„Für wen ist die Kleidung?“ Nur in ein Badetuch gewickelt, kam Gracie aus dem Bad.
Draußen vor den kleinen Kabinenfenstern war es gleißend hell. Weit unter ihnen erstreckten sich scheinbar endlose Wälder.
Auch Rocco hatte in der Zwischenzeit offenbar in einem anderen Badezimmer geduscht. Seine feuchten Haare waren zurückgekämmt, und er knöpfte gerade sein Hemd zu. Er wirkte männlich und dynamisch.
Er warf Gracie einen Blick zu. „Für dich.“
Sie erstarrte. „Aber ich habe meine eigene Kleidung.“
„Du brauchst passende Sachen für das Wetter dort. Ich habe keine Ahnung, wie heiß es ist. Außerdem muss ich in Bangkok an einigen Veranstaltungen teilnehmen, und dafür brauchst du eine angemessene Abendgarderobe.“
Gracie biss sich auf die Lippen und betrachtete zweifelnd die Taschen. „Ich weiß nicht. Das fühlt sich komisch an. Ich will nicht, dass du mich einkleidest.“
„Mach bitte keine große Sache daraus“, erwiderte Rocco ungeduldig. „Zum Glück habe ich rechtzeitig daran gedacht.“
„Ach ja?“ Gracie stemmte die Hände in ihre schmale Taille. „Hattest du Angst, dass ich dich in der Öffentlichkeit blamieren würde? Vielleicht hättest du deine Verlobte nicht so eilig rauswerfen sollen. Sie müsstest du garantiert nicht einkleiden!“
Gracie merkte selbst, dass sie zickig klang, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Plötzlich wurde ihr wieder deutlich bewusst, wie groß der Unterschied zwischen ihr und Roccos üblichen Frauen war. „Muss ich dich erst daran erinnern, dass das letzte Kleid, das du für mich gekauft hat, eine Nummer zu klein war? Aber wenn es dich nicht stört, dass meine Busen heraus…“
„Das reicht!“
Gracie klappte den Mund zu.
Langsam kam Rocco auf sie zu. Er sah gefährlich aus. „Zum hundertsten Mal: Sie war nicht meine Verlobte. Und ich hatte das Kleid nicht zu klein ausgesucht, das Geschäft hat falsch geliefert. Du wirst sehen, dass diese Sachen perfekt passen. Und wenn du sie nicht freiwillig anziehst, werde ich das für dich tun.“
Trotzig hob Gracie ihr Kinn. „Damit du Bescheid weißt: Du machst mir keine Angst!“
Für eine Sekunde schwieg Rocco, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Ich weiß“, brachte er schließlich heraus. In seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. „Und glaub mir, da bist du die Einzige.“
Noch immer leise lachend ging er hinaus, damit Gracie sich ankleiden konnte. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, holte sie zitternd Luft. Sie konnte nicht glauben, wie verletzlich dieser Mann sie machte. Seitdem sie miteinander ins Bett gingen, war auch ihre letzte Verteidigung zusammengebrochen. Aber das durfte sie ihn auf gar keinen Fall merken lassen!
Sie inspizierte die Taschen und Tüten. Er hatte recht, diesmal war es die richtige Größe. Rocco hatte an alles gedacht, sogar an Make-up.
Widerwillig packte sie Jeans und T-Shirt wieder ein und zog ein Seidenhemd und eine leichte Leinenhose an. Dazu wählte sie flache Schuhe. Als sie die teuren Materialien auf ihrer Haut spürte, kam sie sich wie eine Hochstaplerin vor. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie viel Rocco dafür gezahlt haben musste.
Doch als sie kurz darauf in ihrem Sitz saß und das Flugzeug durch die dichte Wolkendecke zur Landung ansetzte, vergaß sie ihre Bedenken.
„Was war das?“, rief sie aus, als das Flugzeug in ein Luftloch sackte.
Rocco lächelte über ihre Aufregung. „Turbulenzen. In Thailand herrscht gerade Regenzeit, aber keine Sorge, der Regen ist warm.“
„Warm?“, platzte Gracie heraus. Sofort biss sie sich auf die Lippen. Wie lächerlich sie sich anhören musste! Sie war viel nervöser, als sie zugeben wollte.
