2. KAPITEL

„Sie!“, wiederholte Gracie schwach. „Was tun Sie denn hier?“

Rocco de Marco zog sie aus dem Fahrstuhl. Ihr Herz raste. Vor Entsetzen konnte sie kaum atmen.

„Mir gehört dieses Gebäude“, stieß er aus. Seine Hände hielten ihre Arme wie Schraubstöcke. „Ich denke, die passendere Frage ist: Wieso sind Sie hier und fragen nach Steven Murray?“

Roccos Anblick ließ das Adrenalin durch ihre Adern schießen. Offensichtlich hatte auch er sie wiedererkannt. Aber das war kein Trost. Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass Steven weit weg war. Und in großen Schwierigkeiten steckte.

Sie brachte kein Wort heraus. Zum zweiten Mal in dieser Woche konnte sie nur in das faszinierendste, attraktivste Gesicht starren, das sie je in ihrem Leben gesehen hatte.

Sein Griff wurde fester. „Warum sind Sie hier?“

Gracie schüttelte den Kopf, als könnte sie so ihr Gehirn wieder in Gang bringen. „Ich … ich dachte nur, er wäre vielleicht in seinem Büro. Ich habe nach ihm gesucht.“

Roccos Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. „Ganz egal, an welchem Ort Steven Murray sich zurzeit auch verkriechen mag – wenn er nur einen Funken Verstand besitzt, wird keiner davon hier in der Nähe sein. Er hat das getan, was die meisten Kriminellen tun: Er ist untergetaucht.“

Rocco sprach Gracies schlimmste Befürchtungen aus, aber sofort setzte ihr vertrauter schwesterlicher Beschützerinstinkt ein. „Er ist kein Krimineller“, behauptete sie aufgebracht, auch wenn ihr Gewissen protestierte.

Er hob eine Braue. „Nein? Wie würden Sie das Stehlen von einer Million Euro denn nennen?“

Eine Million Euro? Gracie war froh, dass Rocco sie festhielt, sonst hätten ihre Beine sie nicht mehr gehalten.

„Was haben Sie mit ihm zu tun? Ist er Ihr Liebhaber?“ Er spuckte die Worte fast aus.

Gracie schüttelte den Kopf. Während sie die neuen Informationen verarbeitete, versuchte sie erfolglos, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was hier passiert war, aber sie musste Steven um jeden Preis schützen!

„Ich hatte mir bloß Sorgen um ihn gemacht und dachte, er wäre vielleicht hier“, rief sie.

Rocco schnaubte. „Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er zum Ort seines Verbrechens zurückkehrt. Er wird wohl kaum so dumm sein, eine zweite Million von meinen Geschäftskonten abbuchen zu wollen.“

„Er ist nicht dumm!“, verteidigte Gracie ihren Bruder unwillkürlich.

Endlich schaffte sie es, sich aus Roccos Händen zu lösen. Sie wirbelte herum. Ein Stück entfernt sah sie den Notausgang. Sie rannte los. Hinter sich hörte sie einen Fluch. Als ihre Finger schon fast die Klinke berührten, wurde sie so heftig herumgedreht, dass sie mit dem Rücken gegen die Tür stieß. Rocco de Marco stemmte die Hände rechts und links neben ihren Kopf und starrte auf sie herunter.

Sie hätte nicht rennen sollen! Gracie begriff, dass sie jetzt genauso schuldig wirkte wie Steven. Aber der Schock war einfach zu groß gewesen.

