„Was ist los?“ Gracie verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie sich so vor seiner animalischen Anziehungskraft schützen, und starrte ihm trotzig ins Gesicht.
Er runzelte die Stirn. „Wovon redest du?“
Gracie versuchte, auf einen Punkt über Roccos rechter Schulter zu sehen, damit sie sich ihm nicht sofort in die Arme stürzte. „Ich habe die neue Haushälterin kennengelernt. Wenn sie die Haushälterin ist – was bin ich denn dann?“
Rocco steckte die Hände in die Hosentaschen. Er trug kein Jackett, nur ein Hemd mit Krawatte. Hinter seinem Rücken fiel die helle Mittagssonne ins Zimmer und betonte seine kraftvolle, athletische Gestalt. Gracies Mund war plötzlich trocken. Sie schluckte.
Jetzt kam er näher, aber dann setzte er sich nur auf eine Ecke seines Schreibtischs. Seine Hände steckten immer noch in den Hosentaschen, als wollte er sich davon abhalten, sie nach ihr auszustrecken. „Ich habe Mrs Jones angestellt, damit du nicht länger putzen und kochen musst.“
„Oh! Heißt das, ich bin frei und kann gehen?“, fragte sie mit gespielter Heiterkeit.
Er schüttelte den Kopf. In seinen Augen flackerte ein Ausdruck auf, den sie nicht deuten konnte. „Absolut nicht. Du warst nie weniger frei“, sagte er leise.
Beim heiseren Klang seiner Stimme überlief Gracie ein Schauer. Gleichzeitig verabscheute sie sich selbst für ihr unstillbares Verlangen. „Bin ich dann befördert worden? In dein Bett?“ Sie wollte all ihre Verachtung in ihre Stimme legen, aber die Worte kamen nur atemlos heraus.
Ein winziges Lächeln zuckte um Roccos Mundwinkel. „Ganz genau. Du bist in mein Bett befördert worden. Das hört sich gut an, das gefällt mir!“
„Nun, mir nicht!“, stieß Gracie aus. „Ich bin kein bequemes Spielzeug!“
Er verzog den Mund. „Oh, das ist mir absolut klar. Du bist wie eine sehr leicht entflammbare, explosive Substanz, gemischt mit dem Charme eines Babykätzchens und den Krallen einer Raubkatze.“
Gracie blinzelte. „Ist das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“
„Ein Kompliment, glaub mir!“ Er stand auf und kam näher. Sofort beschleunigte sich Gracies Puls.
„Zum ersten Mal verfluche ich diese Glaswände“, sagte er rau. „Es macht mich nervös, wenn ich nicht weiß, was in meinem Büro los ist, aber jetzt wünschte ich mir, ich hätte wenigstens Jalousien. Dann könnte ich jetzt einfach die Tür abschließen, und wir wären allein.“ Seine Stimme war leise und sanft.
Gracie war, als würde es plötzlich viel heißer im Raum.
„Ich würde deine Hand nehmen …“, fuhr er fort, „… dich zu dem Sofa führen und dir das Hemd ausziehen. Dann könnte ich deine Brüste streicheln … und küssen. Ich würde deinen Bauch streicheln, immer tiefer, bis ich …“
„Hör auf!“, zischte Gracie. Sie presste ihre verschränkten Arme so fest vor die Brust, dass sie kaum noch Luft bekam. Oder lag das an Roccos Worten? Wie gehetzt sah sie nach rechts und nach links. Doch alle Köpfe waren über die Arbeit gebeugt, niemand sah zu ihnen.
Sie ignorierte ihr glühendes Gesicht und vermied seinen Blick. „Heute Morgen … die Küche … hat Mrs Jones …?“ Sie brach ab, als sie wieder die Bilder der vergangenen Nacht vor sich sah. Wenn überhaupt möglich, wurden ihre Wangen noch heißer.
Dann spürte sie einen Finger unter ihrem Kinn, und Rocco hob ihr Gesicht zu sich. Bei seiner Berührung flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch auf.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe alles aufgeräumt.“
Gracie wusste nicht, was stärker war, Erleichterung oder Überraschung. „Das kann ich mir kaum vorstellen“, murmelte sie.
