Zwei Stunden später

Ich musste erst mal eine Pause machen, so viel hab ich ewig nicht mehr mit der Hand geschrieben. Es gab inzwischen Abendbrot. Eine Inhaftierte geht mit dem Essenwagen von Zelle zu Zelle und verteilt Brot, Butter oder Margarine, Wurst, Käse, Marmelade, manchmal Obst für jede von uns. Das ist für abends und das nächste Frühstück gedacht. Nun ja, man wird satt. Ich weiß, dass das hier kein Nobelhotel ist.

Aber zurück zum Prozess. Vieles hab ich gar nicht richtig mitgekriegt. Sieben Stunden da sitzen und zuhören, was alles ausgebreitet wird bis hin zu meinen Nächten mit deinem Vater – manchmal hab ich einfach abgeschaltet.

Michael empörte sich in einer Pause gegenüber meinem Verteidiger, dass der Staatsanwalt von Jochens erheblicher gesundheitlicher Belastung gesprochen hätte: Unglaublich, jeder habe doch gesehen, dass er zu viel Bier gesoffen, Zigaretten und Marihuana geraucht und damit geprahlt habe, er müsse nur abspritzen, dann sei alles okay. Und wieso der Druck zu allabendlichem Geschlechtsverkehr nicht als Vergewaltigung in der Ehe gewertet worden sei, was seit 1997 ein eigenständiger Straftatbestand ist? Der Verteidiger beruhigte ihn, all das würde er in seinem Plädoyer anmerken.

Der Staatsanwalt sagte in seinem Plädoyer, Jochen Schwarz schien mich und unsere Tochter zwar all die Jahre als seine Leibeigenen betrachtet zu haben, deshalb sei er jedoch kein schlechter Mensch gewesen! Schließlich entspräche solches Verhalten seiner Persönlichkeitsstruktur.

Das hat Sandra und Micha mächtig empört, wie sie mir später erzählten. Sollte das etwa eine Entschuldigung sein? Als ob eine Persönlichkeitsstruktur Entschuldigung für alles sei, Grobheiten und Gewalt rechtfertigen könne!

Auch Herr Brandes, mein Verteidiger, ging darauf ein. Eine permanent ausgeführte Straftat – nämlich Demütigungen, physische und psychische Gewaltausübung, tägliche sexuelle Nötigung – könne man nicht mit Persönlichkeitsstruktur entschuldigen. Nur vier Prozent aller vergewaltigten Ehefrauen würden ihren Mann anzeigen, dass Frau Schwarz es nicht getan hat, könne man ihr nicht vorwerfen.

Zuvor hatte Herr Brandes lange mit mir gesprochen. Bei ihm konnte ich mir alles von der Seele reden, meinen Frust, meine Ängste, meinen Ekel, ich konnte auch von meinen Bemühungen erzählen, diesem Dilemma zu entkommen. Er hörte mir zu, von ihm fühlte ich mich verstanden. So klang jedenfalls sein Plädoyer. Einige im Saal wischten sich sogar verstohlen über die Augen, so berührt schienen sie von seinen Worten. Aber es hat wenig genützt.

Dass Jochens sogenannte Persönlichkeitsstruktur normal ist, hatte ich mir auch lange schöngeredet. Ich hatte einmal Ja gesagt, also müsse ich mein Schicksal annehmen, dachte ich. Große Liebe und Zärtlichkeit und Füreinander da sein, wenn die erste Verliebtheit vorbei ist, gibt’s eben nur im Film. Andererseits: Weder bei meinen Eltern noch bei meinen Großeltern hörte ich jemals hässliche Worte! Auch Micha und Sandra sind gut zueinander. Aber als ich endlich aufgewacht bin, klemmte die Karre schon zu sehr im Dreck.

Ob die Richter und die Schöffen wirklich begriffen haben, wie es mir ergangen ist? Einmal hab ich gesehen, wie der Kopf der beisitzenden Richterin hochzuckte, sie war wohl eingenickt. Sandra erzählte mir, sie habe mehrmals erkennbar gegen den Schlaf angekämpft.

In der Urteilsbegründung sagte der Vorsitzende Richter, ich sei haarscharf an einer lebenslangen Haftstrafe vorbeigeschrammt, darüber seien sich der Staatsanwalt und die Kammer schon vor der Verhandlung einig gewesen. Ich habe erst viel später kapiert, dass so was eigentlich ein Unding ist: Die einigen sich auf ein Strafmaß, ohne mich vorher gesehen und meine Meinung gehört zu haben? Aber in dem Moment hab ich gar nicht alles begriffen, was er geredet hat. Hab es später erst in Ruhe nachgelesen. Schwarz auf Weiß steht da im Namen des Volkes: »Die Kammer sieht als strafmildernd die überdurchschnitt­liche Haftempfindlichkeit der Angeklagten an, die hauptsächlich darauf beruht, dass sie auf Jahre hinaus von ihrer geliebten Tochter getrennt ist und nicht für sie sorgen kann. Nicht außer Acht gelassen hat die Kammer den bisherigen rechtstreuen Werdegang der Angeklagten und dass sie ihre wirtschaftliche Existenz verloren hat.«

Nun liegen »nur« zwölf Jahre Gefängnis vor mir, statt lebenslanger Haft, wie der Richter sagte.

