32

Nachdem Peter mit seiner Mutter und Owen zu Abend gegessen hat, kommt er zu mir. Als er klingelt, renne ich zur Tür und erkundige mich als Erstes, ob er mit seinem Vater gesprochen habe, aber er winkt nur völlig cool ab. »Ist doch egal«, sagt er und zieht sich die Schuhe aus. »Ich wollte ja nicht wirklich, dass er kommt.«

Das trifft mich, weil es sich anfühlt, als würde er vielleicht mir die Schuld geben, was ich auch gut verstehen könnte. Schließlich habe ich ihn immer wieder dazu gedrängt, seinen Vater einzuladen. Ich hätte auf ihn hören sollen, als er das abgelehnt hat.

Peter und ich gehen in mein Zimmer hoch, und mein Vater ruft uns wie immer scherzend hinterher: »Aber schön die Tür offen lassen!«, was Peter sichtlich unangenehm ist.

Ich setze mich aufs Bett und er sich ganz weit entfernt an meinem Schreibtisch. Daraufhin gehe ich zu ihm und lege ihm die Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte dich nicht überreden sollen, ihn einzuladen. Ich kann verstehen, wenn du deshalb sauer auf mich bist.«

»Warum sollte ich sauer auf dich sein? Du kannst doch nichts dafür, dass er so ein Mistkerl ist.« Als ich nichts erwidere, fügt er etwas sanfter hinzu: »Hör mal, ich bin echt nicht traurig. Ich bin gar nichts. Du wirst ihn ein anderes Mal kennenlernen, okay?«

Ich zögere und sage dann: »Ich bin ihm übrigens schon mal begegnet.«

Ungläubig sieht er mich an. »Was?«

Ich schlucke. »Zufällig, bei einem Lacrosse-Spiel von dir. Er hat mich gebeten, es dir nicht zu sagen – er wollte nicht, dass du es weißt. Er wollte dich einfach nur spielen sehen. Er sagte, er hätte es vermisst.« Der Muskel in Peters Kiefer pocht. »Ich hätte es dir sagen sollen. Entschuldige.«

»Nein, schon gut. Wie gesagt, es ist mir völlig schnuppe, was er tut.«

Als ich daraufhin etwas sagen will, unterbricht er mich. »Können wir jetzt bitte über was anderes reden?

Ich nicke. Es bringt mich fast um, den Schmerz in seinen Augen zu sehen und wie er sich bemüht, ihn zu verbergen, aber wenn ich ihn weiter bedränge, macht das alles nur noch schlimmer. Dabei möchte ich ihn unbedingt aufheitern. Auf einmal fällt mir sein Geschenk ein. »Ich habe übrigens was für dich!«

Erleichterung zeigt sich auf seinem Gesicht, die Anspannung in seinen Schultern löst sich. »Oh, du hast ein Geschenk für mich? Aber ich habe gar nichts für dich.«

»Schon gut, das habe ich auch nicht erwartet.« Ich springe auf und hole das Scrapbook aus meiner Hutschachtel. Als ich es ihm überreiche, merke ich, wie mein Herz vor Aufregung und Nervosität wild klopft. Das Buch wird ihn trösten, das weiß ich. »Schnell, mach es auf!«

Langsam schlägt er die erste Seite auf. Dort klebt ein Foto, das ich in einer Schuhschachtel gefunden habe, als Kitty und ich den Dachboden aufgeräumt haben, um Platz für Trinas Kisten zu machen. Es ist eins der wenigen Bilder aus der Mittelstufe, die es von uns Kindern aus der Nachbarschaft gibt. Es ist der erste Schultag nach den Ferien und wir warten auf den Bus. Peter hat die Arme um John McClaren und Trevor Pike gelegt, Genevieve und ich stehen Arm in Arm da, sie flüstert mir ein Geheimnis zu – vermutlich etwas über Peter. Ich wende mich ihr zu, weg von der Kamera, und trage ein graues Jäckchen von Margot und einen Jeansrock. Ich weiß noch, wie erwachsen ich mir darin vorkam, fast wie ein Teenager. Meine Haare hängen mir lang und glatt über den Rücken, ähnlich wie heute. Genevieve wollte mich überreden, sie abzuschneiden, aber ich habe mich geweigert. Wir sehen alle so jung aus – John mit seinen rosigen Wangen, Trevor mit seinen Pausbäckchen, Peter mit den dünnen Beinen.

