Als Gracie am späten Nachmittag zurückkehrte, war sie erschöpft, aber glücklich. Na ja – sie schnitt ihrem verschwitzten Gesicht im Garderobenspiegel eine Grimasse – vielleicht nicht direkt glücklich.
Glücklich wäre sie, wenn sie zusammen mit Rocco auf das Empire State Building gestiegen wäre, und sie wäre noch glücklicher, wenn sie ihr Sandwich im Central Park nicht allein gegessen hätte.
Und sogar noch glücklicher, wenn sie eine Nachricht von Steven in ihrer Mail gefunden hätte. Sorgenvoll biss sie auf ihre Unterlippe. Trotzdem hatte sie ihm eine Nachricht an seine E-Mail-Adresse geschickt. Sie glaubte nicht ernsthaft daran, aber vielleicht würde er ihr ja doch antworten.
Sie seufzte und ging hinaus, um den Ausblick über den Park zu genießen. Es gab keinen Grund, enttäuscht zu sein. Oder hatte sie wirklich erwartet, dass Rocco die ganze Zeit ihre Hand halten und wieder wunderbare Ausflüge mit ihr unternehmen würde? Dass er in Bangkok so aufmerksam und nett gewesen war, hatte nicht das Geringste zu bedeuten. Je eher sie das begriff, umso besser.
Sie lehnte sich an die steinerne Brüstung und sah hinab. Spöttisch lächelte sie über sich selbst. Dies war seine normale Welt. Er überließ seiner jeweils aktuellen Geliebten seine Kreditkarte, damit sie den ganzen Tag lang shoppen ging und sich abends aufgeputzt wie ein Pfau an seiner Seite präsentieren konnte.
„Du hast meine Kreditkarte nicht genommen.“
Gracie quiekte vor Schreck auf und wirbelte herum. Ihr Herz hämmerte wild, als sie Rocco sah. Er lehnte lässig im Türrahmen und sah atemberaubend aus.
„Du hast mir einen Schrecken eingejagt! Ich hatte gar nicht gehört, dass du nach Hause gekommen bist.“
Langsam kam er näher. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Gracie Angst machte. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß. „Nein. Ich habe die Karte nicht genommen. Wieso sollte ich? Ich brauche nichts. Du hast mir genug Sachen für ein Dutzend Reisen gekauft.“
Seine Miene war kalt und hart. Er stemmte seine Hände rechts und links von ihrem Kopf gegen die Wand. Sie schloss die Augen und kämpfte gegen ihr aufsteigendes Verlangen an.
„Du begreifst es einfach nicht!“, rief Rocco ärgerlich. „Du solltest einkaufen gehen! Also erzähl mir, was du stattdessen gemacht hast.“
Wut schoss in Gracie hoch. „Zu deiner Information, ich habe mir zwanzig Dollar geliehen und bin in die Innenstadt gefahren.“ Ihre Stimme klang so hart wie seine. „Dort habe ich Geld von meinem eigenen Konto abgehoben. Dann habe ich zwei Stunden lang in der Schlange vor dem Empire State Building gestanden, bis ich schließlich raufgefahren bin. Danach bin ich zum Central Park gelaufen, habe ein Sandwich gekauft und gegessen. War das in Ordnung?“
Sie hatte ein leises Schuldgefühl, weil sie das Internetcafé nicht erwähnt hatte, aber damit würde sie warten, bis sich Roccos Laune gebessert hatte.
„Nein, verflucht! Das ist nicht in Ordnung.“ Er neigte seinen Kopf und küsste sie, aber seinen Lippen fehlte jede Weichheit und Wärme. Versuchte er, seinen Ärger an ihr auszulassen, weil sie anders als seine üblichen Frauen war?
Sie wollte ihm widerstehen, aber sie schaffte es nicht. Wenigstens das war ehrlich zwischen ihnen. Sie vergrub ihre Finger in seinem Haar und presste ihre Hüften an seinen Körper. Mit zitternden Händen löste sie seine Krawatte und knöpfte sein Hemd auf.
„Ich habe dich heute vermisst“, flüsterte sie, ohne nachzudenken.