„Offensichtlich stecken Sie also auch mit drin – bis zu ihrem hübschen Hals“, sagte Rocco, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Die Frage ist nur: Warum sind Sie zurückgekommen? Wahrscheinlich, um irgendetwas Wichtiges zu holen“, beantwortete er dann seine eigene Frage.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Ärger war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Jetzt war ihr nur noch übel. „Mr de Marco, ich schwöre Ihnen, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe. Ich habe mir bloß Sorgen gemacht. Aber ich weiß von gar nichts.“

Seine Miene verhärtete sich nur noch mehr. „Als wir uns letzte Woche getroffen haben, wussten Sie genau, wer ich bin.“

Sie schüttelte den Kopf. Bei der Erinnerung an ihre erste Begegnung breitete sich sofort ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus. „Nein … das ist nicht wahr! Ich hatte wirklich keine Ahnung. Bis der Mann Ihren Namen genannt hat.“

Er schien ihr nicht einmal zuzuhören. „Sie sind mit Murray gekommen, als seine Komplizin. Sie haben das Ganze zusammen ausgeheckt!“

Gracie schüttelte nur hilflos den Kopf. Rocco schaute auf sie herunter, dann richtete er sich auf und nahm unsanft ihren Arm. Er achtete nicht darauf, dass sie zusammenzuckte, und führte sie zurück zum Aufzug.

Plötzlich stellte Gracie sich vor, dass unten schon die Polizei auf sie wartete. Panisch kämpfte sie gegen Roccos Griff an. „Warten Sie! Bitte, Mr de Marco, ich kann Ihnen alles erklären …“

Rocco warf ihr einen düsteren Blick zu. „Genau das werden Sie auch tun.“

Er drückte einen Knopf, die Fahrstuhltüren öffneten sich, und ohne Gracie loszulassen, schob er sie hinein. In drückendem Schweigen fuhren sie aufwärts. So dicht neben ihm wurde ihr wieder bewusst, wie groß er war. Ihr Kopf reichte kaum bis zu seinem Oberarm. Nichts erinnerte mehr an den charmanten, verführerischen Mann vom Abend ihrer ersten Begegnung.

Oh Steven, stöhnte sie innerlich, wieso hast du das getan?

Er hatte sie kurz zuvor angerufen, darum war sie überhaupt nur hergekommen. Noch immer spürte sie ihre Angst bei seinen Worten: „Gracie, stell jetzt keine Fragen, hör einfach nur zu. Es ist etwas passiert. Etwas wirklich Schlimmes. Ich bin in ernsthaften Schwierigkeiten und muss verschwinden …“

Im Hintergrund hörte sie undeutliche Geräusche, und plötzlich wirkte Steven abgelenkt. „Ich muss für eine Weile weg, und ich weiß nicht, wann ich mich wieder melden kann. Also versuch nicht, mich anzurufen, okay? Sobald ich kann, schicke ich dir eine E-Mail oder so …“

Gracie klammerte ihre feuchte Hand um den Telefonhörer. „Steven, warte! Was ist los? Kann ich dir vielleicht helfen?“

Seine nächsten Worte brachen ihr fast das Herz: „Nein, das kann ich dir nicht länger antun. Das ist nicht dein Problem, sondern meins. Du hast schon mehr als genug für mich getan. Ich …“

„Geht es um Drogen?“, fiel Gracie ihm ins Wort. Angst erstickte ihre Stimme.

Stevens Lachen klang fast hysterisch. „Nein, keine Drogen, Gracie. Um ehrlich zu sein, das wäre vielleicht sogar besser. Es hat mit der Arbeit zu tun …“

Bevor sie noch mehr fragen konnte, verabschiedete er sich und unterbrach die Verbindung. Immer wieder rief sie ihn danach erfolglos auf seinem Handy an. Wahrscheinlich hat er das Telefon weggeworfen, dachte Gracie.

Nachdem sie auch in seiner Wohnung kein Zeichen von ihm fand, fuhr sie in seine Firma, um zu sehen, ob er wie durch ein Wunder vielleicht an seinem Schreibtisch saß. Aber so weit war sie nicht gekommen.

Sie zuckte zusammen, als sich jetzt mit einem leisen Klingeln die Fahrstuhltüren öffneten. Rocco führte sie aus der Kabine in eine Art Penthouse. Der atemberaubende Blick über London im Dämmerlicht passte zu diesem unwirklichen Abend.