„Ich kann Dinge vom Boden aufheben“, erwiderte Rocco trocken. „Ich bin nicht völlig hilflos.“
Gracie erschauerte. Er war ganz und gar nicht hilflos. Sie stellte sich vor, wie er ihr Höschen aufhob und das Kleid, das er mit seinen eigenen Händen zerrissen hatte. Sie unterdrückte ein Aufstöhnen und flüchtete zur Tür.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie war hier, um Steven zu helfen. Sie liebte ihren Bruder. Aber könnte sie Rocco wirklich verraten? Sie wusste plötzlich selbst nicht mehr, wo sie eigentlich stand. In der Nähe von diesem Mann konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.
„Warte!“, hörte sie hinter sich Roccos Stimme. Sie blieb stehen.
Widerstrebend drehte sie sich um. Er stand wieder hinter seinem Schreibtisch.
„Hast du einen gültigen Personalausweis?“
Sie nickte. Warum wollte er das wissen?
„Gut. In dem Fall brechen wir heute Nachmittag für zwei Tage nach Thailand auf, und von dort aus fliegen wir für ein paar Tage nach New York.“
Gracie traute ihren Ohren nicht. „Thailand?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ein Land in Südostasien.“
„Das weiß ich“, entgegnete sie ungeduldig. Sie wagte nicht eine Sekunde lang, daran zu glauben. Bestimmt erlaubte er sich einen Witz mit ihr. „Aber … warum?“
„Weil ich geschäftlich dort zu tun habe, und du wirst mich begleiten.“
„Als … was genau?“
Er stützte seine Hände auf den Schreibtisch und lächelte, als würde er so etwas täglich tun. „Als meine Geliebte natürlich.“
Wenige Stunden später saß Gracie neben Rocco auf dem Rücksitz seiner Limousine. Sie waren auf dem Weg zum Flugplatz, aber sie hatte sich immer noch nicht von ihrem Schock erholt. An ihrem Bein spürte sie Roccos muskulösen Schenkel. Sie hielt ihren Ausweis ganz fest in der Hand.
Roccos Jet stand auf einem privaten Flugfeld. Natürlich besaß er ein Privatflugzeug! Privatflugzeug, wiederholte sie in Gedanken. Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern.
Plötzlich wurde ihr der Ausweis aus der Hand genommen. Sie wirbelte herum. „Hey!“
Seit ihrem Aufbruch zum Flughafen, hatte sie kein Wort mit Rocco gewechselt. An der Wohnungstür hatte er sie von Kopf bis Fuß gemustert und etwas über unpassende Kleidung gemurmelt.
Und jetzt nahm er ihr auch noch den Ausweis ab! Er blätterte darin herum, dann hob er eine Braue. „Du bist nicht viel gereist“, stellte er fest.
Gracie griff nach ihrem Pass, aber er hielt ihn einfach über den Kopf. Als sie um eine Kurve fuhren, fiel sie gegen seinen harten Körper. Rocco streckte seinen freien Arm aus und zog sie näher an sich. Ihre Gesichter waren so nah, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. Sie sah zu seinem Mund. Wie gern hätte sie seine Lippen mit einem Finger berührt.
Rocco ließ seine Hand höher gleiten. Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und massierten sanft ihren Hinterkopf. „Gracie …“, murmelte er.
Sie sehnte sich schmerzhaft danach, ihn zu küssen. Schon seitdem sie heute Morgen erwacht war, wollte sie ihn wieder berühren.
Zuerst bemerkten sie gar nicht das diskrete Klopfen am Fenster. Dann hüpfte Gracie ein Stück auf dem Sitz zur Seite. Ich war kurz davor, mit ihm auf dem Rücksitz zu schlafen! begriff sie entsetzt.
Sie kletterte so hastig aus dem Auto, dass sie beinah ziemlich würdelos auf den Asphalt gefallen wäre. Rocco beobachtete sie amüsiert, und sie funkelte ihn wütend an.
Vor ihnen glänzte das Flugzeug in der Abendsonne. Als Gracie noch einmal stolperte, reichte Rocco ihr seine Hand. Sie zögerte einen Moment, dann legte sie ihre Finger hinein. Gemeinsam gingen sie Hand in Hand zum Jet.
Sie hasste sich für den Gedanken, aber aus irgendeinem Grund kam ihr dieser Augenblick bedeutungsvoll vor.