Unter das Bild habe ich Der Anfang geschrieben.

»Oooh«, sagt er zärtlich. »Baby Lara Jean und Baby Peter. Wo hast du das bloß her?«

»In einer Schuhschachtel gefunden.«

Er schnippt mit dem Finger in Johns lächelndes Gesicht. »Idiot.«

»Peter!«

»War nur ein Witz.«

Dann ist da unser Homecoming-Foto. Ein Halloween-Foto vom vergangenen Jahr, wo ich als Mulan verkleidet war und Peter als Drache. Eine Quittung von Tart and Tangy. Einer seiner Zettel an mich. Wenn du Joshs bescheuerte Cranberrykekse backst, aber nicht mein Früchtebrot, ist es aus mit uns! Bilder von der Senior-Woche. Der Prom. Getrocknete Rosenblüten von meinem Strauß. Das nachgestellte Filmfoto aus dem Diner.

Ein paar Dinge habe ich weggelassen: die Eintrittskarte von unserem ersten richtigen Date, der Zettel, auf dem steht: Du siehst hübsch aus heute. Du gefällst mir in Blau. Diese Sachen liegen immer noch wohlverwahrt in meiner Hutschachtel. Ich werde sie niemals hergeben.

Aber ich habe auch etwas richtig Besonderes in das Album geklebt: den Brief, den ich ihm vor langer Zeit geschrieben habe und der uns zusammengebracht hat. Eigentlich wollte ich ihn behalten, aber es fühlte sich irgendwie richtig an, ihn Peter zu geben. Eines Tages wird das alles ein Beweis dafür sein, dass es uns gegeben hat und dass wir uns geliebt haben. Es ist die Garantie dafür, dass diese Zeit uns gehört hat – egal, was die Zukunft bringen wird.

Als Peter die Seite mit dem Brief aufblättert, hält er inne. »Ich dachte, den wolltest du behalten.«

»Wollte ich auch, aber dann fand ich irgendwie, du solltest ihn haben. Versprich mir nur, dass du ihn für immer aufbewahren wirst.«

Er blättert weiter, zu einem Foto von dem Abend, als wir mit meiner Grandma beim Karaoke waren. Ich habe You’re so vain gesungen und es Peter gewidmet. Dann stand Peter auf und sang Style von Taylor Swift. Und anschließend Unchained melody mit meiner Großmutter im Duett. Hinterher hat sie uns das Versprechen abgenommen, an der UVA einen Koreanischkurs zu belegen. An dem Abend haben Grandma und Peter jede Menge Selfies gemacht. Eines davon ist nun ihr Hintergrundbild auf ihrem Handy, und ihre Freunde im Haus haben alle geschwärmt, er würde wie ein Filmstar aussehen. Ich habe den Fehler gemacht, Peter davon zu erzählen, und er hat noch Tage später damit geprahlt.

Er starrt eine ganze Weile auf die Seite. Als er nichts sagt, erkläre ich schließlich hilfsbereit: »Damit du dich immer an uns erinnerst.«

Er klappt das Buch zu. »Danke«, sagt er und lächelt kurz. »Das ist echt schön.«

»Willst du dir den Rest nicht auch anschauen?«

»Später.« Peter sagt, er müsse nach Hause und für die Strandwoche packen. Bevor wir nach unten gehen, frage ich ihn noch einmal, ob alles in Ordnung sei, und er versichert mir, alles sei bestens.