Am dunklen Himmel über der Stadt stand als riesige Scheibe der Mond. Doch als Rocco sie losließ und die Lampen anschaltete, vergaß Gracie den Ausblick. Sie rieb ihre Arme. Plötzlich fühlte sie sich unendlich ausgelaugt. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie fürchtete, sie würden jeden Moment unter ihr nachgeben.

Sie sah sich um und stellte überrascht fest, wie behaglich das Penthouse trotz der modernen Einrichtung wirkte. Der Holzfußboden gab dem Raum Wärme, und riesige Orientteppiche milderten die strengen Linien der Möbel. Immer wieder streifte ihr Blick Rocco de Marco. Trotz ihrer verzweifelten Situation bewunderte sie unwillkürlich seine Kraft und Eleganz.

Errötend wandte sie die Augen ab. Wen versuchte sie eigentlich zu belügen? Ihr Interesse an diesem Mann ging weit über die reine Bewunderung seiner körperlichen Schönheit hinaus.

Rocco betrachtete die zierliche Frau und fragte sich, wie er am besten angreifen sollte. Ihre blasse sommersprossige Haut und das störrische rostrote Haar fesselten seinen Blick. Der wilde Ausdruck ihrer Augen, als sie losgerannt war, hatte sich ihm für immer eingebrannt und ihn tief in seiner Seele berührt.

Sie hatte nichts mit den gepflegten Schönheiten gemeinsam, die er normalerweise bevorzugte. Frauen von makelloser Abstammung, berühmt für Aussehen, Verstand und Niveau. Frauen, die unerreichbar für ihn wären, wenn sie seine Herkunft kennen würden.

Fast hätte er vergessen, dass die Frau vor ihm Steven Murrays Geliebte war. Er straffte seine Schultern. „Sie werden mir alles sagen. Auf der Stelle!“, fuhr er sie barsch an.

Bei seinem Ton zuckte sie zusammen. Plötzlich wirkte sie sehr blass und verletzlich, aber Rocco unterdrückte seine Gewissensbisse. Sie wirkte vielleicht schwach, aber der Eindruck täuschte. Er erkannte eine Stärke in ihr, die man nur auf der Straße entwickeln konnte.

Er griff nach einem Stuhl und stieß sie fast auf den Sitz. Als sie ihr herzförmiges Gesicht zu ihm hob, krampfte sich sein Inneres zusammen.

Dio, mit diesen riesigen braunen Augen und diesen weichen rosafarbenen Lippen war sie die personifizierte Versuchung. Er musste ihre kunstvolle Vorstellung bewundern. Fast könnte er glauben, dass sie wirklich unschuldig war.

Und jetzt dachte er auch noch in Italienisch! Er hatte harte Jahre damit verbracht, jede Spur von seinem italienischen Erbe auszulöschen. Nur sein Akzent erwies sich als hartnäckig und erinnerte ihn jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, an seine Vergangenheit.

Angespannte Stille lag im Raum.

„Sie haben gesagt, Steven hätte eine Million Euro gestohlen“, flüsterte Gracie schließlich. Ihre Stimme zitterte leicht. „Was haben Sie damit gemeint?“

Rocco wollte schon antworten. Doch er brach ab und schüttelte den Kopf. „Sind Sie wirklich so dreist? Wollen Sie etwa immer noch behaupten, Sie wären unschuldig?“, fragte er ungläubig.

Er sah, dass sie ihre kleinen Hände im Schoß zu Fäusten ballte, und erinnerte sich wieder, wie er auf dem Empfang ihre Hand geküsst hatte. Ihre Haut war rau gewesen, ganz anders, als die weichen, gepflegten Hände, die er sonst gewohnt war.

Sie musste ganz genau gewusst haben, wer er war! Bestimmt hatten sie und Murray sich die ganze Woche lang köstlich über ihn amüsiert. Schon seit vielen Jahren hatte er sich nicht so gedemütigt gefühlt!

Sie hatte ihn in einem schwachen Augenblick gesehen, und das gefiel ihm nicht. Absolut nicht. Mit den stinkenden Elendsvierteln hatte er auch die Demütigungen hinter sich gelassen.