Rocco blickte zu Gracie hinüber. Ihr komfortabler Sitz war durch den schmalen Gang von seinem getrennt. Sie sah so fasziniert aus dem Fenster, als hätte sie noch nie einen Flughafen gesehen. Sie beachtete ihn gar nicht! Er schüttelte den Kopf. So etwas kannte er nicht. Bisher hatte ihm jede Frau ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewidmet. Doch Gracie schien das nicht für nötig zu halten. Außerdem kümmerte es sie offenbar gar nicht, dass sie ohne Make-up in nicht gerade schmeichelhafter Kleidung vor ihrem Liebhaber saß.
Wenn er bisher hin und wieder eine Frau mit auf Reisen genommen hatte, war ein extra Fahrzeug nötig gewesen, um ihre Koffer zu transportieren. Er hatte sich damit abgefunden, dass das in diesen Kreisen nun mal so üblich war, aber es hatte ihn jedes Mal ein bisschen abgestoßen.
Doch Gracie schien alles andere interessanter zu finden als ihn! Langsam fing er an, sich zu ärgern. Als das Flugzeug langsam zur Startbahn hinüberfuhr, bemerkte er ihren offenen Sicherheitsgurt.
„Dein Gurt!“, rief er ihr zu. Er hörte selbst, dass seine Stimme ärgerlich klang.
Seine Brust zog sich zusammen, als er sah, wie sie zusammenzuckte, bevor sie ihn anschaute.
„Dein Sicherheitsgurt.“ Er deutete auf ihren Schoß.
„Oh.“ Sie fand die beiden Enden und versuchte, sie zusammenzufügen.
Als Rocco an ihren brandneuen Pass dachte, verstand er plötzlich. Er beugte sich zu ihr hinüber und verschloss den Gurt.
„Ich hätte das schon geschafft!“, murmelte sie.
Jetzt sah sie ihn endlich an. „Du hast noch nie ein Flugzeug betreten, nicht wahr?“
Unter seinem Blick errötete sie. Er konnte genau sehen, wie sie am liebsten gerufen hätte: „Natürlich hab ich das!“
Aber nach einem Moment presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie schämt sich, erkannte Rocco. Seine Kehle wurde eng. „Warum hast du dann den neuen Ausweis?“, fragte er. „Wolltest du verreisen?“
Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, begriff er. Ihm wurde eiskalt. Er hatte ihr so verzweifelt vertrauen wollen, dass er nicht vorher darauf gekommen war! Wie konnte er so dumm sein?
Bevor sie antworten konnte, lachte er laut auf. „Dio! Natürlich wolltest du weg! Du hattest einen schöne lange Reise mit deinem Bruder und meiner Million geplant!“
Jedes weiche Gefühl in Gracie erstarb. Und sie hätte ihm um ein Haar erzählt, warum sie einen neuen Ausweis beantragt hatte! Bei dem Gedanken, wie er sie ausgelacht hätte, zuckte sie zusammen.
„Ja, ganz genau!“, gab sie kalt zurück. „Wir hatten an Australien gedacht. Ein schöner neuer Anfang, so hatten wir uns das vorgestellt. Ist es das, was du hören willst, Rocco? Sonst erzähle ich dir gern eine andere Geschichte. Ich kann dir erzählen, was du hören willst, bis du blau anläufst, aber das ändert nichts daran, dass es nicht stimmt.“ Abrupt drehte sie sich wieder zum Fenster.
Zitternd holte sie Luft. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr noch so sehr misstraute. Wieder einmal hatte sie vergessen, warum sie überhaupt hier war. Feindschaft und Misstrauen waren ihre Verbindung. Und Warten, dass Steven sich meldete.
Steven. Schuldbewusst bemerkte Gracie, wie wenig sie an ihn gedacht hatte. Inzwischen wünschte sie sich, dass Roccos Männer ihn finden würden. Denn nur dann wüsste sie, dass er in Sicherheit war. Dann konnte sie kämpfen, um ihn vor Roccos Zorn zu schützen. Außerdem hätte Rocco dann endlich keinen Grund mehr, sie noch länger als Pfand für die Million an seiner Seite zu behalten.
Denn mehr war sie nicht für ihn: ein Spielzeug, eine bequeme Bettgefährtin.
Versteinert starrte sie aus dem Fenster. Als das Flugzeug abhob, klammerte sie ihre Hände um die Armlehnen, aber sie zeigte Rocco ihre Furcht nicht. Ab jetzt werde ich auf meine Gefühle aufpassen! schwor sie sich.
