Gracie hob ihr Kinn und versuchte, den köstlichen Duft des Essens zu ignorieren. Sie fühlte sich ganz schwach vor Hunger, aber gleichzeitig ärgerte sie sich über Roccos überhebliche Art.
„Haben Sie vor, den Teller vor mir stehen zu lassen, bis ich aufgegessen habe? Wie ein tyrannischer Vater?“
Er beugte sich vor. Gracie zwang sich, nicht zurückzuweichen.
„Ich bin weder ein Vater noch ein Tyrann. Essen Sie!“
Sie senkte die Augen, um seinem dunklen Blick zu entkommen, dabei sah sie auf cremiges Kartoffelpüree und köstlich duftendes Gulasch. Dies war kein typisches Fertiggericht, sondern stammte garantiert aus einem schicken Feinkostgeschäft.
Ihr Magen knurrte laut. „Ich hätte auch Vegetarierin sein können“, sagte sie trotzig, während sie schon nach ihrer Gabel griff.
Rocco gab einen erstickten Laut von sich, aber sie sah nicht auf. Sie hasste, dass er sie beobachtete, aber sie war zu hungrig, um sich noch länger zu sträuben.
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht vorher gefragt habe“, erklärte er übertrieben höflich.
Gracie warf ihm einen Seitenblick zu. Er lachte sie aus! Rasch wandte sie sich wieder ihrem Essen zu. Als hätte sie seit Wochen nicht mehr gegessen, verschlang sie alles bis auf den letzten Bissen.
Rocco schob ein Glas Wasser und eine Serviette über den Tisch. Erst als sie sich den Mund abgewischt und einen großen Schluck getrunken hatte, sah sie ihn wieder an. Er starrte sie völlig fasziniert an.
Unsicher tupfte sie noch einmal ihre Lippen ab. „Was ist? Habe ich noch irgendwo etwas im Gesicht?“
Er schüttelte den Kopf. „Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?“ Seine Stimme klang rau.
Gracie dachte einen Moment nach. „Gestern … Mittag.“ Aber in Wahrheit hatte sie seit Tagen nicht mehr vernünftig gegessen.
„Wo leben Sie?“
Als Gracie aufschaute, traf sie auf seinen kalten Blick. Das Verhör ging weiter! Sie hatte schon fast vergessen, warum sie überhaupt hier war.
Plötzlich fühlte sie sich wie eine völlige Versagerin. „Bis heute Morgen in Bethnal Green. Aber vor zwei Tagen habe ich meinen Job verloren, und mein Chef weigert sich, mir mein ausstehendes Gehalt zu geben. Heute wollte mein Vermieter sein Geld haben, und als ich nicht zahlen konnte, hat er mir vorgeschlagen, mich anderweitig erkenntlich zu zeigen.“ Bei der Erinnerung an sein schweißnasses Gesicht und seine grabschenden Hände schüttelte sie sich unwillkürlich.
Bevor sie wusste, was er vorhatte, sprang Rocco auf, griff nach ihrer rechten Hand und musterte die geröteten Knöchel. Bei seiner Berührung stöhnte sie leise auf.
Er sah sie durchdringend an. „Sie haben ihn geschlagen?“
Gracie zuckte mit den Schultern. „Er hatte mich in eine Ecke gedrängt.“
Noch immer hielt er ihre Hand. „Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass Sie mich verschont haben.“
Sie betrachtete seinen Kiefer. Wahrscheinlich hätte sie sich bei dem Versuch die Hand gebrochen. Immer noch stand er dicht neben ihr und hielt ihre Hand. Gracies Herz raste.
Nervös zog sie ihre Hand fort. „Meine Taschen habe ich in einem Schließfach am Bahnhof untergestellt“, plapperte sie ohne nachzudenken. „Ich sollte jetzt besser gehen und mir ein Quartier für die Nacht suchen.“
Sie stand auf und wandte sich zur Tür. Ihr rasendes Verlangen jagte ihr so eine Angst ein, dass sie nur noch weglaufen wollte.
Er verschränkte die Arme und sah auf sie herunter. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass sie es nicht bis in den nächsten Stock schaffen würden.“
„Sie können mich nicht einfach hier festhalten!“, stieß Gracie erstickt aus. „Das ist Freiheitsberaubung! Ich bin nur hergekommen, um nach Steven zu suchen. Ich habe nichts genommen, und ich weiß nichts über Ihr Geld.“
Rocco betrachtete die Frau vor sich. Noch immer spürte er namenlose Wut auf den Mann, der sie belästigt hatte. Mit aller Macht rief er sich ins Gedächtnis, dass sie nicht mehr als der Schlüssel zu seinem Geld war.