In seinen Augen flackerte etwas auf, dann verdunkelte sich sein Blick. „Sag so etwas nicht. Ich will es nicht hören.“
„Pech gehabt!“, antwortete Gracie stur. „Ich habe dich vermisst, und jetzt habe ich es schon wieder gesagt.“
Rocco brachte sie mit seinen Lippen zum Schweigen. Dann hob er sie auf und brachte sie ins Schlafzimmer.
„Und wer ist Ihre Begleitung?“
Gracie schenkte der blutleer wirkenden Frau ein schwaches Lächeln. Sie konnte alles zwischen vierzig und fünfundsechzig sein. Ihr maskenhaft wirkendes Gesicht musste sie ein kleines Vermögen gekostet haben.
„Gracie O’Brian“, murmelte Rocco neben ihr.
Die Frau musterte sie geringschätzig von oben bis unten. „Ah ja. Mit dem roten Haar und der blassen Haut, hatte ich mir schon gedacht, dass Sie Irin sind.“
Gracie lächelte freundlich. „Meine Mutter war Engländerin, aber ja, mein Vater war Ire.“
Die Frau hob ihre Brauen und musterte Gracie, als hätte sie nicht erwartet, dass sie etwas sagen würde. „Ah ja.“ Offensichtlich gelangweilt, wendete sie sich ab und nahm Roccos Arm. „Mein lieber Rocco, jetzt müssen Sie mir aber alles über Bangkok erzählen! Ich kann nicht abwarten, von Ihrem Geschäft mit der Larrimar Corporation zu hören.“
Geübt wollte sie Rocco von Gracie fortführen, aber er bewegte sich keinen Schritt, sodass sie ebenfalls stehen bleiben musste. Er lächelte die Frau an, aber Gracie erschauerte. Dieses Lächeln hatte sie oft genug gesehen. Sie war froh, dass es ausnahmsweise nicht ihr galt.
Er befreite seinen Arm aus dem festen Griff und nahm Gracies Hand. Er sagte kein Wort, doch seine Geste ließ keinen Zweifel daran, dass Gracie nicht ignoriert werden durfte.
Gracies Herz hüpfte fröhlich. Amüsiert sah sie zu, wie die Frau weiterhin versuchte, sie abzudrängen, aber Rocco zog sie nur noch enger an seine Seite.
Bald hörte sie den beiden nicht mehr zu. Es war viel spannender, die Leute zu beobachten. Auf einer Seite des prunkvollen Saals waren zahlreiche Türen zu einem breiten Balkon geöffnet. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, frische Luft zu schnappen.
Sie wollte ihren Arm befreien, aber Rocco hielt sie mit eisernem Griff fest. Sie stieß ihm ihren Ellenbogen in die Rippen. „Ich gehe für ein paar Minuten nach draußen.“
Widerstrebend ließ er sie schließlich los. Er sah ihr nach, wie sie durch die Menge davonging. Ihr Haar glühte wie ein Leuchtfeuer und zog die Blicke auf sich. Es schien sie nicht zu kümmern, dass einige der Anwesenden zu den reichsten Leuten in Manhattan gehörten.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen hier im Saal, wirkte Gracie unglaublich strahlend und lebendig. Wieso fiel ihm das erst jetzt auf?
Aber hatte nicht genau diese Ausstrahlung bei ihrer ersten Begegnung dafür gesorgt, dass er auf sie aufmerksam geworden war?
„Sie ist anders.“
Rocco schnellte herum. Hatte er etwa laut gedacht? „Entschuldigen Sie?“
„Ich sagte, sie ist anders“, wiederholte Helena Thackerey.
Rocco bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. „Das stimmt. Aber unsere Beziehung ist nicht anders als alle anderen vor ihr.“
Die ältere Frau schnaubte. Für einen Moment sah sie fast menschlich aus. „Das können Sie jemand anderem erzählen, Rocco. Ich nehme Ihnen das jedenfalls nicht ab.“ Sie beugte sich vor. „Ich mag sie. Sie hat Feuer. Ganz anders als die langweiligen Frauen, die Sie sonst immer begleiten.“
Gracie bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Endlich hatte sie es bis zur Terrasse geschafft. Sie nahm sich ein Glas Wasser von einem Tablett und bewunderte den Blick über das nächtliche New York. Sie reckte sich ein wenig höher, um noch weiter zu sehen.