Dieser Gedanke half ihm, seine rasch schwindende Kontrolle zurückzugewinnen. „Wer sind Sie, und woher kennen Sie Steven?“, fragte er eisig.

Groß und breitschultrig stand er vor ihr. Selbst die Locke in seiner Stirn konnte seine strenge Miene nicht mildern.

„Ich bin Gracie. Gracie O’Brian“, erwiderte sie, ohne nachzudenken.

„Und? Wie ist ihre Beziehung zu Steven Murray?“

Gracie schluckte. Wenn er wüsste, dass sie verwandt waren, würde er bestimmt sofort denken, dass sie Stevens Aufenthaltsort kannte.

„Er ist … er ist ein alter Freund“, murmelte sie und wandte den Blick ab. Sie spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Sie hatte noch nie lügen können. Selbst dann nicht, wenn ihr Leben davon abhing.

Rocco verzog spöttisch sein Gesicht. „Lügnerin.“

Gracie schüttelte den Kopf. Sie war es so gewohnt, ihren Bruder zu beschützen, dass sie nichts dagegen tun konnte.

Aber das wollte sie auch gar nicht. Auch er hatte sie immer beschützt, nur auf eine andere Weise als sie ihn. „Nein … Ein alter Freund. Wir kennen uns schon … sehr lange.“

Er lachte höhnisch auf. „Sicher! Aus einem Doppelbett in einer billigen Absteige!“

Bei dem Gedanken stieg Übelkeit in Gracie auf. Sie wurde blass. „Nein. Nein!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Wirklich, so ist es nicht!“

Plötzlich war ihr ganz schwindelig. Bestimmt, weil sie den ganzen Tag lang noch nichts gegessen hatte. Sie hörte auf, den Kopf zu schütteln, aber immer noch drehte sich der Raum um sie.

„Soll ich Ihnen sagen, was die Wahrheit ist?“ Rocco wartete ihre Antwort nicht ab. „Sie sind Murrays Komplizin, und Sie sind noch einmal hierher zurückgekommen, weil Sie etwas Wichtiges vergessen hatten. Was ist es?“, fuhr er fort. „Vielleicht ein USB-Stick? Wir haben alles durchsucht, aber so etwas Kleines könnten wir übersehen haben.“

Bevor Sie begriff, was er vorhatte, zog er sie vom Stuhl hoch. Fast sanft ließ er seine großen Hände an ihren Beinen auf und ab gleiten. Gracie brauchte eine Sekunde, bevor ihr klar wurde, dass er sie durchsuchte. Jetzt strichen seine Hände über die Innenseiten ihrer Schenkel.

Sie sprang zurück. Ihre Hände schlugen wild in alle Richtungen. Sie traf Roccos Kopf, seine seidigen Haare. Er fluchte, richtete sich auf und hielt ihre Arme fest.

Diesmal war er nicht sanft. „Sie kleine Wildkatze! Halten Sie still!“

Er umfasste ihre Handgelenke mit einer Hand, mit der anderen zog er blitzschnell das Futter ihrer Hosentaschen heraus. Als er sie abrupt losließ, wäre sie fast gestolpert.

„Sie …!“, stieß sie hervor. „Bevor Sie mich noch länger belästigen, bringen Sie mich lieber zur Polizei!“

Rocco trat einen Schritt zurück. Sein Gesicht war gerötet. Vor Ärger, vermutete Gracie. Ihr gefiel gar nicht, wie ihr Körper auf seine Berührung reagiert hatte. Immer noch raste ihr Puls, und sie schaffte es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen.

Rocco war plötzlich ganz still.

„Haben Sie überhaupt die Polizei gerufen?“, fragte sie leise.

