Selbst Kitty meinte, es wäre vielleicht ein bisschen übertrieben, aber als Trina mich nach meiner Meinung fragte, habe ich gesagt, ich fände den Hut toll. Und das stimmt irgendwie auch.

Unser Direktor ruft meinen Namen auf, Lara Jean Song Covey, spricht es aber wie Laura aus, was mich kurz etwas aus dem Konzept bringt.

Als er mir das Abschlusszeugnis überreicht und die Hand schüttelt, flüstere ich: »Ich heiße übrigens Lara, nicht Laura.«

Eigentlich hatte ich geplant, meiner Familie einen Kuss zuzuwerfen, wenn ich über die Bühne gehe, aber ich bin so nervös, dass ich das völlig vergesse. Durch den Applaus kann ich Kitty jubeln und Dad pfeifen hören. Als Peter an der Reihe ist, klatsche und schreie ich wie verrückt und alle anderen auch. Sogar die Lehrer klatschen besonders laut für ihn. Es ist offensichtlich, dass er ihr Lieblingsschüler ist. Und ich kann es ihnen nicht verübeln. Wir alle lieben ihn.

Nachdem wir zu Schulabsolventen erklärt worden sind und unsere Barette in die Luft werfen, drängt Peter sich durch die Menschenmenge zu mir durch. Obwohl er lächelt, scherzt und grüßt, stimmt ganz offensichtlich etwas nicht. Seine Augen sind leer, selbst als er mich umarmt.

»Hi«, sagt er und küsst mich kurz auf den Mund. »Dann sind wir jetzt also ganz offiziell Collegestudenten.«

Ich schaue mich um, rücke meinen Umhang zurecht und sage: »Ich habe deine Mutter und Owen gar nicht im Publikum gesehen. Sitzt dein Vater bei ihnen? Sind deine anderen Brüder auch dabei? Soll ich zu euch rüberkommen, wenn ich mit meiner Familie Fotos gemacht habe?«

Peter schüttelt den Kopf, er meidet meinen Blick. »Mein Dad konnte in letzter Minute doch nicht kommen.«

»Was! Warum denn?«

»Irgendein Notfall. Keine Ahnung.«

Ich bin sprachlos. Sein Dad wirkte so aufrichtig, als ich bei dem Lacrosse-Spiel mit ihm gesprochen habe. »Ich hoffe, es ist etwas Ernstes, wenn er dafür die Abschlussfeier seines eigenen Sohnes verpasst.«

»Schon gut.« Peter zuckt die Schultern, als würde es ihn nicht kümmern, ob sein Vater da ist oder nicht, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Er presst den Kiefer so fest zusammen, dass seine Zähne splittern könnten.

Über seine Schulter hinweg sehe ich meine Familie durch die Menge auf mich zukommen. Trinas Hut ist nicht zu übersehen, nicht mal in dem Gedränge. Mein Dad hält einen großen Strauß bunter Rosen im Arm. Meine Grandma trägt einen beerenroten Anzug, ihre Haare sind frisch gewellt.

Ich fühle mich gehetzt und panisch, weil ich mehr Zeit mit Peter haben möchte, um ihn zu trösten und bei ihm zu sein. Ich nehme seine Hand. »Es tut mir leid«, sage ich, und ich möchte noch viel mehr sagen, natürlich möchte ich das, aber dann ist meine Familie da, und alle umarmen mich. Peter begrüßt meine Großmutter und macht ein paar Fotos mit uns, bevor er geht, um seine Mutter und seinen Bruder zu suchen. Ich rufe ihm noch hinterher, aber er ist bereits zu weit weg und dreht sich nicht um.

Nachdem wir die Bilder gemacht haben, gehen Dad, Trina, Grandma, Kitty, Margot und ich zum Mittagessen in ein japanisches Restaurant. Wir bestellen Berge von Sashimi und Sushi, und ich hänge mir die Serviette wie ein Lätzchen um, damit mein weißes Kleid keine Sojasaucenflecken bekommt. Trina sitzt neben Grandma und schnattert ihr alles Mögliche ins Ohr, und ich kann Grandma förmlich denken hören: Mannomann, diese junge Frau redet ganz schön viel, aber Trina gibt sich wirklich Mühe, und das weiß Grandma auch zu schätzen.

Ich versuche, gut gelaunt und fröhlich zu wirken, weil das Mittagessen schließlich mir zu Ehren stattfindet, kann aber die ganze Zeit nur an Peter denken und wie gekränkt ich um seinetwillen bin.