Wieder sah er auf ihre angeschlagenen Knöchel. „Warum haben Sie Ihren Job verloren?“, fragte er, um sich abzulenken.
Ihre schmalen Hände ballten sich zu Fäusten. Sie erinnerte ihn an eine prächtige Wildkatze. In seiner Brust spürte er plötzlich eine seltsame Schwäche. Als sie so selbstvergessen das Essen verschlungen hatte, konnte er seinen Blick nicht von ihr lösen. Nicht nur, weil er keine Frauen kannte, die auf diese Weise aßen, sondern auch, weil sie ihn an ihn selbst erinnert hatte.
Er würde nie vergessen, wie es sich anfühlte, hungrig zu sein.
„Ich hatte Probleme mit einigen Kunden“, murmelte sie.
Erstaunt hob er eine Braue. „Kunden?“
Ihre Wangen färbten sich rosig. „Ich habe in einer Bar in einer ziemlich schlechten Gegend gearbeitet. Nur vorübergehend“, ergänzte sie hastig.
Rocco ballte vor Wut die Fäuste. Er konnte sich sehr gut vorstellen, dass Männer ihre kratzbürstige Art als Herausforderung betrachteten. Mit jeder Minute wurde diese Frau rätselhafter.
Wie aus dem Nichts sehnte er sich plötzlich danach, sie sanft und nachgiebig zu erleben. Gezähmt. Und er wollte derjenige sein, der sie zähmte. Die Heftigkeit seiner Sehnsucht entsetzte ihn.
Habe ich komplett den Verstand verloren? fragte er sich schockiert. Eine Frau wie sie sollte er nicht einmal attraktiv finden!
Um sich zu beweisen, dass er ihr sehr gut widerstehen konnte, kam er ihr einen Schritt näher. Er war schließlich kein Neandertaler! Er hatte seine Triebe unter Kontrolle.
„Sie werden dieses Appartement nicht verlassen, bevor Ihr Bruder …“ Er unterbrach sich mit einem leisen Fluch, dann fuhr er fort: „… falls er überhaupt wirklich Ihr Bruder ist – gefunden und zur Rechenschaft gezogen wurde. Jetzt geben Sie mir den Schlüssel zu dem Schließfach, und ich lasse Ihre Taschen abholen.“
Wenige Minuten später fand Gracie sich in einem prächtigen Gästezimmer wieder. Noch immer wusste sie nicht genau, warum sie nachgegeben hatte, aber sie war so unendlich müde. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie getan, was ein anderer von ihr verlangte, doch ihr fehlte einfach die Energie, noch länger gegen ihn zu kämpfen. Es gab niemanden, den sie um Hilfe bitten und – im wahrsten Sinne des Wortes – keinen Platz, an den sie gehen konnte. Plötzlich wurde sie von einem ganz ungewohnten Gefühl der Einsamkeit überflutet.
„Da ist das Badezimmer. Sie finden dort Handtücher, Bademantel und was Sie sonst noch brauchen. Sobald Ihre Taschen hier sind, bringe ich sie Ihnen.“
Gracie sah sich um. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Als sie zuschaute, wie Rocco zur Tür ging, beneidete sie ihn um seine unermüdliche Kraft. Hätte sie geahnt, dass sie ihn hier treffen würde, wäre sie nie hergekommen.
Sie seufzte. Zu spät für Reue.
„Morgen früh reden wir weiter“, sagte er an die Tür gelehnt.
„Dann werden Sie mich gehen lassen. Sonst …“
„Sonst was?“, fiel er ihr ins Wort. „Sonst rufen Sie die Polizei?“ Er schüttelte den Kopf und lächelte kühl. „Nein, ich denke nicht. Sie haben genauso wenig Interesse daran, dass die Polizei ihre Nase in diese Angelegenheit steckt wie ich.“
Angespanntes Schweigen breitete sich aus.
Was konnte sie dagegen sagen? Er hatte vollkommen recht, und er kannte nicht einmal die ganze Wahrheit.
Er neigte den Kopf. „Bis morgen, Miss O’Brian.“
Leise schloss sich die Tür hinter ihm. Gracie erwartete fast zu hören, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Um auszuprobieren, ob er sie eingeschlossen hatte, öffnete sie vorsichtig die Tür. Sie sprang vor Schreck in die Luft, als sie sah, dass Rocco draußen an der Wand lehnte.