„Dort links liegt Harlem.“
Die dunkle Stimme hinter ihr sandte einen Schauer über ihre Haut. Rocco trat noch einen Schritt näher, sodass ihr Rücken an seiner Brust lehnte. Sie konnte spüren, wie sehr ihre Nähe ihn erregte. Sie lehnte ihren Kopf zurück. „Du bist unersättlich“, flüsterte sie atemlos.
Er legte seinen Arm um ihren Bauch und zog sie noch näher an sich. „Lass uns verschwinden. Für einen Abend habe ich genug von New Yorks Reichen und Mächtigen.“
Gracie drehte sich in seinen Armen, sah zu ihm auf und verdrehte übertrieben die Augen. „Ich auch. Und diesen Blick über New York bin ich ja so leid!“
Rocco unterdrückte ein Lachen.
Sie liebte es, wie sie ihn zum Lachen bringen konnte. Und sie hasste, dass sie es so sehr liebte.
Zurück in ihrem Appartement, sah Gracie zu, wie Rocco sein Jackett auszog, die Krawatte löste und sein Hemd aufknöpfte. Bei dem Anblick zitterte sie vor Erwartung. Langsam kam er näher und küsste sie ganz zart auf ihre Lippen.
Ich will mehr von ihm als Sex! dachte Gracie.
Als er sich wieder von ihr löste, fragte sie ihn sanft: „Wie kannst du solche Leute die ganze Zeit ertragen?“
„Was meinst du damit?“
„Na ja … wie diese Frau. Sie war so unhöflich.“ Gracie errötete. „Und Honora Winthrop war auch unhöflich.“
Rocco trat einen Schritt zurück. Gracie konnte spüren, wie angespannt er plötzlich war. „Helena ist gar nicht so schlimm“, erwiderte er. „Sie bellt, aber sie beißt nur selten. Sie war eine von den ganz wenigen, die mir geholfen haben, als ich noch keine Ahnung vom Geschäft hatte.“
Gracie runzelte die Stirn. Sie konnte sich Rocco beim besten Willen nicht als unwissenden Anfänger vorstellen.
Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Du hast ihr gefallen. Sie hat gesagt, du hättest Feuer.“
Gracie lächelte zögernd. „Also gut, vielleicht habe ich sie falsch eingeschätzt. Aber in Bezug auf Honora habe ich mich ganz bestimmt nicht geirrt.“
Rocco wurde wieder ernst. „Nein. Sie ist durch und durch ein Biest.“
„Ich verstehe einfach nicht, wie du jemals auch nur daran denken konntest, sie zu heiraten.“
Rocco schwieg und überlegte, wie er Gracie seine Motive erklären sollte. Sie würde nie verstehen, dass er nicht aus Liebe heiraten wollte. Schließlich deutete er in einer ausholenden Geste zum Park. „Dafür. Um wirklich erfolgreich zu sein, musst du in dieser Welt akzeptiert werden, und das kann jemand wie ich nur durch die passende Heirat erreichen.“
„Was meinst du damit: jemand wie du?“, fragte Gracie leise. „Kommst du denn nicht auch aus dieser Welt?“
Er schüttelte den Kopf und zeigte auf das Pflaster unten auf der Straße. „Daher komme ich.“ Seine Stimme klang gepresst. „Genau wie du.“
Plötzlich machte alles Sinn. „Genau wie ich?“, fragte sie atemlos. „Du meinst doch nicht etwa, dass du …“ Sie brach ab.
Seine Augen schimmerten dunkel. „Dass ich auf der Straße groß geworden bin? Im übelsten Teil der Stadt ums Überleben gekämpft habe? Ganz genau das meine ich.“
Er sah zur Seite und fluchte wüst auf Italienisch. Erst jetzt fiel Gracie auf, dass sie ihn zum ersten Mal in seiner Muttersprache reden hörte.