Nachdem Peter weg ist, kommt Margot in mein Zimmer und hilft mir beim Packen. Während ich im Schneidersitz auf dem Boden sitze, reicht sie mir die Kleiderstapel für meinen Koffer. Ich bin froh über die Ablenkung, weil ich mir immer noch Sorgen um Peter mache.

»Kaum zu glauben, dass du schon mit der Schule fertig bist.« Margot legt ein paar T-Shirts für mich zusammen. »In meinem Kopf bist du immer noch so jung wie damals, als ich zum Studieren weggegangen bin.« Neckend sagt sie: »Forever sweet sixteen, Lara Jean.«

»Ich bin fast so erwachsen wie du, Gogo«, sage ich.

»Tja, du wirst auf jeden Fall immer kleiner sein als ich«, hänselt sie mich und bekommt dafür von mir ein Bikinioberteil an den Kopf geworfen. »Bald werden wir deine Sachen fürs College packen.«

Ich stecke einen Lockenstab in die Seitentasche meines Koffers. »Was hast du eigentlich am meisten vermisst, als du damals ans College gegangen bist?«

»Na ja, euch alle natürlich.«

»Aber was noch? Ich meine die Dinge, von denen du nicht gedacht hättest, dass sie dir fehlen würden.«

»Ich habe es vermisst, Kitty einen Gutenachtkuss zu geben, nachdem sie gebadet und sich die Haare gewaschen hat.«

Ich schnaube nur. »Eine seltene Gelegenheit.«

Margot überlegt eine Weile. »Ich habe einen guten Hamburger vermisst. Die Hamburger in Schottland schmecken irgendwie anders. Eher wie … Hackbraten. Hackbraten in einem Brötchen. Hmm, was noch? Ich habe es vermisst, euch überall hinzukutschieren. Da bin ich mir immer wie der Steuermann unserer Familie vorgekommen. Und ich habe deine Backkünste vermisst.«

»Und was genau?«, frage ich.

»Hmm?«

»Welchen Kuchen hast du am meisten vermisst?«

»Deinen Zitronenkuchen.

»Warum hast du das nicht gesagt? Dann hätte ich dir einen geschickt.«

Lächelnd sagt sie: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es übertrieben teuer ist, einen Kuchen ins Ausland zu schicken.«

»Dann lass uns jetzt einen backen«, sage ich, und Margot strampelt glücklich mit den Beinen.

Wir gehen runter in die Küche und machen uns an Werk. Kitty schläft schon, Daddy und Trina sind in ihrem Schlafzimmer, und die Tür ist geschlossen. Der Anblick ist irgendwie komisch, so gern ich Trina auch mag. Früher stand Daddys Tür immer offen. Aber vermutlich braucht er zwischendurch mal Zeit für sich, einfach ein paar Stunden, wo er kein Vater sein muss. Nicht mal wegen Sex, sondern einfach um zu reden und in Ruhe durchzuatmen. Aber vermutlich auch wegen Sex.

Margot wiegt Mehl ab, als ich frage: »Hast du eigentlich Musik laufen lassen, als du zum ersten Mal mit Josh geschlafen hast?«

»Jetzt hast du mich ganz rausgebracht!« Margot schüttet das Mehl zurück in den Behälter und fängt noch mal von Neuem an.

»Und, hast du?«

»Nein, Miss Neugierig! Du bist ja schlimmer als Kitty!«

Ich rolle eine Zitrone auf der Arbeitsplatte herum, um den Saft aus dem Fruchtfleisch zu lösen. »Dann war es ganz … still?«

»Es war nicht still. Irgendwo draußen hat jemand Rasen gemäht. Und seine Mutter hatte den Trockner laufen. Der war irre laut …«

»Aber seine Mutter war nicht zu Hause, oder?«

»Natürlich nicht! Dann hätte ich das nie getan. Meine Mitbewohnerin hat mal jemandem mitgebracht, und ich hab so getan, als würde ich schlafen, aber ehrlich, ich musste mir ein Lachen verkneifen. Der Typ hat richtig laut geatmet. Und gestöhnt.«

Wir kichern beide.