Anstatt sie auszulachen, griff Rocco über den Gang hinweg nach ihrer Hand. „Komm her“, sagte er heiser.
Ungeschickt kletterte sie aus ihrem Sitz. Rocco rückte ein Stück zur Seite und überließ ihr den Fensterplatz.
„Aber so siehst du nichts!“, protestierte sie.
Seine Mundwinkel zuckten. „Ich kenne den Anblick schon, aber für dich ist es das erste Mal.“
Gracie gab nach und sah hinaus. Gerade in diesem Augenblick durchbrachen sie die Wolkendecke. Sie schnappte nach Luft. „Wie grün alles ist!“, rief sie aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so grün ist.“
Rocco legte den Arm um ihre Schultern, beugte sich vor und sah gemeinsam mit ihr aus dem Fenster. „Das sind Reisfelder und dahinter siehst du den Regenwald. In der Regenzeit ist das Grün besonders üppig.“
Ehrfürchtig schüttelte Gracie den Kopf und saugte den Anblick in sich auf. „Wunderschön!“, flüsterte sie.
„Du hast ja noch gar nichts gesehen. Nicht richtig.“ Seine Stimme klang amüsiert.
Sie sah ihn an. „Haben wir dazu Zeit … ich meine, um uns das Land anzuschauen?“
Als Rocco in diese leuchtenden goldgesprenkelten Augen sah, spürte er wieder die fast schon vertraute Enge in seiner Brust. Er nickte. „Natürlich. Wir können uns in Bangkok den großen Palast ansehen und was immer du möchtest.“
Ohne nachzudenken drückte Gracie ihm einen Kuss auf die Lippen, dann wandte sie sich schnell wieder zum Fenster. Hoffentlich hatte er nicht das verräterische Glitzern in ihren Augen gesehen. Sie war so glücklich, dass sie am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.
Eine halbe Stunde später fiel Gracie das Atmen immer noch schwer. Als sie aus dem Flugzeug getreten war, hatte die feuchte Hitze sie wie ein Schlag getroffen. Selbst ihre leichte Kleidung kam ihr so dick wie ein Skianzug vor.
Schon auf dem kurzen Weg zu ihrem klimatisierten Wagen brach Gracie der Schweiß aus. Rasch klebte ihr Hemd an der Haut, und ihre Haare ringelten sich feucht um ihr Gesicht.
Rocco musterte sie und hob eine Braue. „Ich habe es dir gesagt.“ Er sah so kühl und gelassen aus wie immer.
Gracie streckte ihm die Zunge heraus. „Bringt dich nie etwas ins Schwitzen?“
Seine Augen verdunkelten sich. „Dir gelingt es ganz gut“, erwiderte er heiser.
Gracies Herz machte einen Sprung. Noch immer jagte es ihr entsetzliche Angst ein, wie schnell dieser Mann sie aus dem Gleichgewicht brachte. Doch schon bald lenkte sie der hektische Betrieb vor den Autofenstern ab. Sie konnte sich an all den neuen Eindrücken nicht sattsehen.
Die Straßen waren breit, und die Hochhäuser schienen den grauen Himmel zu berühren. An jeder Ecke waren Spuren vergangener Zeiten zu entdecken, gleichzeitig verkörperte Bangkok den modernen Fortschritt. An den Gebäuden prangten gigantische Reklametafeln mit wunderschönen fremden Schriftzeichen. Die Luft war erfüllt von lautem Hupen, und auf den Straßen schienen sich eine Million Mopeds zu drängen. Auf manchen fuhren ganze Familien, auf anderen saßen lächelnde Frauen im Damensitz mit Babys auf dem Schoß. Mit großen Augen saugte Gracie das Treiben um sie herum in sich auf.