„Ich will nicht länger darüber sprechen“, sagte er schließlich.
„Warum nicht?“, fragte sie. Ich werde nicht mehr lange hier sein, wollte sie ergänzen, aber es tat zu weh.
Rocco starrte in den dunklen Park, als wären dort Antworten verborgen. Dann begann er leise zu reden. Er erzählte Gracie, wie er in einer der ärmsten Städte Italiens aufgewachsen war, er erzählte von seiner Mutter, einer Edelprostituierten – so hatte sie seinen Vater kennengelernt, einen der reichsten Männer der Stadt.
„Meine Mutter hat jeden Cent für ihren steigenden Drogenkonsum ausgegeben. Sie hatte meinen Vater ganz bewusst ausgewählt, um sich durch mich eine Zukunft zu schaffen. Sie war sogar schlau genug, einige Haare von ihm zu sammeln, damit sie sofort nach meiner Geburt einen Vaterschaftstest machen lassen konnte. Aber mein Vater wollte nichts von mir wissen. Er hatte zwei Töchter, und außerdem war er größenwahnsinnig. Ein Sohn passte nicht in seine Welt. Erst recht kein Sohn von einer Prostituierten.“
Gracie sah, wie er seine Hände zu Fäusten ballte.
„Du kannst dir nicht einmal vorstellen, wie ich gelebt habe. Der ständige Lärm, auf den Straßen die Kämpfe von rivalisierenden Gangsterbanden, Schlägereien, Morde und Drogenhandel fanden überall statt, Tag und Nacht. Eine Zeit lang musste ich für eine Gang Schmiere stehen.“ Er verzog bitter den Mund. „Die Polizei brauchten wir gar nicht erst zu rufen, sie wäre sowieso nie gekommen. Genauso wenig wie das Jugendamt oder das Sozialamt. Solange ich denken kann, habe ich diese allgegenwärtige Brutalität gehasst. Ich habe jeden Tag mit angesehen, wie Chaos und Zerstörung über Vernunft gesiegt haben. Meine Mutter ist von einer leidenschaftlichen, zerstörerischen Affäre in die nächste gerutscht, während ich mich nur nach einer anderen Welt gesehnt habe – einer Welt ohne Chaos und Drama und ständiger Gefahr.“
Gracie konnte kaum atmen. „Was ist aus deiner Mutter geworden?“, brachte sie heraus.
„Als ich siebzehn war, habe ich sie tot mit einer Nadel im Arm gefunden.“
Gracie legte eine Hand auf seinen Arm. „Oh, Rocco …“
Er schüttelte ihre Hand ab und funkelte sie an. „Ich erzähle dir das nicht, damit du mich bemitleidest. Ich brauche kein Mitleid. Ich habe es nie gebraucht. Sie hat mich nicht geliebt, dazu war sie viel zu verliebt in ihren nächsten Schuss oder einen reichen Gönner.“
Gracie schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter. „Es tut mir leid.“
Er wandte sich ab, und sie schlang ihre Arme um sich, als wollte sie sich festhalten.
„Eines Tages habe ich meinen Vater vor seinem Palazzo angesprochen und ihm gesagt, dass ich sein Sohn bin. Ich wusste, wo er lebt. Meine Mutter hatte mir oft genug sein Haus gezeigt. Er hat mich angespuckt, auf den Boden geworfen und ist über mich hinweg gestiegen, als wäre ich ein Stück Dreck. Meine beiden Halbschwestern waren bei ihm. Obwohl sie gehört haben, wie ich ihn Vater genannt habe, haben sie mich nicht einmal angesehen. Ich habe sie so um ihre Sicherheit beneidet, um ihren Reichtum, der sie vor allem beschützt hat.“
Bei seinem Lächeln wurde Gracie eiskalt.
„Kaum waren sie außer Sicht, haben mich seine Leute so zusammengeschlagen, dass ich im Krankenhaus gelandet bin. Er muss ihnen ein Zeichen gegeben haben. Es sollte eine Warnung sein. Ich habe nie mehr versucht, ihn wiederzusehen. Damals habe ich mir geschworen, dass ich trotz allem meinen Platz in dieser Welt erobern und ihm dann noch einmal in die Augen sehen würde.“
Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass seine Wangenmuskeln hervortraten. In dem schwachen Licht sah sie die helle Narbe auf seiner Wange. Sie konnte sich dieses letzte Treffen von Vater und Sohn ganz genau vorstellen.