Beim Nachtisch mit Mochi-Eis erzählt Grandma uns von den Orten, die sie uns in Korea zeigen will: die buddhistischen Tempel, die Lebensmittelmärkte, die Hautklinik, wo sie sich immer ihre Leberflecken weglasern lässt. Sie deutet auf ein winziges Muttermal an Kittys Wange und sagt: »Darum können wir uns auch kümmern.«

Dad schaut etwas besorgt, und Trina fragt hastig: »Ist sie nicht zu jung dafür?«

Grandma wedelt mit der Hand. »Sie ist alt genug.«

Dann fragt Kitty: »Wie alt muss man sein, um sich in Korea eine neue Nase machen zu lassen?«, worauf Dad sich fast an seinem Bier verschluckt.

Grandma wirft ihr einen drohenden Blick zu. »Du darfst dir niemals die Nase operieren lassen. Du hast eine Glücksnase.«

Kitty fasst sich vorsichtig ins Gesicht. »Wirklich?«

»Absolut«, sagt Grandma. »Wenn du deine Nase veränderst, wird sich auch dein Glück ändern. Deshalb darfst du das niemals tun.«

Ich fasse nun ebenfalls meine Nase an. Grandma hat noch nie gesagt, dass ich eine Glücksnase hätte.

»Margot, du kannst dir in Korea eine neue Brille kaufen«, sagt Grandma. »Brillen sind sehr billig in Korea. Und dort gibt es immer die neuesten Modelle.«

»Super!«, sagt Margot und tunkt ein Stück Thunfisch in ihre Sojasauce. »Ich wollte immer schon ein rotes Brillengestell haben.«

Grandma dreht sich zu mir und fragt: »Was ist mit dir, Lara Jean. Freust du dich schon auf den Backkurs?«

»Ja, sehr«, sage ich fröhlich. Unter dem Tisch schreibe ich an Peter.

Alles okay?

Wir sind fast fertig mit Essen.

Komm doch vorbei.

Ich fahre bei Dad mit, weil Trina, Margot und Kitty noch Grandma nach Hause bringen. Als Margot sagte, sie würde mit Dad und mir mitfahren, bestand Grandma darauf, dass sie mit ihnen fährt. Sie weiß, dass Margot Trina nicht wirklich leiden kann, und versucht, die beiden ein bisschen miteinander zu versöhnen. Grandma entgeht einfach nichts.

Auf der Fahrt nach Hause schaut mich Dad mit feuchten Augen vom Fahrersitz aus an. »Deine Mutter wäre heute so stolz auf dich gewesen, Lara Jean. Du weißt, wie wichtig ihr eure Schulausbildung war. Sie wollte, dass euch alle Möglichkeiten offenstehen.«

Ich spiele an dem Bommel meines Baretts herum und frage: »Glaubst du, Mom war traurig, weil sie nie ihren Master gemacht hat? Damit will ich nicht sagen, dass sie es bereut haben könnte, Kitty bekommen zu haben oder so. Aber denkst du vielleicht, sie hätte sich gewünscht, es wäre ein bisschen anders gelaufen?«

Völlig perplex sieht Dad zu mir rüber und sagt: »Nein, auf keinen Fall. Kitty war eine willkommene Überraschung für uns. Wir wollten immer eine große Familie. Und eure Mom hatte vor, ihr Studium fortzusetzen, sobald Kitty im Kindergarten war.«

»Nein?«

»Auf keinen Fall. Sie wollte unbedingt ihren Master machen. Tatsächlich hatte sie vor, im Herbst wieder ein Seminar zu besuchen. Sie … sie hatte nur einfach nicht mehr genug Zeit.« Dads Stimme klingt erstickt. »Wir hatten nur achtzehn Jahre zusammen. Wir hatten so viele Jahre, wie du am Leben bist, Lara Jean.«

Ein Klumpen bildet sich in meinem Hals. Wenn man darüber nachdenkt, sind achtzehn Jahre mit dem Menschen, den man liebt, wirklich nicht viel Zeit. »Dad, kannst du kurz an der Drogerie anhalten? Ich muss noch Fotopapier kaufen.« Peter und ich haben heute Morgen vor der Feier ein Foto von uns mit unseren Baretts und Umhängen gemacht. Es soll die letzte Seite seines Scrapbooks werden, unser letztes Highschool-Kapitel.