Sie streckte den Finger aus. „Was ist das?“
Rocco folgte ihrem Blick „Das sind Tuk-Tuks, motorisierte Fahrradrikschas. Sie werden hier als Taxi benutzt.“
Gracie folgte ihnen mit großen Augen, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit schon wieder von etwas Neuem abgelenkt. Rocco konnte seinen Blick genauso wenig von Gracie abwenden, wie sie von den bunten Bildern vor ihrem Auto. Ihre ehrliche Begeisterung schnürte ihm die Luft ab.
Als ihm das bewusst wurde, wandte er rasch den Blick ab und verfluchte sich still. Er nahm nicht zum ersten Mal eine Frau mit auf eine Geschäftsreise. Aber noch nie hatte ihn eine Frau so mühelos von allem anderen abgelenkt.
Er konnte sich bestens Honora Winthrops gelangweilte Reaktion auf Bangkok vorstellen. Manche Leute hassten die Stadt, aber Rocco liebte sie seit seinem ersten Besuch. Und Gracie sah aus, als liebte sie Bangkok ebenfalls. Obwohl er versuchte, über sein Gefühl zu lachen, wurde ihm bei ihrer Begeisterung ganz warm ums Herz.
Sobald der Wagen vor dem Hotel hielt, kletterte Gracie heraus, bevor der Fahrer ihr die Tür öffnen konnte. Sie drehte sich zu Rocco um. „Ich liebe diese Hitze. Ich komme mir vor, als würde ich unter einer warmen Dusche stehen, nachdem das Wasser abgestellt ist. Und all diese Gerüche … so exotisch …“ Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
Er bemühte sich, nicht auf ihr verschwitztes Seidenhemd zu achten. Es klebte heiß und feucht an ihrem Körper und schmiegte sich eng an ihre Brüste. Die neue Kleidung stand ihr gut. Rocco hatte schon am Flughafen bemerkt, wie viel Aufmerksamkeit Gracie auf sich zog. Plötzlich wünschte er sich, sie würde wieder nur Jeans und ein einfaches T-Shirt tragen.
Als sie kurz darauf vom Hotelmanager in ihre Suite geführt wurden, schnappte Gracie hörbar nach Luft. Sprachlos ging sie durch die Zimmer, berührte die kostbare Seide der Stühle und fuhr mit der Hand über die auf Hochglanz polierten Tischplatten. Dann öffnete sie die Balkontüren und trat auf die riesige Terrasse. Der Blick reichte über die Dächer der Stadt bis zum Chao Praya Fluss.
Offensichtlich zufrieden mit ihrer Reaktion, verabschiedete sich der Hotelmanager. Rocco stellte seine Computertasche ab und ging ebenfalls auf die Terrasse. Er sah sich suchend um. Wo war Gracie?
Plötzlich winkte sie ihm hinter einer Ecke hervor zu. „Hier ist ein Pool! Ein Swimmingpool ganz für uns allein!“, rief sie aufgeregt.
Er lächelte und steckte seine Hände in die Hosentaschen, damit er Gracie nicht sofort in seine Arme zog. „Ich weiß.“
Die Freude verschwand aus ihrem Gesicht. „Natürlich weißt du das“, erwiderte sie. „Du warst bestimmt schon tausend Mal hier.“
Rocco hasste den traurigen Ausdruck in ihren Augen. Er gab seine Selbstbeherrschung auf und ging zu ihr. „Nicht gerade tausend Mal … aber schon oft.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und hob ihr Kinn zu sich. „Gefällt es dir hier?“
Jetzt lachte sie wieder. „Ob es mir gefällt? Meinst du das ernst? Dieser Platz ist das Paradies auf Erden! Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Die Stadt ist … überwältigend, atemberaubend. Und das Hotel ist … wie eine andere Welt.“
Rocco zog sie enger an sich. „Du bist atemberaubend“, sagte er, ohne nachzudenken.
