9. KAPITEL

Fassungslos starrte Rocco ins Wasser. Mit einem Schlag löste sich sein Ärger auf. Stattdessen bereute er, dass er sie mit seinen schroffen Worten verletzt hatte. Doch er fühlte nicht nur Reue, sondern auch ein grenzenloses Glücksgefühl. Etwas Ähnliches hatte er nur einmal vorher erlebt. Er erinnerte sich noch lebhaft an das entsetzte Gesicht seines Vaters, als dieser erfahren hatte, dass sein wertloser Bastardsohn um einiges reicher geworden war als er selbst.

Jetzt tauchte Gracie am anderen Ende des Pools wieder auf. Ihr Kleid blähte sich unter Wasser und umspielte ihre Körper wie eine leuchtende Wolke. Sie sah unglaublich wild und frei aus, wie eine wunderschöne Meerjungfrau.

In diesem Moment fielen die ersten schweren Regentropfen. Rocco zog Schuhe und Socken aus, dann sprang er ebenso gekonnt in den Pool und schwamm mit wenigen kraftvollen Zügen durch das Becken zu Gracie.

Ohne aufzutauchen, zog er sie zu sich unter Wasser und presste seine Lippen auf ihren Mund. Als sie einige Sekunden später gemeinsam an die Oberfläche kamen, sog Gracie tief die Luft ein.

Der Regen war jetzt zu einem Wolkenbruch geworden. Sie legte den Kopf zurück und lachte laut auf. Ihre Arme lagen um Roccos Nacken. „Der Regen ist warm!“, jauchzte sie.

„Wieso glaubst du nie, was ich sage?“, brummte Rocco und küsste sie noch einmal.

Für einen Moment spürte Gracie wieder den Schmerz über seine Worte. Sie wollte mehr für ihn sein als eine ungewollte Leidenschaft. Doch dann gab sie seinen drängenden Lippen nach und verlor sich in ihrem Kuss.

Als Rocco sie gegen die kühlen Fliesen drückte und begann, ihr das Kleid abzustreifen, zitterte sie vor Erwartung. Obwohl der Regen warm auf ihre Haut prasselte, überzog eine Gänsehaut ihre Arme.

„Rocco“, flüsterte sie. „Ich will dich. Ich brauche dich. Jetzt!“

Er stöhnte auf, dann hob er sie mühelos aus dem Pool, setzte sie auf den Beckenrand und zog sich selbst geschmeidig aus dem Wasser. Sanft trug er sie zu einer der Sonnenliegen neben dem Becken.

Gracie war, als würde sie eins mit den Elementen. Sie stöhnte auf, als Rocco in sie eindrang und schlang ihre Beine fest um ihn, bis sie beide gemeinsam den Höhepunkt erreichten.

Erst eine ganze Weile später bewegte Rocco sich wieder. Gracie zuckte zusammen, als er sich von ihr löste und aufsetzte.

Er beugte sich über sie und drückte einen zarten Kuss auf ihre Lippen. „Habe ich dir wehgetan?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Nicht körperlich jedenfalls, ergänzte sie im Stillen. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

Rocco ließ sie für einen Moment allein, dann kam er wieder zurück und reichte ihr einen flauschigen Bademantel. Er selbst hatte nur ein Handtuch um seine schmalen Hüften geschlungen.

„Ich dusche jetzt. Leistest du mir Gesellschaft?“ Seine Stimme klang rau.

Obwohl alles in ihr schrie: ja! schüttelte sie den Kopf. Sie musste jetzt einen Moment allein sein. „Ich denke, ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen“, sagte sie leise.

„Wie du willst.“ Er zuckte mit den Schultern und ging hinein.

Gracie konnte nicht die Augen von seiner schlanken, kraftvollen Gestalt abwenden. Als er schließlich in der Suite verschwunden war, seufzte sie und zog den Bademantel enger. Mittlerweile regnete es nicht mehr, und die Wolken hatten sich aufgelöst. Über ihr funkelten die Sterne. Für einen Moment kam es Gracie vor, als wäre das Unwetter nur die Verkörperung ihrer wilden Leidenschaft gewesen.