Zu viele Menschen in ihrem Leben hatten sie verletzt und unsichtbare Narben zurückgelassen: ihr Vater, an den sie sich kaum erinnern konnte, ihre Mutter, ihre Großmutter, ihr erster Freund. Ihr ganzes Leben lang war sie von jedem Einzelnen verlassen und zurückgewiesen worden. Steven war die einzig feste Bindung, die sie je gekannt hatte. Sie musste stark sein, damit sie ihn verteidigen konnte.
Und letztendlich konnte sie nur sich selbst vertrauen. Je eher sie sich daran erinnerte, desto besser. Sie musste ihre Gefühle für Rocco in den Griff bekommen. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass es überhaupt so weit gekommen war!
Eine Stunde später seufzte Rocco und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Die Spannung zwischen Gracie und ihm war fast greifbar. Wenn sie weiter so hartnäckig aus dem Fenster starrte, würde sie sich noch den Nacken verrenken. Er versuchte, das unangenehme Gefühl zu verdrängen, dass er ihr Unrecht getan hatte.
„Gracie …“
Sie reagierte nicht.
Rocco wusste nicht einmal, was er sagen wollte.
Es tut mir leid? Wie sollte er sich entschuldigen und an ihre Unschuld glauben, wenn er doch wusste, dass sie auf der Seite ihres Bruders stand? Er hatte ein Foto von den beiden gesehen. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Und sie trug einen brandneuen Ausweis bei sich.
Noch einmal sah er zu ihr. Jetzt erkannte er, wie regelmäßig ihr Atem ging. Aber ihre Haltung sah äußerst unbequem aus. Wendete sie sich selbst im Schlaf noch von ihm ab?
Er fluchte leise, schob die Papiere vor sich zur Seite, auf die er sich sowieso nicht konzentrieren konnte, und stand auf.
Vorsichtig beugte er sich über ihre blassen Wangen.
Ja, sie schlief tief und fest. Die langen, dichten Wimpern betonten ihren fast durchscheinenden Teint. Sein Atem stockte, als er eine salzige Träne auf ihrer Wange sah. Sein Inneres krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte geweint!
Wieder fluchte Rocco. Er löste ihren Gurt, hob sie ganz sanft aus ihrem Sitz und trug sie zu einer Kabine. Im Halbschlaf murmelte sie etwas Unverständliches.
„Pscht, du bist eingeschlafen“, flüsterte er zärtlich. „Ich mache es dir nur ein bisschen bequemer.“
Sie war zu schläfrig, um sich zu wehren. Und sie wollte es auch gar nicht. Sie fühlte sich so sicher in Roccos Armen. Sie wusste, sie sollte irgendwie gegen ihn ankämpfen, aber sie konnte einfach nicht die Energie dazu aufbringen.
Sie spürte, wie er sie auf etwas Weichem ablegte und eine seidige Decke über sie breitete. Ihre Schuhe wurden ausgezogen. Und dann nahm sie eine hauchzarte Berührung auf der Stirn wahr. Ein Kuss?
Viel später wachte sie auf. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie war. In ihren Ohren dröhnte ein seltsames Geräusch. Ganz langsam begriff sie, dass sie sich in einem Flugzeug befand. Sie setzte sich auf und sah sich um. Sie war in einem Schlafzimmer. In einem Flugzeug!
Hastig schlug sie die Decke zurück und schaute aus dem Fenster. Tief unter ihr erstreckten sich schneebedeckte Berggipfel. Bei dem Anblick stockte ihr Atem. Sie stand auf, reckte und streckte sich und versuchte sich zu erinnern, wie sie in das Bett gekommen war.
Sie hatte in Roccos Armen gelegen. Hatte er sie geküsst? Sie runzelte die Stirn. War das vielleicht nur ein Traum gewesen?
Wieder versuchte sie, ihren Ärger zu beleben, aber plötzlich verstand sie Rocco. Wie sollte er ihr vertrauen? Steven hatte ihm eine Million Euro gestohlen, und er wusste, wie sehr sie ihren Bruder liebte. Sie verteidigte ihn sogar immer noch!
Warum kann nicht alles ganz anders sein? dachte sie verzweifelt, aber dann schob sie den Gedanken tapfer zurück.
Neben dem Schlafzimmer fand sie ein komplett eingerichtetes Bad mit flauschigen Handtüchern, Badewanne und Dusche. Gracie nutzte die Gelegenheit und stieg unter die Dusche.
Als sie zurück ins Schlafzimmer kam, entdeckte sie zahlreiche Einkaufstaschen und Schachteln. Neugierig schaute sie hinein. In allen war Kleidung. Für sie?