Zarte Röte überzog Gracies Wangen. Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust. „Nein, das bin ich nicht“, widersprach sie. Dann schaute sie auf. „Ich bin bloß normal, und ich denke, das ist für dich etwas Neues.“
Sein Herz zog sich zusammen. Wenn sie nur wüsste! Er hob eine ihrer Hände an seine Lippen und küsste sie. Dabei bemerkte er mit Freude, dass ihre Haut schon weicher geworden war. „Ich muss unten einige Klienten treffen. Warum legst du dich nicht ein bisschen hin und ruhst dich aus? Wir haben im Flugzeug geschlafen, darum sollte der Jetlag nicht allzu schlimm werden. Heute Abend gehen wir dann auf einen Empfang, und morgen werde ich den ganzen Tag über auf Meetings sein.“
Gracie nickte nur. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde ihr die Situation in mehr als einer Hinsicht über den Kopf wachsen. Sie ließ seine Worte sacken. Empfang. Sie biss sich auf die Lippen.
„Der … Empfang heute Abend … ist das eine vornehme Veranstaltung?“, fragte sie leise.
Rocco nickte ernsthaft. „Entsetzlich vornehm. Und es gibt ein riesiges Buffet – am besten bringst du einen Koffer mit, damit du all deine Nachbarn satt bekommst.“
Gracie brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass er sich einen Spaß mit ihr erlaubte. Scherzhaft schlug sie nach ihm, während gleichzeitig ihr Puls raste. Wenn dieser Mann auch noch seinen Charme spielen ließ, war er gesundheitsgefährdend!
„Ich meine es ernst!“, beharrte sie. „Ich war bisher in meinem ganzen Leben nur auf einem Empfang – auf deinem in London. Was mache ich, wenn jemand versucht, mit mir zu reden?“
„Mit ihm reden“, antwortete Rocco trocken. „Du hattest kein Problem, dich mit mir zu unterhalten, wenn ich mich recht erinnere. Stell dir einfach vor, alle Gäste würden zum Sicherheitsdienst gehören.“ Er beugte sich zu ihr und küsste sie, dann ließ er sie los. „Wir sehen uns in ein paar Stunden.“
Einige Stunden später drehte sich Gracie vor dem großen Spiegel und musterte sich kritisch. Rocco wartete draußen in einem der Wohnzimmer.
Für jeden von ihnen gab es ein eigenes Bad und Ankleidezimmer. Das Bad hatte zwei Duschen, eine drinnen, die andere unter freiem Himmel. Die Räume waren mit asiatischen Antiquitäten eingerichtet, vor den Fenstern hingen kostbare Vorhänge, und auf den Sofas türmten sich seidene Kissen. Allein in Gracies Bett hätte eine komplette Fußballmannschaft bequem Platz gefunden.
Was für ein Luxus! dachte sie. Manchmal glaubte sie immer noch zu träumen.
In den Räumen war es durch die Klimaanlage fast schon kalt, und wenn sie nach draußen ging, legte sich die Hitze wie ein nasses Tuch auf ihre Haut.
Sie atmete tief durch, dann schaute sie noch einmal in den Spiegel. In stundenlanger Arbeit hatte sie es geschafft, ihr widerspenstiges Haar in einem Knoten zu zähmen und sogar etwas von dem neuen Make-up aufgelegt.
Ihr ärmelloses Kleid schimmerte in allen Schattierungen von Rot und Orange. Sie hätte erwartet, dass es sich mit ihrer Haarfarbe beißen würde, aber das tat es nicht. Der seidige Stoff schmiegte sich eng an ihren Körper und fiel weich bis auf den Boden. Die leuchtenden Farben ließen Gracie sehr blass wirken. Dazu hatte sie hochhackige rote Riemchensandalen gewählt. Plötzlich war sie ganz unsicher. Konnte sie so wirklich gehen?
Aber wen sollte sie um Rat fragen? Rocco war ein Mann, er konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Sie als Frau sollte diese Dinge wissen.
Sie seufzte, dann nahm sie eine kleine goldene Handtasche und ging langsam hinaus. Rocco stand vor den gläsernen Balkontüren und sah hinaus über die Stadt. In dem schwarzen Anzug wirkten seine Schultern unglaublich breit. Sein Haar lockte sich im Nacken bis auf seinen Kragen. Genau so hatte sie ihn zum ersten Mal in London gesehen.
Einen Moment lang konnte Gracie nicht atmen. Am liebsten wäre sie einfach weggelaufen, so schnell und weit wie möglich.