Er schüttelte den Kopf. „Falls bekannt wird, dass ich einen Betrüger in meiner Firma beschäftigt habe, könnte das dauerhaft meinen Ruf ruinieren. In meinem Job sind Ansehen und Vertrauen alles. Wenn meine Klienten wüssten, dass ich ihr kostbares Vermögen gefährdet habe, wäre ich in wenigen Tagen erledigt.“

Gracies Erleichterung währte nicht länger als eine Sekunde, dann sah sie Roccos erbarmungsloses Lächeln. Ihr wurde eiskalt.

„Denken Sie ja nicht, dass Ihr Liebhaber deshalb ungestraft davonkommt! Meine Leute suchen nach ihm, und glauben Sie mir, sie arbeiten nicht nur wesentlich effektiver als eine überarbeitete Polizeitruppe, ihnen stehen auch unbegrenzte Mittel und die beste technische Ausrüstung zur Verfügung.“

Angst schnürte Gracie die Kehle zu. „Was haben Sie mit ihm vor?“

Nachdem er mir jeden Cent zurückgezahlt hat?“ Sein Gesicht war hart. „Dann werde ich dafür sorgen, dass er nirgendwo auf der Welt jemals wieder einen Job in dieser Branche bekommt und ihn anonym dem Betrugsdezernat ausliefern. Dafür kann er für zehn Jahre ins Gefängnis gehen. Ich habe die fehlende Million von meinem eigenen Konto ersetzt. Er schuldet das Geld jetzt mir persönlich.“

Gefängnis! Gracie fühlte sich ganz schwach. Sie tastete hinter sich, fand den Stuhl und ließ sich auf den Sitz fallen. Ihr Bruder würde keinen weiteren Tag im Gefängnis überleben. Nach seiner Entlassung hatte er ihr gesagt, er würde eher sterben, als noch einmal zurückzugehen.

Rocco runzelte die Stirn. Zum ersten Mal an diesem Abend hätte er schwören können, dass ihre Reaktion nicht gespielt war. Sie sah aus wie das Opfer eines Autounfalls. Um ein Haar hätte er sie gefragt, ob sie einen Drink wollte.

Sie sah auf den Boden. Plötzlich wollte er zu ihr gehen und ihr Kinn anheben. Ihm gefiel nicht, wie sehr er sich wünschte, in ihre Augen zu schauen.

Und dann blickte sie auf. Ihre Augen wirkten fast schwarz gegen ihre plötzlich erschreckend blasse Haut.

Sie öffnete den Mund und schüttelte den Kopf. Er konnte sehen, dass sie nach Worten suchte. „Ich … ich kann Sie nicht länger anlügen. Dafür ist die Sache zu ernst. Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt.“

„Ich bin es leid, noch länger darauf zu warten“, sagte er kalt. „Sie haben eine Minute, um mir alles zu sagen, oder ich werde Sie doch der Polizei als Komplizin übergeben.“

Inzwischen hatte Gracie jede Hoffnung verloren, dass sich alles nur um ein Missverständnis handelte. Warum wäre Steven sonst geflüchtet? Wahrscheinlich hatte er begriffen, dass er sich übernommen hatte. Ob er sich von Anfang an nur deshalb für den Job beworben hatte?

„Gracie!“

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihren Namen aus Rocco de Marcos Mund hörte. Für einen Moment vergaß sie ganz, warum sie hier war. Dann stand sie mit zitternden Knien auf. „Steven ist nicht mein Geliebter, und ich bin nicht seine Komplizin … Er ist mein Bruder.“

„Reden Sie weiter!“, sagte Rocco schneidend.

Gracie zuckte mit den Schultern. „Das ist alles. Er ist mein Bruder, und ich mache mir große Sorgen um ihn. Ich habe ihn gesucht.“ Sie wusste nicht genau, warum sie Rocco auf keinen Fall sagen wollte, dass er ihr Zwillingsbruder war.

„Erwarten Sie etwa, dass ich das glaube?“, fragte er gedehnt. „Nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe und nach unserer Begegnung vor einer Woche? Hören Sie endlich auf, mir etwas vorzumachen! Sie und Murray haben diesen Plan gemeinsam ausgeheckt!“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das schwöre ich Ihnen. Ich habe Steven nur auf den Empfang begleitet, weil …“ Sie brach ab. Wie sollte sie erklären, dass ihr Bruder so verzweifelt vermeiden wollte, aufzufallen?