Sie sehnte sich danach, Rocco zu berühren, um seinen Schmerz zu lindern. Aber er war wie ein wildes, verletztes Tier. „Die Narbe auf deiner Schulter … war das eine Tätowierung?“
Er nickte. „Ein Zeichen der Gangmitglieder. Sobald ich in London angekommen bin, habe ich es entfernen lassen.“
„Darum sprichst du nie Italienisch“, murmelte Gracie. „Du hasst jede Erinnerung an die damalige Zeit.“
Rocco wandte ihr den Rücken zu. „Geh, Gracie … ich möchte jetzt allein sein.“
Gracie spürte seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. Sie blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten. Obwohl sie sich nur danach sehnte, ihn zu trösten, ging sie langsam zurück ins Appartement. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Noch immer stand Rocco mit gesenktem Kopf an der Brüstung. Er sah unendlich einsam aus. Plötzlich wurde ihr klar, dass er sein Leben lang einsam gewesen war. Er hatte die ganze Welt bekämpft und sich gleichzeitig verzweifelt gewünscht, dazuzugehören.
Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Sie streifte ihre Schuhe ab und ging zu ihm zurück. Schweigend schlüpfte sie unter seinem Arm durch, sodass sie zwischen ihm und der steinernen Brüstung stand. Sie sah ihm ins Gesicht. „Nein. Ich werde nicht gehen. Weil ich denke, dass du gar nicht allein sein willst.“ Sie hob ihre Hand und legte sie an seine harte Wange. „Ich will dich, Rocco. So sehr.“
Als sie schon glaubte, sie könnte die Spannung nicht mehr länger aushalten, legte Rocco seine Arme um sie. „Verflucht!“, stieß er heiser aus, dann presste er sie so fest an sich, dass sie fürchtete, ihre Rippen würden brechen. Aber sie biss sich auf die Lippen und gab keinen Laut von sich. Sie wollte für ihn da sein und ihm geben, was immer er von ihr annehmen würde.
Und sie gab ihm – immer und immer wieder. Seine Küsse waren brutal und erregend. In ihrer verzweifelten Eile zerrissen sie sich gegenseitig ihre Kleidung. Er liebte sie mit all seiner ungezähmten Wildheit, aber auch mit der ganzen Härte seiner tief sitzenden Wut.
Nachher hob sie den Kopf und sah ihn an. „Rocco?“
Er rührte sich nicht, aber an seinem unregelmäßigen Atem erkannte sie, dass er wach war.
Dann legte er einen Arm über sein Gesicht. „Ich kann dich nicht ansehen … Ich bin wie ein Tier über dich hergefallen.“
Sanft aber entschlossen zog Gracie seinen Arm fort. Sie schob sich über seinen Körper und legte die Hände an seine Wangen. „Rocco de Marco, sieh mich an!“
Er öffnete die Augen. Sie sah so tiefe Scham, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. „Es geht mir gut, Rocco. Es hat mir gefallen.“ Sie presste Küsse auf seinen Mund, sein Kinn und seinen Hals.
Rocco umfasste ihre Oberarme, schob sie zurück und stand auf. Im dämmrigen Licht konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. „Versuch, ein bisschen zu schlafen, Gracie. Morgen Mittag reisen wir ab.“
Noch nie war Rocco etwas so schwer gefallen, wie Gracie jetzt allein zu lassen. Er ging direkt hinunter zum Pool und tauchte mit einem Sprung ins Wasser. Während er mit kraftvollen Zügen durch das Becken schwamm, hörte er immer wieder Gracies Stimme: Es geht mir gut, Rocco. Es hat mir gefallen.
Sie hatte zu viel gesehen. War ihm zu nah gekommen. Er hatte noch nie jemandem von seiner Vergangenheit erzählt. Doch bei ihr vergaß er alle Vorsicht. Er brauchte nur eine winzige Ermunterung, und schon breitete er all seine Geheimnisse vor ihr aus.