Aber er musste sie gehört haben. Langsam drehte er sich zu ihr um. Bei ihrem Anblick wurden seine Augen groß. Er sah sie von oben bis unten an.
„Was ist?“, fragte Gracie leise. Ihre Stimme zitterte. „Geht das so? Ich war nicht sicher, ob es …“
„Es ist perfekt.“ Er kam auf sie zu.
In seinem Frack sah er so atemberaubend aus, dass Gracie unwillkürlich einen Schritt zurückstolperte, bis sie mit der Hüfte an einen Tisch stieß. Dann stand Rocco neben ihr und zog eine kleine Schachtel aus der Tasche. Er öffnete sie und reichte sie Gracie.
Auf dunklem Samt leuchteten eine diamantenbesetzte Kette und zwei tropfenförmige Diamantohrringe.
Sie sah ihn an. „Was ist das?“
Er runzelte die Stirn. „Schmuck für dich. Du sollst ihn tragen.“
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, noch ein wenig weiter zurückzuweichen. „Das ist zu viel, Rocco. Das kann ich nicht tragen. Der Schmuck muss ein Vermögen wert sein.“
Ein dunkler Schatten flog über sein Gesicht, dann erhellte sich seine Miene wieder. „Die Sachen sind hier aus dem Hotelshop. Ich kann sie morgen früh zurückgeben.“
Misstrauisch sah sie ihn an. „Sie sind wirklich nur für heute Abend?“
Er nickte. Seine undurchdringliche Miene verriet kein Gefühl. „Wenn du es so willst.“
Gracie sah die Diamanten noch einmal an, schließlich nickte sie. „Also gut, dann trage ich sie.“
Rocco nahm die Kette aus der Schachtel und legte sie ihr um den Hals. Dann reichte er ihr die Ohrringe. Mit zitternden Fingern befestigte Gracie sie. Unbehaglich bewegte sie den Kopf. Die Diamanten schaukelten an ihren Ohren hin und her, und um ihren Hals spürte sie schwer und kalt die Kette.
Rocco reichte ihr seinen Arm. „Sollen wir gehen?“
Gracie legte ihre zitternden Finger auf seinen Arm und nickte. Sie kam sich vor, als wäre sie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung.
Während sie zum Aufzug gingen, hielt Rocco Gracies Hand fest. Er konnte ihr Zittern durch seine Jacke spüren. Sie war nervös! In der glänzenden Fahrstuhltür wirkte sie direkt ein bisschen krank. Und trotzdem sah sie einfach umwerfend aus.
Als sie aus dem Schlafzimmer gekommen war, hätte er sie im ersten Augenblick fast nicht erkannt. Das aufgesteckte Haar gab den Blick auf ihren langen, graziösen Hals frei. Durch das Make-up wirkten ihre Augen größer und die Wangen frisch.
Das Kleid umspielte ihren Körper wie eine schillernde Wolke, und der weiche Stoff betonte ihre zarten und doch weiblichen Kurven. Mit ein klein wenig Schliff konnte sie jede andere Frau in den Schatten stellen.
Die Diamanten fingen die schillernden Farben ihres Kleides auf und leuchteten wie Feuer an ihrem Hals und ihren Ohren.
Er war es so gewohnt, für Frauen Schmuck zu kaufen, dass Gracies Reaktion ihn komplett überrascht hatte. Hätte er nicht schon vorher an ihrer Schuld gezweifelt, würde er es spätestens jetzt tun. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht.
Plötzlich spürte er wieder den Drang, einfach wegzulaufen, aber dieses Mal aus ganz anderen Gründen.
Als Gracie aus dem Wagen stieg, genoss sie die Wärme auf ihrer Haut. An Roccos Arm betrat sie das wundervoll verzierte Holzhaus. Das langgestreckte Gebäude war im traditionellen thailändischen Stil erbaut und mit nichts zu vergleichen, was Gracie je gesehen hatte. Um sich herum hörte sie die raschen Laute der thailändischen Sprache.