Und jetzt war der Sturm vorüber.

Um sich herum sah sie die Überreste ihrer Lust. Im Pool schimmerte ihr Kleid wie eine exotische Wasserpflanze, auf der Oberfläche schwamm ihr rosafarbenes Höschen, zusammen mit Roccos Hemd. Seine Hose und Shorts lagen auf dem Grund des Beckens.

Gracie stöhnte auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. In der einen Minute hatte sie dort gestanden und ihm gesagt, dass sie normalerweise ganz anders war, Sekunden später riss sie ihm das Hemd vom Körper.

Er hatte recht. Das war Irrsinn. Sie zweifelte nicht daran, dass sich Rocco mit anderen Frauen wesentlich zivilisierter und beherrschter verhielt. Nicht diese chaotische Leidenschaft!

Sie hatte sein Gesicht gesehen, bevor er in den Pool gesprungen war. Er hatte ausgesehen, als würde er in seinem Inneren einen Kampf ausfechten.

In Gracie stieg eine verzweifelte Sehnsucht auf.

Sie wollte nicht, dass Rocco ihre Leidenschaft hasste – oder sie. Sie wollte eine Chance, damit er seine Meinung über sie änderte. Sie wollte ihn davon überzeugen, dass Steven und sie mehr waren als skrupellose Betrüger mit einer zweifelhaften Vergangenheit.

Als sie ein Geräusch hörte, ließ sie langsam die Hände sinken. Rocco kam zurück auf die Terrasse. Um seine Hüften hatte er ein frisches Handtuch gewickelt, mit einem anderen rieb er seine nassen Haare.

Hastig bemühte Gracie sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. Um keinen Preis durfte er von ihrer entsetzlichen Sehnsucht erfahren.

„Wie war die Dusche?“, fragte sie heiter.

„Schön.“ Er lächelte vielsagend. „Aber mit dir wäre es schöner gewesen.“

Er setzte sich zu ihr auf die Liege. Als ihr sein frischer Duft in die Nase zog, stieg wieder heiß das Verlangen in ihr auf. Doch bei dem Gedanken an ihren wilden zügellosen Sex, fühlte sie sich plötzlich schmutzig.

„Mir gefällt es hier draußen“, murmelte sie.

„Du kannst nicht die ganze Nacht hierbleiben“, erwiderte er trocken.

Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein, die Suite … das ganze Hotel … es ist alles ein bisschen furchteinflößend. Ich gehöre nicht hierher.“

Für einen Moment blieb Rocco ganz still. „Das ist Unsinn“, sagte er schließlich. „Wovon redest du?“

Sie schaute ihn an. Als sie seine gerunzelten Brauen sah, wandte sie den Blick wieder ab. „Es ist, als sollte ich nicht hier sein. Als ich neun war, haben unsere Pflegeeltern mit Steven und mir einen Ausflug zu einem Schloss gemacht. Wir mussten von London aus mit dem Zug fahren.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Das alte Herrenhaus hatte riesige Räume – so wunderschön, voller Antiquitäten und Gemälde. Irgendwann habe ich mich verlaufen. Unsere Gruppe war schon weitergangen, und ich konnte sie nicht mehr finden. Bei der Suche bin ich in einem Raum voller winziger Porzellanpuppen gelandet.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Offenbar sammelten die Besitzer diese Puppen. Ich war fasziniert und habe eine in die Hand genommen, um sie näher anzuschauen. Plötzlich hat mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt. Vor Schreck bin ich in die Luft gesprungen und habe die Puppe auf den Boden fallen lassen. Ich wollte sie aufheben, aber die Frau vor mir hat mich angeschrien, was ich dort zu suchen hätte, ich wäre ein gewöhnlicher Dieb, und ich sollte mich raus scheren.“

Gracie zitterte bei der Erinnerung. „Ich hatte so furchtbare Angst, dass ich nur gerannt und gerannt bin, bis ich schließlich meine Gruppe wiedergefunden habe. Und hier … ich warte ständig darauf, dass mir jemand eine Hand auf die Schulter legt.“

Sie brach ab und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Wieso um alles in der Welt hatte sie Rocco diese alte Geschichte erzählt? Er sah sie schweigend an. Die Dunkelheit verbarg sein Gesicht.