„Zwingen Sie mich nicht, die Tür abzuschließen.“
Gracie schloss schnell die Tür wieder hinter sich. Langsam ging sie zum Fenster, doch sie achtete nicht auf den großartigen Ausblick.
Selbst als ihre Mutter noch bei ihnen lebte, hatten Steven und sie immer zusammengehalten. Wie an dem Abend, als Gracie für irgendeinen kleinen Fehler von der Mutter ohne Abendessen ins Bett geschickt worden war. Nach dem Essen war Steven zu ihr unter die Decke gekrabbelt und hatte ihr heimlich etwas von seinem Essen zugesteckt. Damals waren sie vier Jahre alt.
Von klein auf war er kränklich gewesen und damit das perfekte Ziel für brutale Jungen, die gern Schwächere quälten. Gracie hatte sich schnell angewöhnt, ihn mit ihren Fäusten zu verteidigen. Dafür war Steven stets der Klassenbeste. Sie dachte an die unzähligen Stunden zurück, in denen er ihr mit einer Engelsgeduld bei ihren Mathematikaufgaben geholfen hatte. Selbst in seiner schlimmsten Drogenzeit hatte er sie nicht im Stich gelassen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie daran dachte, wie er sie vor weitaus Schlimmerem als einer schlechten Mathematiknote bewahrt hatte.
Sie ließ ihren Kopf gegen die kühlte Scheibe sinken. Obwohl sie sich unendlich um ihren Bruder sorgte, schob sich immer wieder ein anderes Gesicht vor ihre Augen. Ein dunkles, unwiderstehliches Gesicht. Bei dem Gedanken an Rocco de Marco schoss eine Hitzewelle durch ihren Körper und drohte, ihre sorgfältig aufgerichteten Mauern zum Einstürzen zu bringen.
Rocco betrachtete die beiden schäbigen Taschen, die sein Fahrer gerade bei ihm abgeliefert hatte. Ein abgenutzter Rucksack und ein alter Koffer. Das war ihr ganzer Besitz? Rocco war es gewohnt, dass Frauen allein für Schmuck und Kosmetik mehr Gepäck mit auf eine Reise nahmen. Andererseits brauchte er nicht daran erinnert zu werden, dass diese Frau aus einer ganz anderen Welt stammte. Er schüttelte den Kopf, hob die Taschen auf und ging zu Gracies Zimmer.
Leise öffnete er die Tür. Im Dämmerlicht sah er ihren Umriss auf dem Bett. Er wartete einen Augenblick, aber sie rührte sich nicht. Offenbar schlief sie tief und fest.
Geräuschlos stellte er die Taschen ab und ging wie magisch angezogen näher ans Bett. Gracie lag in einem weißen Bademantel auf der Decke. Sie hatte sich zusammengerollt wie ein Baby und eine Hand unter das Kinn gesteckt. Ihre langen wilden Locken waren um sie herum ausgebreitet wie ein kunstvoller Fächer.
Er erstarrte, als sie ihren Kopf bewegte. „Nein, Steven … das darfst du nicht … bitte …“, flüsterte sie kaum verständlich.
Schlagartig erinnerte Rocco sich wieder, warum sie hier war. Gracie war eine verlogene Diebin, ein Niemand, und ihr Bruder hatte die Frechheit besessen, Rocco de Marcos Vertrauen zu missbrauchen.
Er trat zurück und verdrängte Sorge und Verlangen. Ich werde sie nicht gehen lassen, bevor sie und Murray nicht für ihr Verbrechen bezahlt haben! schwor er sich.
Als Gracie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Sie sah sich in dem fremden, furchteinflößend luxuriösen Zimmer um. Dann bemerkte sie, dass sie im Bademantel auf einem sehr breiten Bett lag. Langsam kam die Erinnerung zurück.
Sie stöhnte und zog ein Kissen über das Gesicht. Rocco de Marco! Bei der Erinnerung an seine Leibesvisitation schoss ihr das Blut in die Wangen.
Als sie zu den riesigen Fenstern sah, setzte sie sich auf und schnappte nach Luft. Zu ihren Füßen schlängelte sich die Themse. Sie erkannte den Westminster Palast und am anderen Flussufer das gigantische Riesenrad. Der atemberaubende Ausblick reichte über die Stadt hinweg bis zum Horizont.