In diesem Moment begriff sie, warum Steven in den vergangenen Wochen so nervös und angespannt gewesen war. Die ganze Zeit hatte er den Betrug geplant!

„Weil Sie beide einen großartigen Plan ausgeheckt hatten, ein Vermögen zu ergaunern.“ Rocco lachte zynisch auf. „Mein Gott, Sie konnten es nicht mal lassen, Essen vom Buffet zu stehlen.“

Gracie schoss das Blut in die Wangen. „Das Essen habe ich für meine Nachbarin mitgenommen. Sie ist sehr alt und erzählt immer von ihrer Vergangenheit, von früher, als sie noch reich war und rauschende Bälle besucht hat. Ich dachte, die schicken Häppchen wären eine nette Überraschung für sie.“

Rocco brach in schallendes Lachen aus. Gracie sah ihm ärgerlich zu, bis er sich endlich wieder beruhigt hatte. Sie versuchte zu verbergen, wie sehr er ihr Innerstes berührte. Seit ihre Mutter fortgegangen war und nachdem ihre Großmutter sie der Fürsorge des Jugendamts überlassen hatte, war Gracie nur sehr selten bereit gewesen, Menschen an sich heranzulassen.

„Ich habe meine Mathe-Prüfungen nur mit Ach und Krach bestanden“, rief sie schon leicht verzweifelt. „Ich würde eine Aktie nicht einmal erkennen, wenn sie aufspringen und mich ins Bein beißen würde. Von uns beiden hat Steven den Sinn für Mathematik geerbt.“

„Und trotzdem …“, fuhr Rocco gnadenlos fort, „… haben Sie ihn letzte Woche begleitet und sich an mich herangemacht. Sie wussten ganz genau, wer ich bin.“

Gracie schnappte nach Luft. Sie war sich nicht sicher, worüber sie sich mehr ärgerte, über seine Unterstellungen oder die Erinnerung an ihre erste Reaktion auf ihn. „Ich habe mich nicht an Sie herangemacht! Sie sind zu mir gekommen!“

Roccos Wangen röteten sich. Zum ersten Mal hatte Gracie das Gefühl, dass sie ihn mit ihren Worten getroffen hatte. Sofort war er wieder kalt und ungerührt. Und doch glaubte Gracie, ein Brodeln unter seiner gleichgültigen Fassade zu spüren.

Bevor er einen weiteren Angriff starten konnte, gab sie rasch zu: „Ich habe Steven begleitet, weil er sich alleine zu unsicher gefühlt hätte.“

„Sie haben mich immer noch nicht davon überzeugt, dass sie Geschwister sind. Wieso hätten Sie dann unterschiedliche Nachnamen?“

Auch wenn Gracie klar war, dass sie dadurch schuldig wirken musste, wandte sie den Blick ab. „Weil … weil er sich mit unserem Vater zerstritten und den Mädchennamen unserer Mutter angenommen hat.“ Das war nicht einmal gelogen.

„Ganz abgesehen davon, dass Sie ihm kein bisschen ähnlich sehen.“

Gracie sah auf und bemerkte, wie Rocco seinen kritischen Blick über ihren Körper schweifen ließ. Kam es ihr nur so vor, oder war es wirklich plötzlich so heiß im Raum? „Ich weiß selbst, dass wir uns nicht ähnlich sehen. Aber nicht alle …“ Sie brach ab. Fast hätte sie Zwillinge gesagt. „… nicht alle Geschwister sehen einander ähnlich. Er sieht aus wie unsere Mutter, ich wie unser Vater.“

Hätte ihre Mutter sie geliebt, wenn Gracie wie Steven ausgesehen hätte? Diese Frage quälte sie schon ihr ganzes Leben lang. Es war kein Trost, dass ihre Mutter sie beide verlassen hatte. Noch immer erinnerte sie sich an die Nächte, in denen Steven sich in ihrem Arm in den Schlaf geweint hatte, während Gracie sich fragte, warum ihre Mutter gegangen war.