Schnell zog sie ihre eigene Jeans und ein T-Shirt an, dann machte sie sich auf die Suche nach Rocco. Abgesehen von dem ständigen Motorengeräusch, war das Flugzeug ganz still. In der Kabine glimmte nur die Notbeleuchtung.
Rocco schlief in seinem Sessel. Er hatte die Lehne so weit wie möglich hinuntergelassen. Gracie setzte sich auf den Sitz ihm gegenüber und schaute ihn einfach nur an. Im Schlaf sah er so viel jünger aus, viel zugänglicher, als wenn er wach war. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er ohne sein sarkastisches Lächeln aussehen würde. War er jemals einfach nur fröhlich und entspannt?
Widerstrebend stand sie auf. Sie wollte nicht, dass er erwachte und sie dabei ertappte, dass sie ihn anstarrte wie ein liebeskranker Teenager. Vielleicht hatte ihre Bewegung ihn geweckt, jedenfalls regte er sich in seinem Sitz, dann öffnete er die Augen. Selbst so verschlafen sah er umwerfend aus und frischer, als Gracie sich nach ihrer Dusche fühlte.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken“, sagte sie leise.
Er sah erstaunlich verwirrt um sich. Zum ersten Mal erlebte sie ihn nicht stark und unangreifbar. Doch in der nächsten Sekunde hatte er seine gewohnte Haltung wiedergefunden. Blitzschnell streckte er die Hand aus und fasste nach ihrem Handgelenk. Mit einem Ruck zog er sie zu sich, sodass sie an seiner muskulösen Brust landete. Sie quiekte auf, aber schon schoben sich seine Hände unter ihr T-Shirt und fanden ihre nackte Haut.
Ihr Körper reagierte sofort. „Rocco … hör auf!“, keuchte sie atemlos. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte nicht überzeugend.
Doch er hörte wirklich auf. Er sah ihr in die Augen. „Warum hast du einen neuen Pass?“, fragte er heiser.
Sie hielt für einen Moment die Luft an. In seinem Gesicht suchte sie nach einem Zeichen, dass er sich über sie lustig machte. Sie fand keins. Zitternd stieß sie die Luft aus. „Du wirst mich auslachen.“
„Das werde ich nicht.“
Sie versuchte, sich aufzurichten, aber er hielt sie nur noch fester. Wie sollte sie so einen klaren Gedanken fassen? „Seitdem ich klein war, wollte ich immer die Welt bereisen. Darum habe ich mir einen Pass ausstellen lassen, sobald ich alt genug war. Ich hatte nie ernsthaft vor, wegzugehen, ich hatte nie das Geld dazu, aber mir gefiel die Idee, jederzeit bereit zu sein … die Vorstellung kam mir irgendwie … romantisch vor. Als wäre die Welt voller Möglichkeiten – und eines Tages auch für mich. Vor Kurzem ist der Ausweis dann abgelaufen, und ich habe mir einen neuen ausstellen lassen.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu, aber seine Miene war ausdruckslos. Sie senkte den Blick. „Ich weiß, das ist eine alberne Geschichte …“
Entweder ist Gracie die weltbeste Schauspielerin, oder … oder sie sagt die Wahrheit, dachte Rocco. Ihre Wangen glühten, und sie konnte ihm nicht einmal in die Augen schauen.
Sein Herz krampfte sich zusammen. Er wusste ganz genau, wovon sie sprach. Er dachte an den Moment zurück, als er zum ersten Mal seinen Reisepass in der Hand gehalten hatte. Genau wie Gracie hatte er das Gefühl gehabt, ihm würde plötzlich die Welt offen stehen. Er hatte Italien verlassen und nie zurückgeblickt.
Er hob ihr Gesicht zu sich. Für einen Moment schnürte ihm ein ganz unvertrautes Gefühl die Kehle zu. Ihm war, als würde etwas ganz tief in seinem Inneren schmelzen. Er musste sich vor diesem Gefühl schützen, und er kannte nur einen Schutz: Leidenschaft.
Bevor er sich seiner Lust überließ, sagte er sanft: „Okay.“
„Okay?“, wiederholte Gracie ungläubig.
„Ich glaube dir“, erklärte er schroff.
Gracies Herz wurde ganz weit, als wäre ein großes Gewicht von ihrer Brust genommen worden. All ihr Ärger und ihre Verletzungen lösten sich mit einem Schlag in nichts auf.