Gracie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, sondern ihn angenommen, wie er war. Sie verzieh ihm nicht nur, wie brutal er sie geliebt hatte, sie hatte ihn sogar noch ermutigt. Jetzt spürte er einen ganz neuen Frieden in sich.
Rocco schwamm schneller. Vielleicht würde körperliche Erschöpfung seine aufgewühlten Gefühle betäuben. Sie waren nicht dunkel und bitter, wie er es gewohnt war. Gerade darum waren sie viel gefährlicher als alles, was er jemals empfunden hatte.
Und doch bereute er kein Wort, das er ihr gesagt hatte.
Gracie fühlte sich, als wäre in der letzten Nacht ein Wirbelsturm über sie hinweggebraust. Nachdem Rocco sie allein gelassen hatte, hatte sie sich den Rest der Nacht nur schlaflos im Bett gewälzt. Irgendwann gegen Morgen war sie dann doch in einen unruhigen Schlummer gefallen und erst viel zu spät aufgewacht. Consuela hatte ihr mitgeteilt, dass Rocco ins Büro gefahren war.
Sie schaltete das Fernsehen ein, um Nachrichten zu schauen, aber ihre Gedanken glitten immer wieder ab. Als sie ein Geräusch hörte, schaute sie auf. Rocco stand in der Tür und wirkte erschreckend streng und ernst.
Gracie biss sich auf die Lippen. Sie brauchte sich nicht länger zu fragen, wie sie zueinander standen. Die Antwort stand Rocco ins Gesicht geschrieben: ablehnend.
Wieso überrascht mich das? fragte sie sich. Damit hätte sie rechnen müssen.
Sie hatte ihn zu sehr gedrängt. Er würde ihr nie vergeben, was er ihr alles anvertraut hatte. Das ließ sein Stolz nicht zu.
Langsam stand sie auf. Obwohl sie innerlich bebte, bemühte sie sich, so kühl zu wirken wie er. „Ich bin fertig. Von mir aus können wir gehen.“
Rocco hielt ein Blatt in der Hand. „Möchtest du mir das vielleicht erklären?“
Gracie runzelte die Stirn. „Was ist das?“
Rocco hob es hoch und begann mit ausdrucksloser Stimme zu lesen: „Steven, wo bist du? Geht es dir gut? Ich muss wissen, dass es dir gut geht! Bitte, lass mich wissen, wo du bist. Schick mir eine Nummer, unter der ich dich anrufen kann. Wir müssen reden – ich kann dir helfen.“
Gracie wurde blass. „Wo hast du das her?“
„Das ist seine Büro-Mailadresse!“, stieß er aus. „Natürlich lasse ich sein Postfach überwachen.“
Gracie hob ihr Kinn. Es gab überhaupt keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Aber trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. „Ich habe dir gestern nichts davon erzählt, weil du so ärgerlich warst, als du nach Hause gekommen bist. Aber ich hätte dir von der Mail erzählt!“
Rocco hob seine Braue auf eine Weise, die Gracie seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte. Am liebsten hätte sie ihm mit ihren kleinen Fäusten auf die Brust geschlagen.
„Du hattest den ganzen Abend Zeit, mir davon zu erzählen. Nein, ich glaube, du wolltest ihn warnen oder heimlich ein Treffen vereinbaren.“
Gracie schluckte. Offensichtlich vertraute Rocco ihr nicht länger. „So sieht es für dich vielleicht aus, aber ich habe genau das gemeint, was ich ihm geschrieben habe – ich mache mir Sorgen um ihn, und ich möchte wissen, wo er ist. Und wenn er bereit ist, sich freiwillig zu stellen, werde ich ihm helfen, so gut ich kann.“
Rocco lächelte hart. „So edel – und so gelogen. Ich denke, du wolltest ihm erzählen, dass du es geschafft hast, seinen Boss ins Bett zu bekommen, und ihm ein paar rührselige Geschichten erzählt hast, damit er Mitleid bekommt.“
Ins Bett bekommen. Ein paar Geschichten.