Gracie zuckte noch einmal mit den Schultern. „Nicht nur hier, auch auf dem Empfang, habe ich die ganze Zeit damit gerechnet, dass jemand auf mich zu kommt und fragt, was ich hier will.“

„Du hast genauso das gleiche Recht hier zu sein, wie jeder andere auch“, antwortete Rocco rau.

Gracie lächelte schmal. „Nein, eigentlich nicht. Aber lieb, dass du das sagst.“

Er stand auf und reichte ihr eine Hand. Sie erhob sich ebenfalls und wollte gerade seine Hand nehmen, dann hielt sie plötzlich inne. Er sah so verschlossen aus, aber sie wollte, dass er sie verstand. „Warte, ich muss dir noch etwas erzählen.“

Rocco ließ die Hand sinken und presste die Kiefer zusammen. „Gracie, es ist wirklich nicht nötig, dass du mir diese ganzen Geschichten erzählst.“

Sein deutliches Widerstreben verstärkte ihren Wunsch nur noch. „Das sind keine Geschichten. Und ja, ich muss sie dir erzählen.“ Bevor er widersprechen konnte, fuhr sie fort: „Steven … mein Bruder … wir sind Zwillinge.“ Sie verzog ihren Mund. „Offensichtlich keine eineiigen. Ich bin zwanzig Minuten älter – er wäre bei der Geburt fast gestorben. Als Kind war er immer klein und schmächtig, und er hatte eine dicke Brille. Ich habe mir angewöhnt, ihn vor brutalen Jungen zu beschützen. Er hat nie gelernt, mit so etwas umzugehen.“ Sie befeuchtete ihre Lippen und schüttelte den Kopf. „Er war viel zu klug, zu ruhig. Das klassische Opfer. Nach allem, was er getan hat, ist es vielleicht schwer zu glauben, aber er hat dieses Leben nie gewollt … in einer Gang zu sein, mit Drogen zu dealen.“

„Und warum hat er es dann getan?“, fragte Rocco spöttisch.

Gracie zuckte zusammen, aber sie gab nicht nach. „Sie haben ihn niedergeschlagen.“ Ihre Stimme klang erstickt. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Eines Tages wurde er so brutal zusammengeschlagen, dass er fast im Krankenhaus gelandet wäre. Sie haben ihn gebrochen. Es war einfacher für ihn, nachzugeben, als noch länger zu kämpfen. Obwohl ich alles versucht habe, um ihn aufzuhalten. Wir waren gerade mal vierzehn Jahre alt. Mit Alkohol haben sie angefangen. In wenigen Monaten war er abhängig, bald danach kamen die Drogen. Er hat die Schule abgebrochen. Aufgegeben.“

„Und selbst jetzt verteidigst du ihn noch?“ Wieder hatte seine Stimme diesen höhnischen Klang.