Wieso glaubt er mir? dachte sie verwirrt. Sie könnte viel leichter mit ihm umgehen, wenn er noch länger an ihr zweifeln würde.
Entschieden stand er auf, zog sie mit sich hoch und führte sie ins Schlafzimmer. Vor Vorfreude beschleunigte sich Gracies Puls. „Wohin gehen wir?“, fragte sie atemlos.
Er lachte leise. „Willkommen im Club Über den Wolken.“
„Aber … Rocco …“
Bevor sie aussprechen konnte, schloss er hinter ihnen die Schlafzimmertür. Als er die Hände um ihr Gesicht legte und sie leidenschaftlich küsste, vergaß sie jeden Protest.
Eine Stunde später lag Gracie schwer atmend auf Roccos Körper. Ihr Herz raste noch immer, als wollte es aus der Brust springen. Sie hatte nicht geglaubt, dass Sex jedes Mal so intensiv sein konnte wie in der letzten Nacht, aber diesmal war es sogar noch unglaublicher gewesen.
Ihr war, als könnte sie nach den letzten vierundzwanzig Stunden niemals wieder mit einem anderen Mann glücklich sein. Niemand würde je wieder solche Gefühle in ihr auslösen wie Rocco.
Der Blitz schlägt nie zweimal ein, ging es ihr durch den Kopf. Aber für ihn war es bestimmt nichts Besonderes. Der Gedanke tat seltsam weh.
Sie streichelte langsam seine seidige Haut. Dabei spürte sie etwas Raues unter ihren Fingern. Sie sah auf und entdeckte eine Narbe auf seiner linken Schulter. Langsam fuhr sie mit ihrem Finger darüber.
„Was ist das?“, fragte sie.
Er bewegte sich unter ihr, als wäre ihm die Frage unbehaglich. „Ich bin als Kind vom Fahrrad gefallen.“
Misstrauisch musterte sie ihn. Seine Augen waren noch immer geschlossen, aber sie hätte gewettet, dass seine Antwort gelogen war. Aber warum sollte er bei so einer belanglosen Sache lügen?
Aber wenn er wirklich gelogen hatte, würde er ihr auch nicht die Wahrheit sagen, wenn sie ihn ein zweites Mal fragte. Sie entschied sich, lieber das Thema zu wechseln. „Als ich aufgewacht bin, sind wir über Berge geflogen. Welche waren das?“
„Wahrscheinlich der Himalaja.“
„Wow!“, rief Gracie. „Ich kann nicht fassen, dass ich vielleicht den Mount Everest gesehen habe“, gestand sie bewegt.
Rocco zuckte mit den Schultern. „Kann gut sein.“ Langsam öffnete er die Augen.
Sie ärgerte sich über seinen gelangweilten Tonfall und ließ sich von seinem Körper gleiten. „Weißt du überhaupt, wie privilegiert du bist?“, fragte sie ihn. „Wie kannst du alles so einfach als selbstverständlich nehmen?“
Immer noch verärgert, stand sie auf und sah sich suchend nach ihrer Kleidung um. Aber bevor sie ihren BH vom Boden aufheben konnte, packte Rocco ihr Handgelenk und zog sie zurück aufs Bett.
„Ich nehme nichts davon als selbstverständlich.“ Seine Augen waren dunkel und gaben kein Gefühl preis. „Nicht für eine Sekunde.“ Seine Stimme war heiser.
Offensichtlich hatte sie mit ihren Worten einen wunden Punkt getroffen. Sie musste wieder an ihre Nacht in der Küche denken. Er hatte ihr versichert, er wüsste, wie es ist, übersehen zu werden. Damals hatte seine Stimme genauso geklungen.
„Nur … so wirkt es nicht. Du hast von allem das Beste. Du erwartest Vergnügen, von allem das Beste.“
„Weil ich es kann. Weil ich es mir verdient habe. Und überhaupt – wieso interessiert dich das so sehr?“
Von einer Sekunde auf die andere war er plötzlich wieder kalt und verschlossen. Gracie versuchte vergeblich, in seinem Gesicht zu lesen. Es interessierte sie, weil sie spürte, dass noch mehr in diesem Mann steckte. Als würde er unter seiner glatten Fassade des erfolgreichen, mächtigen Mannes noch etwas anderes verstecken. Etwas Dunkleres. Sie hatte es von der ersten Sekunde an gewusst.