Dann fiel ihr Blick auf ihre beiden Taschen. Während sie tief und fest geschlafen hatte, war Rocco im Zimmer gewesen! Bei dem Gedanken, begann ihr Herz zu rasen.
Noch einmal stöhnte sie auf, dann ging sie zu ihren Taschen und zog Jeans, T-Shirt und Turnschuhe heraus. Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen und sich angezogen hatte, steckte sie ihre Haare zu einem Knoten auf und verließ das Zimmer.
In der Wohnung war alles still. Gracie sah auf ihre Armbanduhr. Es war noch früh, vielleicht war Rocco noch nicht aufgestanden.
Dann öffnete sie die Küchentür. Vor ihr saß Rocco in einem makellosen Anzug mit blauem Hemd und Krawatte an dem riesigen Tisch und las die Zeitung. Für eine Sekunde bewunderte Gracie sein kühnes Profil.
Sein dunkles Haar war noch feucht, und die olivfarbene Haut leuchtete in der Morgensonne. Er sah auf. „Guten Morgen.“
„Guten Morgen“, grüßte Gracie schwach.
Rocco deutete mit einer ausholenden Geste durch die Küche. „Ich fürchte, Sie müssen sich selbst bedienen. Zurzeit habe ich keine Haushälterin.“
Gracie riss die Augen von seinem Gesicht los und nahm sich Kaffee und Toast vom Küchentresen. Sie bemerkte ärgerlich, dass ihre Hände zitterten. Unbehaglich blieb sie am Tresen stehen.
„Nun kommen Sie schon her und setzen sich! Ich beiße nicht“, sagte Rocco schließlich ungeduldig.
Gracie biss die Zähne zusammen. Widerwillig nahm sie Tasse und Teller und setzte sich ans andere Ende vom Tisch. Sie hatte seinen spöttischen Blick genau gesehen. Neben seiner lebendigen, männlichen Erscheinung fühlte sie sich blass und unscheinbar.
Während sie ohne Appetit an ihrem Toast kaute, schaute sie hartnäckig auf ihre Hände. Als er sie plötzlich ansprach, sprang sie vor Schreck fast in die Luft: „Ich habe gestern Nacht einige Nachforschungen über Sie und Ihren Bruder angestellt.“
Gracie wurde eiskalt. Sie stellte ihre Tasse ab und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Hätte sie ihm bloß nicht ihren richtigen Namen verraten!
Nach außen hin wirkte Rocco fast gelangweilt, aber unter der gelassenen Oberfläche spürte sie seinen Ärger so deutlich, als hätte er sie angeschrien. „Ihr Bruder hat ein sehr interessantes Strafregister. Drei Jahre Gefängnis für den Besitz harter Drogen. Die Bewerbungspapiere für meine Firma waren gefälscht. Seine Verbrechen häufen sich, Gracie.“
„So ist er nicht!“, rief sie verzweifelt aus. „Er hat wirklich versucht, ganz neu anzufangen. Im Gefängnis hat er seinen Schulabschluss nachgeholt und dann studiert. Es muss einen guten Grund geben, warum er Ihr Geld genommen hat. Nie im Leben hätte er riskiert, noch mal im Gefängnis zu landen.“
Rocco starrte sie finster an. „Eine Menge Leute würden mir zustimmen, dass eine Million Euro ein sehr guter Grund sind.“
Gracie sackte zurück auf ihren Stuhl und blickte auf ihre blassen Hände. Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Wie sollte Steven jemals wieder aus dieser Situation herauskommen?
Rocco seufzte, aber sie schaute nicht auf. Er sollte ihre Verzweiflung nicht sehen.
„Ich nehme an, Sie werden ihn nicht freiwillig anrufen und ihm sagen, dass er zurückkommen und sich stellen soll.“
„Ich habe gestern mit ihm gesprochen“, gab sie zu. „Aber er wollte mir nicht verraten, wo er ist. Als ich versucht habe, ihn zurückzurufen, konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Wahrscheinlich hat er sein Telefon weggeworfen.“ Dass er versprochen hatte, sich so bald wie möglich wieder bei ihr zu melden, behielt sie für sich.
Sollte er das wirklich tun, würde sie ihm sagen, dass er nie wieder zurückkommen durfte.