Gracie sah ihn an. Wie konnte sie ihm nur erklären, wie tief sie und Steven verbunden waren? Sie nickte langsam. „Ja. Ich verteidige ihn. Damit werde ich niemals aufhören. Genau, wie er mich verteidigt hat.“

Rocco runzelte die Stirn. Seine Ungeduld war nicht zu übersehen. „Was meinst du damit? Wovor hat er dich verteidigt?“

Gracie wusste, dass ihre Worte nichts ändern würden, aber sie konnte nicht mehr aufhören. „Da war dieses eine Heim – es war ein Wunder, dass Steven und ich die ganze Zeit zusammengeblieben sind.“ Sie holte tief Luft. „In diesem Heim gab es einen Mann. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt, und wenn keiner dabei war, hat er mich angefasst. Am Anfang waren es Kleinigkeiten – ein kleines Tätscheln hier, ein Kneifen dort. Aber als seine Frau nicht da war, ist er dann eines Nachts in mein Zimmer gekommen.“

Bei der Erinnerung wurde Gracie übel. Sie holte einige Male tief Luft, dann fuhr sie fort: „Er hat sich auf mein Bett gesetzt und mir erzählt, was er alles mit mir tun will. Ich war ganz allein, Steven schlief bei einem anderen Jungen im Nachbarzimmer. Ich hatte so entsetzliche Angst. Ich konnte mich nicht bewegen oder um Hilfe rufen. Gerade als er zu mir ins Bett steigen wollte, ist Steven reingekommen. Er hat kein Wort gesagt. Er hat den Mann nur angesehen, bis dieser aufgestanden und gegangen ist. Und von der Nacht an hat Steven in meinem Bett geschlafen, bis wir dieses Haus verlassen haben. Selbst als sein eigenes Leben in Trümmer brach, hat er mich nie allein gelassen. Nicht ein einziges Mal!“

Rocco betrachtete Gracies blasses Gesicht. Er spürte eine unbändige Wut – er wollte die Terrassenmöbel nehmen und durch die Gegend schleudern. Er wollte Gracie festhalten und niemals wieder loslassen.

Beim dem Gedanken an den Mann fühlte er sich, als würde er ersticken. Und ihr Bruder – was hatte er in seinem Leben durchmachen müssen. Geprügelt zu werden, bis er aus Angst bereit war, sein Leben zu vergeuden. Rocco konnte wieder sein lebhaftes, intelligentes Gesicht im Büro vor sich sehen. Er war so eifrig gewesen. Seine Begeisterung hatte Rocco tief beeindruckt. Bei Stevens Anblick hatte er jedes Mal an sich selbst und seinen eigenen Hunger nach Erfolg denken müssen.

Und doch hatte er sich umgedreht und Rocco ohne zu zögern betrogen.

Rocco hatte selbst dieselben Dinge erlebt … und Schlimmeres.

Und doch hatte er nicht nachgegeben – niemals. An diesem Gedanken klammerte er sich jetzt fest, wie ein Ertrinkender im Ozean an einem Stück Treibholz. Er konnte Gracie nicht berühren, sonst würde er endgültig die Kontrolle über seine Gefühle verlieren. Dann würde er wieder dort landen, wo er hergekommen war, in dem Leben, das er vor so vielen Jahren hinter sich zurückgelassen hatte.

Mit aller Kraft verdrängte Rocco seine Gefühle und wich vor Gracie und ihren riesigen Augen zurück.

Er hörte die Worte aus seinem eigenen Mund, aber sie klangen so fremd, als würde ein anderer sie sprechen: „Das ändert nichts an den Tatsachen. Sein letzter Betrug zeigt, dass er sich kein bisschen verändert hat. Jetzt hör bitte auf, meine Geduld noch länger zu strapazieren, und behalte diese alten Geschichten für dich.“

Während er sich umdrehte und zurück in die Suite ging, war ihm, als würde sein Herz in tausend Stücke springen.

Gracie sah ihm hinterher. Sie fühlte sich wie betäubt vor Schmerz. Grausamer hätte er sie nicht zurückweisen können. Nicht einmal mit Steven hatte sie je über diese Nacht gesprochen. All die Jahre war ihr Grauen so groß gewesen, dass sie nicht einmal darüber nachdenken konnte. Es war ihr ganz leicht gefallen, Rocco davon zu erzählen. Doch jetzt zahlte sie den Preis dafür.