Für einen Moment war es ganz still. Gracie hielt den Atem an. Sie war sicher, dass Rocco etwas sagen wollte, aber dann beugte er sich nur über sie und küsste sie.
Nach einigen Sekunden hatte Gracie alles außer seinen Liebkosungen vergessen. Aber sie durfte Rocco nicht merken lassen, wie viel Macht er über sie besaß. Auch wenn seine Leidenschaft echt war, benutzte er sie in diesem Moment doch nur, um weitere Fragen zu vermeiden.
Sie nahm den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung zusammen und entzog sich ihm. Bevor er sie zurückhalten konnte, schlüpfte sie aus dem Bett. „Ich werde jetzt duschen“, erklärte sie energisch.
Obwohl sie am liebsten gerannt wäre, ging sie so gelassen wie möglich durchs Zimmer ins Bad und schloss leise die Tür hinter sich. Erst dann erlaubte sie sich, tief durchzuatmen.
Sobald Gracie die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, verschwand das Lächeln aus Roccos Gesicht. Sein ganzer Körper war angespannt, seine Hände hatte er ohne es zu merken zu Fäusten geballt. Still verfluchte er sich selbst. Gracie besaß die einzigartige Fähigkeit, ihn mit wenigen Worten auf die Palme zu bringen, und dann konnte er einfach nicht anders, als sie zu verletzen.
Als sie seine Narbe berührt hatte, hätte er um ein Haar instinktiv ihre Hand weggeschlagen. Ihm war, als würde sie seine Lügen durchschauen und direkt in sein Herz sehen.
Er war selbst überrascht, wie sehr er sie immer noch begehrte. Er hätte erwartet, dass sein Verlangen verschwinden würde, wenn er sie erst einmal besessen hatte. Aber dieses Mal war der Sex sogar noch atemberaubender gewesen als beim ersten Mal. Er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen. Als er sie in den Armen gehalten hatte, hätte er nicht einmal bemerkt, wenn das Flugzeug abgestürzt wäre.
Rocco stieß einen lauten Fluch aus. Frauen gingen ihm nicht unter die Haut! Das hatte er von seiner Mutter gelernt. Damals gab es immer einen Mann, der ihr wichtiger war als der eigene Sohn. Entweder ihr Zuhälter oder ihr jeweiliger Gönner waren immer die Nummer eins.
Als Teenager hatte er von den Mädchen gelernt, dass sie die Jungen mit der beeindruckendsten Waffe toll fanden. Die größten Angeber hatten den meisten Erfolg. Er war stolz, dass er dabei nur zugeschaut hatte.
Von seinen beiden Schwestern – zwei wunderschönen blauäugigen Prinzesschen – lernte er dann seine dritte Lektion. Als er seinen Vater auf der Straße angesprochen und ihn papa genannt hatte, hatten sie nicht mit der Wimper gezuckt. Ohne Rocco auch nur anzusehen, waren sie einfach an ihm vorbeigegangen.
Seitdem er reich und mächtig geworden war, umgab er sich gern mit Frauen wie ihnen – verwöhnten, privilegierten Frauen. Er wusste, dass sie niemals sein eiskaltes Herz berühren könnten.
Je kälter er wurde, je reicher und mächtiger, desto mehr bewunderte man ihn. Er genoss den Gedanken, wie entsetzt all die Menschen wären, wenn sie von seiner dunklen Vergangenheit wüssten.
Nur Gracie, mit ihren ernsten Augen, ihrem wilden Beschützerinstinkt für ihren Bruder und ihrer atemlosen Ehrfurcht, wenn sie über den Himalaja flog, konnte mit einem Wort jahrelang aufgebaute Mauern niederreißen.
Und er konnte nichts dagegen tun! Normalerweise zog er sich zurück oder griff an, wenn er sich verletzlich fühlte. Aber wie sollte er sich gegen eine Frau wehren, die so stolz auf ihren ersten Personalausweis war?
Sie berührte den Teil von ihm, den er so lange verleugnet und versteckt hatte. Rocco gefiel gar nicht, wie sehr sie ihn aus dem Gleichgewicht brachte.
Wieso glaubte er ihre niedlichen Geschichten aus der Kindheit überhaupt? Er wusste doch genau, dass man Frauentränen nicht trauen konnte. Und doch … Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben wollte ein Teil von ihm glauben und vertrauen. Selbst wenn es nur für einen kurzen Augenblick war.