Prächtige Gärten umgaben das Haus, und überall funkelten kleine Lichter wie Feenlampen. Wunderschöne thailändische Frauen servierten exotische Speisen und Getränke. Gracie fühlte sich plötzlich, als wäre sie in eine fremde, magische Welt geraten.
Sie lehnte den Champagner ab, und Rocco reichte ihr ein Glas Wasser. „Trinkst du nie?“
Gracie verzog ihr Gesicht und vermied seinen Blick. „Meine Mutter war Alkoholikerin – meine Großmutter auch. Ich habe das Zeug nie angerührt.“
Er sah sie schweigend an.
Gracies Wangen glühten. Sie konnte nicht fassen, was sie Rocco gerade wie selbstverständlich erzählt hatte. Um ihn abzulenken, fuhr sie rasch fort: „Die Frauen hier sind so klein und zierlich. Neben ihnen komme ich mir wie ein Elefant vor.“
Rocco hob ihre freie Hand an seine Lippen und küsste ihre Handfläche. „Du siehst absolut nicht wie ein Elefant aus. Du bist einfach hinreißend.“
Seine Worte und die Berührung seiner Lippen raubten Gracie den Atem. „D…danke“, stammelte sie überwältigt.
Alles erschien ihr wie ein Traum, Rocco de Marco an ihrer Seite, das wunderschöne Kleid, als wäre ihre Fantasie nach der ersten Begegnung mit Rocco wahr geworden.
Ein Teil von ihr wusste genau, dass sie nicht mehr als seine derzeitige Geliebte war. Er vergnügte sich mit ihr im Bett, aber sobald er sie nicht mehr begehrte, würde er sie fallen lassen. Und doch … in diesem Moment war sie glücklich.
Gleichzeitig schrie ihr Verstand: Gefahr!
Im Flugzeug hatte Rocco ihr noch einmal deutlich sein tiefes Misstrauen vor Augen geführt. Doch mit einer einzigen Frage nach ihrem Ausweis konnte er ihren Ärger sofort wieder zerstreuen. Sie hasste es, wie mühelos er ihre jahrelang sorgsam aufgebaute Verteidigung durchbrach.
Jetzt näherte sich ihnen ein Mann und klopfte Rocco herzlich auf den Rücken. Als wäre das der Startschuss gewesen, kamen nun immer mehr Leute, begrüßten Rocco und redeten mit ihm über Themen, von denen Gracie noch nie gehört hatte. Sie verstand kein Wort von Dingen wie Marktkräften oder Aktienzuteilungen. Doch das störte sie nicht. Sie hätte noch stundenlang einfach nur dastehen, Rocco anschauen und ihm zuhören können.
„Langweilst du dich?“ Rocco nutzte eine Pause zwischen zwei Gesprächen, um sich wieder Gracie zuzuwenden.
Ehrlich erstaunt sah sie ihn an. „Nein! Wieso? Sehe ich so aus?“
„Nein“, erwiderte er trocken. „Aber du bist ungewöhnlich schweigsam, und das macht mich nervös.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Die meiste Zeit verstehe ich kein Wort“, sagte sie ehrlich. Dann lächelte sie. „Ich hätte gedacht, es würde dir gut gefallen, wenn ich den Mund halte.“
Er grinste schief. „Nicht so sehr, wie ich dachte.“ Dann wurde er ernst. „Das Heft in deinem Koffer mit den Skizzen und Texten … was ist das?“
Gracie errötete. Ihr Herz zog sich zusammen. Ihr war, als wäre sie unsanft aus ihrem glücklichen Traum gerissen worden. Plötzlich erinnerte sie sich wieder, warum sie hier war. „Ich hätte wissen müssen, dass du meine Taschen gründlich durchsucht hast“, bemerkte sie. „Was wolltest du mit meinem Heft? Hast du erwartet, darin Pläne für einen Banküberfall zu finden?“
Rocco hob ihr Gesicht mit einem Finger zu sich. Zu ihrer Überraschung sah er beschämt aus. „Das habe ich in dem Moment vielleicht noch gedacht … aber jetzt, weiß ich nicht mehr …“
Gracie beschloss, den seltenen Moment von Roccos Offenheit zu nutzen und ihm etwas mehr von sich anzuvertrauen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und holte tief Luft, dann sagte sie: „Ich habe einen Abschluss in Kunstwissenschaft. Eines Tages möchte ich mal Kinderbücher schreiben. Das waren nur ein paar Skizzen und Ideen, nichts Besonderes.“
„Ich fand sie sehr gut.“
Gracie sah ihn mit großen Augen an. „Wirklich?“
Er nickte. Ihr Herz pochte hart in ihrer Brust.