In diesem Moment wurde ihr klar, warum sie ihm so freimütig all diese Dinge von sich erzählte.

Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben.

Stunden später wälzte Rocco sich immer noch ruhelos in seinem Bett hin und her. Das war keine große Überraschung, aber er hatte nicht mit dem Schmerz in seinem Inneren gerechnet. Er konnte den leeren Platz in seinem Bett nicht mehr länger ertragen. Er fluchte leise, dann schlug er die Decke zurück und stand auf.

Aber so sehr er Gracie auch verfluchte – sich selbst verfluchte er noch mehr.

Er konnte das Bild von Gracie und Steven, wie sie klein und verloren nebeneinanderstanden, nicht aus seinem Kopf vertreiben. Wie verängstigt Steven schon damals ausgesehen hatte. Gegen ihren Bruder hatte Gracie noch stärker gewirkt. Wie eine kleine Kriegerin. Rocco stellte fest, dass er eifersüchtig war – auf ihren Bruder.

Sie liebte ihn so sehr. Nichts konnte ihre Verbindung zerstören.

Als er ihr die grausamen Worte an den Kopf geworfen hatte, war das einfacher gewesen, als sich seinen Gefühlen zu stellen. Aber so konnte er nicht weitermachen. Rocco war, als würde ihm ein Körperteil fehlen.

Als er auf die Terrasse ging, sah er im Mondlicht Gracies zusammengerollten Körper auf einer Liege. Bei ihrem Anblick krampfte sich seine Brust schmerzhaft zusammen. „Verflucht!“, murmelte er.

Neben ihr lag fein säuberlich zusammengefaltet ihre Kleidung. Ihr Gesicht war entspannt, und die roten Locken leuchteten selbst im schwachen Mondlicht auf dem hellen Polster. Die Beine hatte sie hochgezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Wieder dachte er daran, wie ihr Bruder sie beschützt hatte. Selbst darauf war er eifersüchtig.

Der Drang, sich einfach umzudrehen und wegzugehen, wurde fast übermächtig, doch er blieb. Als er sich bückte und sie auf seine starken Arme hob, erwachte sie.

„Nein!“ Im Halbschlaf versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien.

Er legte sie zurück auf die Liege und setzte sich zu ihr. „Das reicht. Du hast deinen Standpunkt klargemacht und ich meinen.“ Als er in ihre riesigen Augen blickte, wurde seine Kehle eng. „Ich … Es tut mir leid, dass ich so schroff war.“ Er wollte sie einfach in seine Arme nehmen und ihr versichern, dass er sie für immer beschützen würde. Aber er musste stark bleiben. „Ganz gleich, wie viele Geschichten du mir noch erzählst, wird das nichts an der Situation ändern. Steven hat mir eine Million gestohlen, das kannst du weder wegreden noch entschuldigen.“

Gracie legte die Hände auf seine Brust. „Heißt das, dich interessiert nicht, was ich dir von mir erzähle?“

Rocco nahm seine ganze Kraft zusammen, um gegen Gracies Wirkung anzukämpfen. „Mich interessiert nicht, warum dein Bruder seine Verbrechen begangen hat. Mich interessieren nur Tatsachen, und Tatsache ist, dass dein Bruder mir eine Million Euro gestohlen hat.“ Er fühlte sich so unbarmherzig wie noch nie in seinem Leben. „Du dagegen interessierst mich sehr wohl, aber ich möchte nicht weiter über deinen Bruder oder deine Vergangenheit reden. Können wir uns darauf einigen?“

Mittlerweile war Gracie hellwach. Rocco wünschte sich verzweifelt, dass sie zustimmte. Sie spürte es so deutlich, als hätte er es laut ausgesprochen.

Obwohl er sie zurückgewiesen und so sehr verletzt hatte, wollte sie diesen Mann mit jeder Faser. Gleichzeitig schämte sie sich für die Tiefe ihrer Sehnsucht. Sie wollte ihn abweisen, ihm denselben Schmerz zufügen wie er ihr. Aber sie konnte es nicht.