Rocco stand auf, kam zu ihr und streckte die Hand aus. „Geben Sie mir Ihr Telefon.“
„Warum?“
Seine Lippen wurden schmal. „Weil ich Ihnen nicht glaube. Ich denke, dass Sie versuchen werden, Ihren Bruder zu warnen, damit er nicht zurückkommt. Und weil wir ihn finden können, wenn er versucht, Sie anzurufen.“
Gracie verschränkte die Arme. Einige Sekunden lang starrten sie sich an.
„Bringen Sie mich nicht dazu, Sie noch einmal zu durchsuchen!“, stieß Rocco schließlich zwischen den Zähnen hervor. Seine Miene war finster.
Bei der Erinnerung an seine Berührungen zuckte Gracie zusammen. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hasste er schon den Gedanken daran. Sie senkte die Augenlider, damit er nicht sah, wie verletzt sie war. Schließlich stand sie auf, ging auf ihr Zimmer und holte das Telefon aus ihrer Tasche. Er würde es sowieso finden.
Sie reichte es ihm. „Er wird mich nicht noch einmal anrufen. Er weiß genau, dass er in Schwierigkeiten steckt.“
Rocco steckte das Handy ein. „Ich habe einen Vorschlag für Sie“, sagte er beiläufig.
Gracie blinzelte. Wohl eher eine Anweisung. Unbewusst trat sie einen Schritt zurück. Plötzlich fiel ihr das Atmen viel leichter.
„Zurzeit suche ich eine neue Haushälterin.“ Er warf einen verächtlichen Blick auf Gracies legere Kleidung. „Selbst Sie können bei so einem einfachen Job nicht viel falsch machen. Sie brauchten nicht einmal zu kochen. Darum kümmert sich mein Koch. Sie müssten nur einkaufen und die Wohnung in Ordnung halten.“
Gracie runzelte die Stirn. Sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „Bieten Sie mir einen Job an?“
Rocco grinste schmal. „Weniger einen Job, als eine Beschäftigung, solange Sie hier sind. Denn bevor wir Ihren Bruder nicht gefunden haben, werde ich Sie nicht mehr aus den Augen lassen.“
Bei der Aussicht, mehr Zeit mit diesem Mann zu verbringen, klopfte Gracies Herz schneller. „So etwas können Sie nicht mit mir machen!“, protestierte sie. „Das ist ungeheuerlich! Sie können mich doch nicht als Ihre Gefangene hier festhalten.“
Spöttisch hob Rocco eine Braue. „Sie haben keinen Job, und Sie können nirgendwo hin. Ihr gesamtes Vermögen besteht aus fünfzig Pfund. Und Sie reden von Freiheit und Unabhängigkeit? Ich tue Ihnen einen Gefallen – den Sie nicht einmal verdienen.“
Gracie schnappte nach Luft. „Sie haben meine Sachen durchsucht!“
Er zuckte leicht mit den Schultern. „Selbstverständlich.“
Beschämt wandte sie die Augen ab. Sie hatte noch ein bisschen Geld auf dem Bankkonto, aber das war kaum der Rede wert. Seit ihrem Studienabschluss kämpfte sie ums Überleben. Sie hatte keine Chance gehabt, ihre Träume zu verwirklichen. Rocco de Marco dagegen konnte sich bestimmt nicht einmal vorstellen, wie hart es war, sich durchzukämpfen.
„Also bieten Sie mir den Job aus reiner Güte an?“, fragte sie mit beißendem Spott.
„So ähnlich, ja.“ Er lächelte humorlos. „Was regen Sie sich so auf, Gracie? Sie und Ihr Bruder haben sich selbst in diese Situation gebracht. Sehen Sie es einfach so: Bis Ihr Bruder wieder auftaucht, behalte ich Sie als Pfand für meine Million Euro.“
Panisch suchte sie nach einem Ausweg, aber ihr fiel nichts ein. Sie saß in der Falle. Aber nicht nur war sie Roccos einzige Verbindung zu Steven, genauso war er ihre einzige Verbindung zu ihm. Er suchte nach Steven, und sehr wahrscheinlich würde er ihn auch finden. Sie konnte Steven nicht dem Zorn dieses Mannes überlassen. Sollte Rocco ihn wirklich aufspüren, musste sie hier sein, um ihren Bruder zu beschützen.
Gracie straffte sich, um wenigstens nicht so hilflos auszusehen, wie sie sich fühlte. „Wenn ich Ihre Haushälterin sein soll, verlange ich dasselbe Geld, das ich in der Bar bekommen habe. Ich muss die Schulden zurückzahlen, die sich durch mein Studium angehäuft haben.“
Rocco ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Er hatte heftigeren Widerstand erwartet.