„Warum ausgerechnet Kinderbücher?“
Verlegen drehte sie ihre Handtasche in den Händen. Sollte sie ihm wirklich noch mehr erzählen? Bis jetzt hatte sie noch nie mit jemandem darüber geredet. Sie könnte nicht ertragen, wenn er sie auslachen würde.
„Ich war nie besonders gut in der Schule, nicht wie …“ Im letzten Moment verschluckte sie den Namen ihres Bruders. Sie wollte den zerbrechlichen Waffenstillstand nicht gefährden. „Nicht wie die meisten anderen Kinder. Aber ich habe schon immer Bücher geliebt. Beim Lesen haben sie mich in eine andere Welt entführt.“ Sie zuckte mit den Schultern und suchte in seiner Miene nach einem Zeichen, dass er sie albern fand, aber er sah sie nur aufmerksam an. „Ich denke, das möchte ich auch für andere Kinder tun.“
Rocco sah auf Gracies gesenkten Kopf. Im flackernden Kerzenlicht schimmerte ihr Haar wie goldenes Feuer. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie sich in Geschichten voller Magie und Abenteuer verloren hatte, während ihre eigene Welt von Unbeständigkeit geprägt gewesen war.
Als er schwieg, sah sie zu ihm auf. Er sah sie so eindringlich an, dass sie fast einen Schritt gestolpert wäre. Ihr Blick glitt zu seinem angespannten Mund. Wie gern hätte sie seine Lippen geküsst, bis er wieder lächelte.
„Sieh mich nicht so an“, murmelte er heiser.
„Sonst was?“, fragte sie herausfordernd.
Plötzlich fühlte Gracie sich ungewohnt selbstsicher, vielleicht weil er nicht über ihre Träume gelacht hatte. Oder weil sie spürte, wie sehr er sie begehrte.
„Oder ich bringe dich sofort hier heraus und unternehme etwas dagegen.“
Gracie sah ihm in die Augen. „Lass dich nicht aufhalten“, erwiderte sie kühn.
Rocco murmelte einen unterdrückten Fluch, dann nahm er ihre Hand und führte sie durch das Gedränge. Gracie folgte ihm beschwingt. Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr freute, über ihre Wirkung auf ihn oder über ihre wachsende Ungezwungenheit.
Innerhalb von Minuten saßen sie auf dem Rücksitz ihrer Limousine. Rocco fuhr die Trennscheibe hoch, dann suchte sein Mund nach Gracies Lippen.
Als der Wagen bald darauf vor ihrem Hotel hielt, nahm Gracie seinen Arm. Ihre Wangen glühten. „Ich … so kann ich doch nicht aussteigen“, flüsterte sie beschämt. Ihr Haar hatte sich aus dem Knoten gelöst und hing zerzaust um ihr Gesicht, ihre Lippen waren rot von seinen Küssen. „Alle werden es sofort wissen!“
Nach einem Blick in ihr Gesicht hätte Rocco sie am liebsten sofort wieder in seine Arme gezogen. Wie konnte ein einfacher Kuss in Sekunden zu so glühender Leidenschaft explodieren? Er nahm ihre Hand fest zwischen seine starken Finger und führte sie durch die Halle zum Aufzug.
Plötzlich stieg Ärger in ihm auf.
So etwas tat er nicht!
Er war nicht so besessen von einer Frau, dass er Empfänge früher verließ. Und er hatte keinen Sex mit Frauen auf einem Autorücksitz.
In ihrem Penthouse löste Gracie ihre Finger aus seinen und trat einen Schritt zurück.