Sie nickte. „Abgemacht.“ Wenigstens ließ er sich nicht den geringsten Triumph anmerken.

Ohne ein weiteres Wort nahm er sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer.

Zwei Tage später landeten sie in New York. Einen größeren Unterschied zu Bangkok konnte Gracie sich kaum vorstellen. So weit ihr Blick reichte, sah sie unter ihnen nur ein Meer grauer Häuser, ganz anders als die grünen Felder Thailands.

Auf der anderen Gangseite saß Rocco und arbeitete konzentriert. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet.

Seit der Nacht am Pool hielt ihr Waffenstillstand. Beide achteten sorgsam darauf, nur über neutrale Themen zu reden. Rocco hatte sich sogar trotz seiner Meetings die Zeit genommen, mit Gracie einige der atemberaubenden Sehenswürdigkeiten in Bangkok zu besuchen. Während sie ehrfürchtig die prächtigen Tempel und kunstvollen Gärten bewunderte, hatte er nur Augen für Gracie.

Aber das Schönste hatte er sich bis zum Schluss aufgespart. In ihrem ganzen Leben würde sie nicht den letzten Morgen vor ihrer Abreise vergessen. Rocco hatte sie im Morgengrauen geweckt. Er war bereits geduscht und angezogen. Wie jeder andere Tourist trug er nur Shorts und ein leichtes T-Shirt.

Draußen vor dem Hotel wartete zu Gracies Entzücken nicht ihre Limousine, sondern ein Tuk-Tuk auf sie und brachte sie zu einem der schwimmenden Märkte. Unzählige Boote mit den verschiedensten Waren trieben aneinander gedrängt auf dem Wasser. Mönche in leuchtend orangefarbenen Roben empfingen gerade die Spenden der Einheimischen. Um diese frühe Uhrzeit waren die üblichen Touristenscharen noch nicht eingetroffen. Gracie und Rocco stiegen in ein Boot um und glitten durch das bunte Treiben.

Noch immer musste sie schmunzeln, wenn sie an die halsbrecherische Tuk-Tuk-Fahrt zurück zum Hotel dachte.

In diesem Moment sah Rocco von seinen Papieren auf. „Woran denkst du?“, fragte er leise.

Dass ich dabei bin, mich in dich zu verlieben, antwortete sie im Stillen. Aber das konnte sie ihm nicht sagen. Das durfte sie nicht einmal denken. Vielleicht geht das Gefühl ja einfach von ganz alleine wieder weg, wenn ich mich mit anderen Gedanken ablenke, überlegte sie schwach.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe gerade daran gedacht, dass deine anderen Begleiterinnen bestimmt nicht halb so viel Spaß an einer Tuk-Tuk-Fahrt hatten wie ich“, antwortete sie leichthin.

Rocco zögerte einen Moment. „Du bist die erste Frau, die ich nach Bangkok mitgenommen habe.“ Er klang selbst fast ein bisschen überrascht.

Gracies Herz setzte einen Schlag aus. „Aber bestimmt hast du sie mit nach New York genommen.“

Rocco sah sie an, als wollte er sie davor warnen, das heikle Thema weiter zu verfolgen. „Natürlich habe ich Frauen mit nach New York gebracht“, erwiderte er kühl. „Hier bin ich wesentlich öfter als in Bangkok.“ Er sah zurück auf seine Papiere.

Seit Stunden gab er jetzt vor zu arbeiten. Dabei achtete er doch nur auf jede Bewegung von Gracie. Bei der Vorstellung von einer seiner früheren Geliebten in einem Tuk-Tuk wäre er fast in schallendes Gelächter ausgebrochen. Selbst für Geld hätten sie keinen Fuß in so ein Gefährt gesetzt.