Die Worte bohrten sich wie vergiftete Pfeile in Gracies Herz. Sie schüttelte den Kopf. „Das ist absolut lächerlich.“
„Nein!“, erwiderte Rocco barsch. „Lächerlich ist, dass ich dich ernsthaft so lange unterschätzt habe. Du bist ein hinterhältiger Dieb, genau wie dein Bruder. Ich kann nicht fassen, wie weit du gehst, um ihn zu beschützen.“
Gracie zitterte am ganzen Körper. „Muss ich dich ernsthaft daran erinnern, dass du mich verführt hast?“
„Vom ersten Augenblick an, hast du mich benutzt. Du und dein Bruder. Er hat es vermasselt, und du räumst hinter ihm auf.“
Gracie sah ihn an. Dieser eiskalte, ungerührte Mann vor ihr hatte nichts mehr mit dem Rocco der vergangenen Nacht gemeinsam. Egal, was sie noch sagen würde – er würde ihr sowieso nicht glauben.
Sie zog sich ganz tief in sich selbst zurück. Seit ihrer frühen Kindheit flüchtete sie an diesen Platz in ihrem Inneren, wenn alles zu schlimm wurde. „Du hast offenbar schon alles herausgefunden. Was soll ich noch sagen?“, erwiderte sie hölzern.
„Es gibt nichts mehr zu sagen“, sagte er barsch. „Zeit zu gehen.“
Den größten Teil des Rückflugs nach London verschlief Gracie allein in der großen Schlafkabine. In ihren Träumen suchte sie verzweifelt nach Steven, nur um hinter jeder Ecke Rocco zu finden.
Als sie endlich vor Roccos Haus aus dem Auto stiegen, drehte Gracie sich an der Tür noch einmal um und sah sehnsüchtig die leere Straße hinunter.
Mit hartem Griff packte er ihren Arm. „Denk nicht einmal daran!“
Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm und funkelte ihn an. „Fass mich nicht an! Ich habe nicht vor, wegzulaufen. Glaubst du, ich würde meinen Bruder deiner Gnade überlassen?“
Schweigend fuhren sie zum Appartement hinauf. Zu Gracies großem Ärger zerfiel ihre Selbstbeherrschung in Roccos Nähe. Aber sie zwang sich, hart zu bleiben. Vor der Wohnung empfing sie George.
Am liebsten wäre Gracie an seiner breiten Brust in Tränen ausgebrochen, aber sie riss sich zusammen. Er reichte Rocco einige Tageszeitungen. „Auf der Titelseite ist ein Foto von Ihnen und Gracie“, sagte er ernsthaft.
In der Wohnung schlug Rocco die Zeitung auf. Beim Anblick des riesigen Fotos vergaß Gracie für einen Moment ihre Wut. Es war auf dem New Yorker Empfang aufgenommen worden und zeigte sie an Roccos Arm. Darunter stand: Wer ist Rocco de Marcos neue Geliebte?
Rocco faltete die Zeitung zusammen. „Jetzt werden wir ja sehen, wie gut dein Bruder auf dich aufpasst“, sagte er.
Gracie sah ihn einen Moment verständnislos an. Nur ganz langsam begriff sie den Sinn seiner Worte. Sie öffnete den Mund. „Du …“, brachte sie zitternd heraus. Sie schüttelte den Kopf, dann fuhr sie fort: „Du beschuldigst mich, ich hätte dich verführt. Dabei hast du das Ganze eingefädelt! Nur darum hast du mich mitgenommen! Damit Bilder von uns in der Zeitung auftauchen und Steven aus seinem Versteck locken.“
Roccos Miene war undurchdringlich. „Ich bin jedenfalls gespannt, ob eure Beziehung wirklich so stark ist, wie du sagst.“
In seinem Gesicht fand Gracie nicht einen Funken des Mannes, in den sie sich verliebt hatte. Noch nie hatte sie ihn so kalt und unbarmherzig gesehen.
„Du Bastard!“
Er lächelte kalt. „Da hast du vollkommen recht. Genau das bin ich.“