Rocco runzelte die Stirn. Wieso entzog sie sich ihm jetzt? Er konnte kaum abwarten, endlich zu Ende zu bringen, was sie im Wagen begonnen hatten. „Was hast du vor?“
„Ich will nur das hier abnehmen.“ Gracie löste den Verschluss der Kette, dann nahm sie die Ohrringe ab und reichte ihm den Schmuck.
Plötzlich wirkte sie so verletzlich, dass seine Kehle eng wurde.
„Wir sollten die Diamanten in den Safe legen oder so was“, schlug sie vor, ohne ihn anzusehen.
Er seufzte, doch dann holte er die kleine Schachtel und brachte die Juwelen in den Safe ihrer Suite. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, zerrte er die Krawatte ab und warf das Jackett über einen Stuhl. Von Gracie war nichts zu sehen, aber die Schiebetüren zur Terrasse standen auf. Er ging hinaus. Sie stand barfuß am Swimmingpool. Ihr Kleid glitzerte vor dem dunklen Nachthimmel, ihre Haut schimmerte wie eine Perle, und ihm war, als würde er fallen.
Hinter sich hörte Gracie seine Schritte. Noch immer fühlte sie diese neue Selbstsicherheit. Wie in aller Welt hatte sie sich in diese Person verwandelt, die Rocco de Marco von einem Empfang weglocken konnte und die dann mit ihm auf den Rücksitz seiner Limousine hüpfte wie ein sexbesessenes Groupie?
Doch als Rocco jetzt neben sie trat, war sie plötzlich wieder ganz schüchtern. Er sah ins Wasser, und sie wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen.
War er genauso überwältigt von seinen Gefühlen wie sie? Was für eine dumme Idee! schimpfte sie mit sich. Ein Mann wie Rocco fühlte sich von gar nichts überwältigt!
Um das angespannte Schweigen zu durchbrechen, sagte sie: „Die Luft fühlt sich irgendwie … schwerer an, feuchter.“
Rocco schaute zum Himmel auf. „Es fängt jeden Moment an zu regnen.“
Gracie folgte seinem Blick und sah dicke, dunkle Wolken über sich. In der Ferne grollte ein Donner. „Ist der Regen hier wirklich warm?“
„Ja.“
Sie holte tief Luft. „Was vorhin passiert ist … auf dem Empfang … und im Auto. Das macht mir ein bisschen Angst – es geht alles so schnell mit uns.“
Rocco schwieg. Wieder krachte ein Donner, näher diesmal.
„Wie meinst du das?“ Er sah sie nicht an.
Sie zuckte die Schultern, dann trat sie näher an den Pool heran. „Ich weiß nicht genau. Ich wollte nur … dass du weißt … So etwas habe ich noch nie gefühlt.“ Sie drehte sich zu ihm um.
Er wirkte verärgert. „Denkst du, für mich wäre das normal? Dieses … irrsinnige Begehren?“
Gracie zuckte verletzt zusammen. „Ich finde es nicht irrsinnig. Es ist nur … Ich habe das Gefühl, als könnten wir gar nichts dagegen tun, selbst wenn wir wollten.“
„Das siehst du richtig“, erwiderte Rocco grimmig.
Plötzlich begriff Gracie. Diese Wildheit in Rocco war ein Teil von ihm, den er am liebsten verleugnet hätte. Er konnte es nicht ertragen, die Kontrolle zu verlieren. Ihr machte diese Hilflosigkeit Angst, aber er hasste sie zutiefst. Sie dachte an die eisige Honora Winthrop, und ihr wurde klar, was er wirklich bevorzugte.
Sie war für ihn nicht mehr als ein kleiner Ausrutscher. Mit ihr lebte er nur für eine kurze Zeit seine innersten Triebe aus.
Gracie zwinkerte, um ihre Tränen zurückzudrängen. Plötzlich schien sie all der Luxus um sie herum zu verspotten. Sie trat einige Schritte vom Pool zurück.
„Gracie?“, fragte Rocco irritiert.
Dann rannte sie los, sprang ab und tauchte ein. Sie hinterließ kaum einen Spritzer auf der spiegelglatten Wasseroberfläche.