Er dachte an Gracies Begeisterung, als sie durch den chaotischen Verkehr gebraust waren. Sie hatte die Fahrt genauso genossen wie er. Rocco konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er sich zum letzten Mal die Zeit für eine Tour durch die Stadt genommen hatte. Oder überhaupt an irgendeinem Ort einfach nur Spaß gehabt hatte. Nie! gestand er sich ein.

Zufrieden begrüßte er den Anblick der New Yorker Skyline. In dieser Stadt würde er sich in Gracies Gegenwart bestimmt sicherer fühlen. Falls nicht, würde er sie auf Abstand halten. Bangkok war ein Fehler gewesen!

Allein der Gedanke an Gracies Sprung in den Pool brachte sein Blut zum Kochen. Er unterdrückte einen Fluch und versuchte, die Seite vor sich zu lesen, aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, als wollten sie ihn verspotten.

Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt, bemerkte Gracie deutlich, wie distanziert Rocco plötzlich war. Er verhielt sich geschäftsmäßiger als je zuvor, aber sie ließ sich davon nicht die Stimmung verderben.

Mit großen Augen sah sie aus dem Fenster und bewunderte die berühmte Skyline. Als sie die Fifth Avenue erreichten, bestaunte sie die Namen weltbekannter Designer über prächtigen Schaufenstern, dann tauchten die grünen Bäume des Central Parks auf. Auf Höhe des Parks hielt ihr Taxi vor einem prächtigen Art-déco-Haus mit einer riesigen Markise über dem Eingang.

Ein lächelnder Portier öffnete Gracie die Autotür. „Herzlich willkommen, Mr de Marco“, begrüßte er dann Rocco. „Sie haben uns viel zu lange nicht mit Ihrem Besuch beehrt.“

In der kühlen Eingangshalle wartete der Liftboy schon neben den geöffneten Aufzugtüren. Nach einer sanften Fahrt aufwärts hielt der Lift, die Türen gingen auf und Gracie trat in den privaten Flur, der sie zu Roccos Penthouse führte.

Sie hatte geglaubt, dass sie nach Bangkok nichts mehr verwundern würde, aber so einen Prunk und Luxus hätte sie sich selbst in ihren wildesten Träumen nicht vorstellen können.

Alles hier war cremefarben und golden. Die Teppiche waren so dick, dass ihre Füße darin versanken. Abstrakte Ölgemälde an den Wänden zeigten Roccos Vorliebe, Altes mit Neuem zu mischen. Auf den riesigen cremefarbenen Sofas waren weiche Kissen verteilt.

Gracie folgte Rocco wie betäubt durch die Wohnung. Sie wagte kaum zu atmen. Er öffnete zwei Glastüren zu einer enormen begrünten Terrasse, und Gracie trat hinaus in die Morgensonne.

Rocco hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schien auf ihre Reaktion zu warten.

Sie sah sich demonstrativ um. „Wo ist der Pool?“

Rocco wedelte mit der Hand. „Unten, im Fitnessstudio.“

„Oh.“

„Es ist nett, nicht wahr?“, sagte er. „Und die Wohnung hat Blick über den Park.“

Gracie fühlte sich ernsthaft überwältigt. Langsam ging sie zu der steinernen Brüstung. Ihr zu Füßen erstreckte sich einer der berühmtesten Parks der Welt. In der Mitte entdeckte sie sogar einen See. Die Menschen unten auf den Straßen sahen so klein wie Ameisen aus. „Ich bin überrascht, dass du nicht das höchste Gebäude der Stadt gewählt hast“, scherzte sie schwach.