Lange Zeit dachte sie, es wäre ihre Schuld, weil ihre Mutter sie nicht wollte. Erst als sie älter und reifer geworden war, begriff sie, dass ihre Mutter in Wahrheit nie vorgehabt hatte, Steven mit sich zu nehmen.

Plötzlich spürte Gracie, wie sie schwankte. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Gerade als sie sich für ihre Schwäche verfluchte, sagte Rocco etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen.

Eine große warme Hand legte sich auf ihren Arm. Sie versteifte sich. Wieso hatte dieser Mann bloß so eine Wirkung auf sie? Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass sie kurz davor stand, ohnmächtig zu werden. Wie jämmerlich! Sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen, doch ohne Erfolg.

„Wann haben Sie zum letzten Mal etwas gegessen?“, hörte sie seine Stimme viel zu nah an ihrem Ohr.

Sie lehnte sich zurück und versuchte, ihn wütend anzufunkeln. „Deshalb brauchen Sie nicht so zu tun, als wäre ich ein dummes Mäuschen! Ich habe mir eben Sorgen gemacht und nicht an Essen gedacht.“

Er betrachtete sie von oben bis unten. „Sie sehen nicht aus, als würden Sie oft an Essen denken.“

Er drehte sich um und ging weg. Gracie konnte die Augen nicht von seinem kraftvollen, geschmeidigen Körper abwenden.

„Ich habe ein paar Fertiggerichte im Kühlschrank“, rief er ihr über die Schulter zu. „Kommen Sie mit.“

Rocco de Marco bot ihr Essen an? War sie vielleicht schon ohnmächtig geworden und träumte nur? Sie wandte den Kopf und sah zur Tür. Die Freiheit war nur wenige Schritte entfernt.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, stand Rocco plötzlich wieder neben ihr. „Denken Sie nicht einmal daran“, sagte er täuschend sanft. „Sie würden es nicht einmal bis in die nächste Etage schaffen. Meine Männer sind überall.“

In seinen Augen las sie, dass er nicht scherzte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich wieder um und ging. Diesmal folgte sie ihm.

Rocco drückte den Knopf an der Mikrowelle. Was mache ich hier überhaupt? fragte er sich. Wieso servierte er dem Feind ein Abendessen? Nur weil Gracie für einen Augenblick ausgesehen hatte, als würde sie vor seinen Füßen zusammenbrechen?

Auch wenn er es nicht gern zugab, hatte er ihre Angst fast körperlich gespürt. Aber er durfte seinen Gefühlen nicht trauen. Er hatte schon früh gelernt, wie mühelos Frauen manipulieren konnten. So war seine Mutter durchs ganze Leben gekommen.

Rocco schloss die Augen und schob die Erinnerungen zur Seite. Hinter sich hörte er, wie Gracie in die Küche kam. Wieso zum Teufel dachte er ausgerechnet jetzt daran zurück?

Er setzte eine unbeteiligte Miene auf und drehte sich um. Gracies Wangen waren schon rosiger geworden. Sofort ärgerte er sich über seine Erleichterung. Sie sah sich neugierig um. Bestimmt schätzt sie alles hier auf seinen Wert ein, dachte er zynisch.

In diesem Moment klingelte die Mikrowelle. Er nahm das Essen heraus, dann stellte er Teller und Besteck unsanft vor Gracie auf den riesigen Edelstahltisch. „Sie sind meine einzige Verbindung zu Murray. Also essen Sie! Ich will nicht, dass Sie zusammenbrechen.“

Sie presste ihre Lippen zusammen, als wollte sie ablehnen. Rocco ballte die Fäuste, um das heftige Verlangen nach ihr zu unterdrücken. Er hasste sie für seine unkontrollierbare Reaktion. „Los, essen Sie!“