Das sind zwölf Sommer und zwölfmal Advent und Weihnachten. Das sind 288 Monate, 105120 Tage … Vor allem aber sind es zwölf Jahre ohne dich, meine geliebte Kleine. Wenn ich rauskomme, bin ich fünfundvierzig, du bist zwanzig. So viele Jahre ohne Mutter, wie sollst du das ertragen? Kann dir abends nicht mehr vorlesen, nicht mehr mit dir singen; kann dir nicht beistehen bei Prüfungen – Vokabeln abfragen, Gedichte abhören, Diktate üben, unbekannte Gleichungen lösen. Kann dich nicht trösten beim ersten Liebeskummer, dir nicht bei Grippe eine Hühnersuppe kochen, Medikamente besorgen, kann dir nicht raten bei Konflikten mit deinen Freundinnen, nicht zuhören beim ersten Verliebtsein, nicht helfen bei der Berufswahl … Lieber Gott, wie soll ich das aushalten? Aber viel schlimmer: Wie wirst du das aushalten ohne meine Zärtlichkeit und Fürsorge? Wie wirst du über mich denken? Wie reagieren, wenn irgendjemand – und es gibt immer und überall Leute, die nichts für sich behalten können – wenn also irgendjemand hässliche Bemerkungen macht über deine Mutter, die im Knast sitzt, wie wirst du es schaffen, damit umzugehen? Ich bete jeden Abend zu Gott, dass das Band zwischen uns nicht reißt. Und dass Sandra dir Mutterersatz sein kann und dich stark macht, dass mein Bruder dir die Liebe gibt, die dein Vater vermissen ließ, dass Sebastian und Nora dir liebevolle Geschwister sind! Wie ich ihnen das jemals danken kann, ist mir schleierhaft.

Sie haben sofort richtig gehandelt, haben dich in deiner Schule ab- und in Sebastians und Noras Schule angemeldet. Nun liegen 35 Kilometer und ein Fluss zwischen deiner alten und deiner neuen Umgebung, und ich wünsche sehr, dass das reicht, um dich so weit wie möglich unbelastet von der Tat deiner Mama leben zu lassen. Es ist schlimm genug für dich, ohne mich aufzuwachsen. Und schwer, immer darauf zu achten, wem du was erzählst. Diese Heimlichtuerei und vielleicht auch Lügerei muss als ein fürchterlicher Druck auf dir lasten – wie wirst du den nur ertragen können? Oh, Gott, warum kann ich dir nicht helfen? Warum habe ich dir das alles nicht ersparen können?

Bei uns zu Hause wurde nie viel geredet. Die Eltern verstanden sich offenbar ohne viele Worte, meine Brüder sind auch nicht gerade geschwätzig, und so habe ich viel mit mir alleine abgemacht. Mein Vater arbeitete in der Druckerei im Schichtdienst, meine Mutter kam am Nachmittag von ihrer Arbeit in einer Gärtnerei nach Hause. Dann kümmerte sie sich um den Haushalt. Sie fragte zwar immer nach der Schule und ob wir die Hausaufgaben erledigt hätten, das war’s dann aber auch. Micha und ich kamen gut allein zurecht. Helmut machte damals schon eine Lehre und lebte im Internat. Wenn ich wirklich mal ein Problem hatte, hörte meine Mutter zu und gab sich Mühe zu helfen. Jetzt habe ich dicke Probleme, und sie lebt nicht mehr. Hätte mir aber auch nicht helfen können. Ich bin sicher, sie schaut mir von da oben zu und behütet dich und mich auf irgendeine Art und Weise. So habe ich auch dich zu trösten versucht, als du nicht begreifen konntest, dass deine Oma nicht mehr für dich da war. Für dich hatte sie viel mehr Zeit gehabt als für ihre eigenen Kinder, aber als du auf die Welt kamst, war sie ja längst Rentnerin.

Meine liebe kleine Julia, ich habe so schreckliche Sehnsucht nach dir! Wie soll ich die Zeit ohne dich überstehen? Hier muss ich meinen Kummer, meinen Schmerz für mich behalten. Zähne zusammenbeißen und durch. Meiner Mitbewohnerin ergeht es schließlich nicht anders. Deren Gejammer würde ich mir auch ungern anhören wollen. Wer hier drin ist, sitzt zu Recht, so viel habe ich immerhin begriffen.

Ich muss heulen. Nein, das soll niemand sehen. Ich schreibe später weiter.