Sie sah ihn nicht an, daher bemerkte sie nicht, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. „Ich habe darüber nachgedacht, aber die Upper East Side ist nun mal die beste Adresse der Stadt“, erwiderte er leichthin. Er blickte auf seine Uhr. „Ich muss jetzt gehen, ich habe den ganzen Tag lang Termine.“

Sie nickte. „Kein Problem, ich werde einfach … mich hier ein bisschen einleben …“

Rocco nahm etwas aus seiner Tasche und reichte es ihr. „Hier. Geh ein bisschen shoppen.“

Ganz automatisch nahm Gracie die Kreditkarte und starrte sie an. Sie bekam kaum mit, dass Rocco noch einige Geldscheine aus der Tasche zog und auf den Tisch legte. „Du wirst auch Bargeld brauchen, für die Taxis. Ich sage Ruben unten Bescheid, damit er dir einen Stadtplan besorgt und auch ein paar Tipps zum Einkaufen gibt. Heute Abend haben wir einen Empfang. Wir sehen uns dann wieder hier um sechs … okay?“

Gracie spürte seine Ungeduld. Offenbar konnte er es kaum erwarten zu gehen. Immer noch ganz betäubt, nickte sie. „In Ordnung. Bis später.“

Für einen Moment sah er sie an, als wollte er noch etwas sagen. Doch dann drehte er sich um und verließ das Appartement. Einige Sekunden später kam eine Frau herein. Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und stellte sich als Consuela vor, Roccos Haushälterin.

Gracie schüttelte ihre Hand. Ganz offensichtlich war die Frau ein großer Fan von Rocco. Consuela bestand darauf, Gracie durch die ganze Wohnung zu führen. Stolz zeigte sie ihr die vier Schlafzimmer mit eigenem Bad, zwei Esszimmer, einen Wohnraum, einen Empfangssalon, Fitnessstudio, Pool, Sauna, die gigantische Küche und noch zwei weitere Badezimmer.

In Gracies Kopf drehte sich alles, als wäre sie zu schnell Karussell gefahren. Sie war froh, als Consuela sie allein ließ, um sich an die Arbeit zu machen. Während Gracie ihre Taschen auspackte, überlegte sie, was sie heute unternehmen sollte. Auf jeden Fall würde sie versuchen, wenigstens fünf Minuten lang nicht an Rocco zu denken. Und sie würde ein Internetcafé suchen und nachschauen, ob Steven ihr eine E-Mail geschickt hatte.

Zur Mittagszeit kam Rocco zurück in die Wohnung. Er verfluchte sich selbst für seine Schwäche, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass Gracie nicht zu Hause sein würde. Consuela teilte ihm mit, dass sie schon vor einigen Stunden das Haus verlassen hatte.

Er sah in der ganzen Wohnung nach, aber sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Er fluchte leise. Warum sollte sie ihm eine Nachricht schreiben?

Gründlich verärgert, wollte er gerade wieder gehen, als er etwas auf einer der Kommoden entdeckte. Seine Kreditkarte. Von den Geldscheinen fehlten genau zwanzig Dollar. Gerade genug für eine Taxifahrt in die Innenstadt.

Rocco lachte auf. Hatte er wirklich erwartet, Gracie würde seine Kreditkarte nehmen und direkt in die nächste Designerboutique stürmen? Die Frau, die in Bangkok eigenhändig ihren Diamantschmuck zurück in die Hotelboutique gebracht hatte?

Jetzt war seine Stimmung noch um einige Grade gesunken. Er steckte die Karte ein, ließ das Bargeld liegen und ging. Es war eine dumme Idee gewesen, noch einmal in die Wohnung zu kommen.

Als er wieder in seinem Wagen saß, wurde ihm plötzlich eiskalt. Er hatte sie gehen lassen! Wieso hatte er nicht eher daran gedacht? Nicht erst hier, sondern schon in Bangkok hatte er sie sich selbst überlassen. Jeden Moment – zum Beispiel gerade jetzt – konnte sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Der Gedanke machte ihn äußerst nervös. Zu seinem großen Ärger konnte er sich für den Rest des Tages auf nichts anderes mehr konzentrieren. Erst als er einen Anruf der Concierge erhalten hatte, dass Gracie zurückgekommen war, konnte er wieder freier atmen. Doch er freute sich nicht über seine unendliche Erleichterung.