»Ich hoffe, meine Mitbewohnerin macht so was nicht.«

»Ihr müsst euch einfach am Anfang auf ein paar grundlegende Regeln einigen. Wer wann das Zimmer benutzen darf und so. Und denk immer daran, ihr gegenüber viel Verständnis zu zeigen. Peter wird dich oft besuchen kommen, da solltest du ihr Wohlwollen nicht überstrapazieren.« Sie hält inne. »Ihr habt noch nicht miteinander geschlafen, oder?« Rasch fügt sie hinzu: »Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.«

»Nein«, erkläre ich. »Ich meine, noch nicht.«

»Denkst du darüber nach?« Margot bemüht sich, es beiläufig klingen zu lassen. »Wegen der Strandwoche?«

Ich antworte nicht gleich.

Ehrlich gesagt habe ich daran noch gar nicht gedacht – also, dass es in der Strandwoche passieren könnte. Ich finde die Vorstellung ziemlich seltsam, dass Peter und ich in naher Zukunft miteinander schlafen werden und dass Sex vielleicht irgendwann so normal für uns sein wird, wie ins Kino zu gehen oder Händchen zu halten. Ich fände es schrecklich, wenn es nichts Besonderes mehr für uns ist, nachdem wir es getan haben. Ich möchte, dass es immer etwas Heiliges bleibt, das nicht als selbstverständlich betrachtet wird, nur weil alle es tun oder weil wir es schon getan haben. Ich nehme an, alles wird irgendwann normal oder alltäglich, wenn man es nur oft genug tut, aber meine Hoffnung ist, dass der Sex davon ausgenommen bleibt. Bei uns jedenfalls.

»Ich glaube, ich möchte auf jeden Fall Musik dabei haben«, sage ich und presse die Zitrone über einem Messbecher aus. »Dann merken wir nicht, ob einer von uns laut atmet. Und es ist romantischer. Musik macht alles irgendwie so romantisch, findest du nicht? Du gehst mit deinem Hund irgendwo in einem Vorort spazieren, dann läuft Adele, und plötzlich hat man das Gefühl, mitten in einem Film zu stehen und ein gebrochenes Herz zu haben.«

Margot sagt: »Im Film ziehen sie nie ein Kondom an; im echten Leben solltest du das lieber nicht vergessen.«

Das reicht, um mich aus meinen Träumereien zu reißen. »Daddy hat mir ein ganzes Verhütungsset gegeben. Kondome, Creme, Dental Dams.« Ich breche in lautes Gelächter aus. »Ist Dental Dam nicht das unsexyste Wort, das man sich nur vorstellen kann?«

»Nein, das ist Gonorrhoe, finde ich!«

Abrupt höre ich auf zu lachen. »Peter hat keine Gonorrhoe!« Jetzt ist es Margot, die sich totlacht. »Ehrlich nicht.«

»Ich weiß. Ich will dich nur ärgern. Aber ich denke, du solltest dein Set einpacken, falls sich die Dinge in diese Richtung entwickeln.«

»Gogo, ich habe nicht vor, in der Strandwoche Sex zu haben.«

»Ich sage ja: nur für den Fall. Man kann nie wissen.« Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und sagt ernst: »Ich bin echt froh, dass mein erstes Mal mit Josh war. Es sollte mit einem Jungen sein, der dich wirklich kennt. Mit einem Jungen, der dich liebt.«

Bevor ich ins Bett gehe, öffne ich die Tüte, ziehe die Kondome he­raus und verstecke sie ganz unten in meinem Koffer. Dann packe ich noch meine hübscheste Unterwäsche ein – blasspink mit stahlblauer Spitze und ungetragen. Nur für den Fall.