Wenn sie wirklich schuldig wäre, würde sie doch bestimmt versuchen, hier wegzukommen, um ihren Bruder zu warnen, oder nicht? Und wäre sie dann wirklich so dumm gewesen, in die Firma zu kommen? fragte eine leise Stimme in seinem Kopf. Aber er verdrängte diese Gedanken – zusammen mit seinem schlechten Gewissen.
Sie hatte irgendetwas vor. Sie war raffiniert, bestimmt verhielt sie sich nur so unschuldig, damit er Zweifel an ihrer Schuld bekam.
„Wie viel haben Sie in der Bar denn verdient?“, fragte er neugierig. Garantiert würde sie den Betrag verdreifachen. Aber er hatte sowieso nicht vor, sie zu bezahlen.
Nicht so lange ihm eine Million fehlte.
Als Gracie eine lächerlich geringe Summe nannte, konnte er seine Überraschung nur mit Mühe verbergen. Das war doch bestimmt nicht einmal das Mindestgehalt! Sie sah ihn so arglos herausfordernd an, dass er unwillkürlich zustimmte.
Gracie sah zu, wie er Stift und Papier aus einer Schublade nahm und einige Zahlen aufschrieb, bevor er ihr den Zettel in die Hand drückte. „Das ist die Nummer von meinem persönlichen Assistenten, falls Sie mich brauchen sollten. Ich werde den ganzen Tag lang auf verschiedenen Meetings sein.“ Seine Augen blitzten auf. „Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, dass alle Telefonate aufgezeichnet werden. Außerdem habe ich Ihnen die Nummer meiner letzten Haushälterin aufgeschrieben. Sie können sie anrufen und mit ihr besprechen, was hier getan werden muss.“
Wie betäubt betrachtete Gracie das Blatt in ihrer Hand.
„Der Chef meines Sicherheitsdienstes steht draußen vor der Wohnungstür“, fuhr Rocco spöttisch fort. „Versuchen Sie also am besten gar nicht erst wegzulaufen.“
Sie hob den Zettel. „Ihr Assistent? Heißt das, ich habe keine direkte Leitung zu Gott?“, fragte sie bissig.
Rocco grinste. Gracies Puls beschleunigte sich, ihre Körpertemperatur stieg um einige Grade an. „Meine Privatnummer bekommen nur Leute, mit denen ich auch sprechen möchte. Diebe und Betrüger gehören nicht dazu.“
Bei seinen Worten schoss Wut wie eine Stichflamme in Gracie hoch. „Sie wissen nichts über mich!“, rief sie wütend. „Gar nichts!“
„Ich weiß alles, was ich wissen muss“, erwiderte er kalt. „Versuchen Sie, nichts anzustellen, bis ich zurückkomme.“ Er drehte sich um und ging.
Was für ein Mensch muss man wohl sein, damit Rocco einem seine Telefonnummer gibt? überlegte sie, während sie ihm nachschaute. Sie stellte sich vor, wie er sanft und freundlich in den Hörer sprach.
Ärgerlich schüttelte sie diese albernen Gedanken ab. „Glauben Sie bloß nicht, dass Sie damit durchkommen!“, rief sie ihm hinterher. „Sie sind nichts anderes als ein größenwahnsinniger Tyrann!“
Rocco drehte sich um. Als Gracie den Ärger in seiner Miene sah, setzte ihr Herz vor Angst einen Schlag aus. Aber sie fürchtete sich nicht vor ihm, sondern vor ihrer eigenen unkontrollierbaren Reaktion auf ihn. Wie war es möglich, dass dieser Mann mit jedem Blick diese schmerzhafte Sehnsucht in ihr auslöste?
„Dann rufen Sie doch die Polizei!“, fuhr er sie an. „Und während Sie mit ihnen reden, können Sie ihnen auch gleich von den neuesten Aktivitäten Ihres Bruders erzählen.“
„Sie wissen genau, dass ich das nicht tun kann.“
„Dann machen Sie sich am besten mit dieser Wohnung vertraut – in der nächsten Zeit wird das Ihr Zuhause sein.“
Nachdem er gegangen war, versuchte Gracie vergeblich, wütend auf ihn zu sein. Aber zu ihrem maßlosen Ärger konnte sie nur daran denken, wie er sich gestern darum gekümmert hatte, dass sie etwas zu essen bekam.