Ach, Julia, das soll kein Brief sein, sondern ein Ventil für mich und meine Gefühle. Irgendwie muss ich meine Nöte, meinen Frust ablassen, sonst platze ich. Und wem sollte ich sie hier erzählen – es geht doch allen, oder den meisten jedenfalls, ähnlich wie mir!
Es ist der Geruch, der mir so auf den Magen schlägt, ein Gemisch aus undefinierbaren Reinigungsmitteln, zu lange getragener Wäsche und abgestandenem Rauch. Da kann man lüften, so viel man will, es nützt nichts. Sogar meine Sachen müffeln schon. Vielleicht fiel mir der Zellenmief heute besonders auf, weil ich vorhin auf dem Hof eine Ahnung von Frühling in der Luft spürte. Der Forsythienstrauch strahlt schon Gelb, die Büsche haben dicke grüne Knospen, und ich bekam eine wilde Sehnsucht nach mehr … nach Wäsche, im Wind getrocknet, nach Erde kurz nach dem Regen, nach frischem Heu. Stattdessen Gefängnismuff und ab und zu eine Wolke von Haarlack oder Deo.
Vielleicht sollte ich ein Extra-Heft anlegen für solche Frust-Ausbrüche? Andererseits – warum sollst du nicht eines Tages erfahren, was Gefängnis bedeutet, welche Gefühle in einem hochkommen, was mir – außer dir natürlich – fehlt, was mich nervt und manchmal verzweifeln lässt? Obwohl ich gegen solche Anfälle ankämpfe, so gut es geht.
Und da sich der Mensch an vieles gewöhnt, werde ich mich auch an diesen Geruch gewöhnen und mir Gedanken an Frühlingsdüfte aus dem Kopf schlagen.
Auch die Nächte sind keine Erholung. Auf den Fluren ist es zwar still, keine Stahltür knallt schrill ins Schloss, kein Gezicke, kein Geschrei, auch kein Gelächter. Dennoch ist hier in der Hütte keine Ruhe. Eine schnarcht wie ein alter Mann, und bin ich endlich unter dem Schnarchrhythmus eingeschlafen, schrecken drei hoch, weil eine aufs Klo muss und die Spülung rauscht wie der Rheinfall von Schaffhausen. Zuvor der ständige Kampf ums Fenster: Sabrina kann nur bei offenem Fenster schlafen, Penka nur im geschlossenen Mief. Anita, die Älteste von uns, hat jedenfalls durchgesetzt, dass der Vorhang zugezogen ist, damit das Licht vom Gefängnishof nicht die Zelle ausleuchtet. Ein Glück, dass es überhaupt einen Vorhang gibt, das ist keineswegs Standard. Keine Ahnung, wer den angebracht hat. Ich halte mich jedenfalls erst mal mit Meinungsbekundungen zurück und bete, dass keine durchdreht. Aber immerhin ist wenigstens das Radio still, das sonst den ganzen Tag dudelt, wenn Penka und Sabrina da sind.
Ich hab Anita mal gefragt, ob ihr das Radio-Geplärre nicht auf die Nerven geht.
»Natürlich«, hat sie gesagt, »aber ich schalte innerlich ab. Ich benehme mich hier wie eine Schwachsinnige und sage mir immer wieder: Es geht vorbei.«
»Du – wie eine Schwachsinnige?«
»Guck doch mal um dich: Je niedriger der Intellekt der Frauen, die hier sind, desto besser geht es ihnen hier. Sie werden versorgt, brauchen sich um nichts zu kümmern, ihre Tage sind strukturiert. Haben sie ein Problem, wenden sie sich an eine Beamtin. Zuerst habe ich geglaubt, hier könnte ich lesen, wozu ich draußen nicht gekommen bin. Aber je mehr ich mich mit intellektuellen Dingen beschäftigen würde, desto mehr würde ich das Leben draußen vermissen. Wenn ich mich mit trivialem Mist, wie diesen bunten Blättern, Rätseln, billigen Liebesromanen, befasse, passt das hierher. Das ist so weit weg von meinem Leben, dass es nicht wehtut. Fertig. Sobald ich nur ein Türchen aufmache, merke ich, was mir fehlt.«
»Und wenn du doch mal einen richtigen Hänger hast? Oder kommt das bei dir nicht vor?«
»Doch, das kommt vor. Unverhofft. Da reicht die Bemerkung einer Bediensteten, die sich auf das Wochenende freut. Oder wenn ich am Telefon mitkriege, dass meine Tochter traurig ist. Und natürlich die Geburtstage meines Mannes, meiner Kinder, überhaupt die Feiertage …«
»Und dann?«
»Dann denke ich daran, dass es weit Schrecklicheres gibt: Krieg. Krebs. Tod eines mir lieben Menschen. Das ist zwar eine schlimme Zeit hier, aber sie ist begrenzt. Ich komme eines Tages hier raus, es hört auf.«
Von Anita kann ich viel lernen.