Montagabend, Mai 2007

Übrigens, mein großer Bruder Helmut, der vorigen Monat mal eine Stunde hier war, hat mich gefragt, ob ich nicht meinen Geburtsnamen wieder annehmen möchte. Auf die Idee war ich gar nicht gekommen, aber jetzt bin ich ganz besessen davon. Eine Sozialarbeiterin, die ich nach der Möglichkeit gefragt habe, will mir dabei behilflich sein. Sandra und Micha finden die Idee sehr gut, sie wollen mir das nächste Mal die nötigen Unterlagen mitbringen. Ich habe sie auch gebeten rauszukriegen, ob ich auch deinen Namen ändern lassen kann. So eine Namensänderung soll nicht teuer sein, hat die Sozialarbeiterin gesagt. Nur Personalausweis ändern lassen wird teurer. Reisepass und Führerschein brauche ich vorläufig nicht.

Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Brüder und ohne Sandra, die mir so lieb ist wie eine Schwester, machen würde. Nicht nur, dass sie dich aufgenommen haben, Helmut hat einen Makler mit dem Hausverkauf beauftragt. Meine persönlichen Sachen und ein paar Lieblingsstücke haben sie bei Papa in seinem Haus untergebracht. Hausrat und was ihr nicht gebrauchen könnt, wollen sie über ebay verkaufen.

Ich lasse Gedanken an meine vertraute Umgebung nicht zu, ich fiele sonst in ein tiefes Loch, und depressive Stimmungen sind hier drinnen ungut. Wenn man nicht sicher genug auftritt, läuft man Gefahr, von den anderen Frauen – zumindest von einigen – ausgebeutet zu werden. Es soll hier Frauen geben, die sich von anderen die Zellen sauber machen lassen oder von ihnen Zigaretten verlangen, wenn ihre alle sind. Solche Methoden sollen im Männerknast unvergleichlich härter sein, aber was hier läuft, ist auch nicht gerade gemütlich.

Zugegeben, diese JVA ist wesentlich komfortabler als zum Beispiel eines dieser Lager in Russland; ich hab mal im Fernsehen gesehen, wie die Menschen dort hausen müssen – grauenvoll! Aber es bleibt das unfreiwillige Zusammenleben auf engstem Raum mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, mit denen man im normalen Leben keine Stunde reden würde, die man im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen kann. Anita würde sich unter anderen Umständen wohl nie mit mir abgeben. Und mit Sabrina und Penka, unseren beiden Mitbewohnerinnen, hätte ich nichts zu schaffen. Penka ist Bulgarin, hab ich inzwischen mitgekriegt, sie sitzt, wie viele hier, wegen BTM, also wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Meistens ging es um Beschaffungskriminalität. Im Pausenhof sehe ich sie oft mit anderen Frauen aus Osteuropa zusammenhocken. Auch einigen aus Afrika ist das Kürzel BTM vertraut. Deshalb wohl die scharfen Briefkontrollen. Wie dennoch Rauschgift hier reinkommt, ist mir – noch – schleierhaft. Offensichtlich gibt es Mittel und Wege, das Zeug zu beschaffen und zu bunkern. Denn das kann man ja nicht zwischen der Wäsche aufbewahren, dazu gibt es zu oft und zu überraschend Zellenkontrollen.

Gefängnis ist eigentlich das bessere Wort für eine solche Anstalt, nicht das Wortungetüm Justizvollzugsanstalt. Ich wurde eingefangen, war befangen, bin gefangen. Und kann nichts selbst entscheiden. Allenfalls ob ich rauche oder nicht, ob ich viel esse oder wenig. Alles läuft nach Plan, Abweichungen gibt es nur an Sonn- und Feiertagen.

Aber ich kann nicht rausgehen, wann ich will, weder in einen Garten noch auf einen Balkon, kann nicht mal einfach so vor die Tür ins Freie treten. Das Schlimmste: Die Menschen, die ich liebe, vor allem dich, mein Julchen, darf ich nur vier Stunden im Monat sehen. Das ist das Härteste.

Ansonsten ist alles geregelt, Frauen, die auf sich allein gestellt mit dem Leben Probleme haben, finden das vielleicht gut, vielleicht lernen sie hier, ihrem Leben Struktur zu geben. Ich musste mich erst dran gewöhnen, rund um die Uhr bewacht zu sein, kaum Kontakt zur Außenwelt zu haben, für alles ein Antragsformular auszufüllen und der diensthabenden Beamtin zu geben, ob es nun der Wunsch nach Wäschetausch ist, nach Kopfschmerztabletten oder nach sonstigen Dingen, die ich in diesem Laden noch so brauchen werde. Hoffentlich nie einen Arzt! Und manchmal zucke ich immer noch zusammen, wenn eine der Stahltüren mit scharfem Knall ins Schloss fällt. Und wenn die Zelle zugeschlossen wird, macht mir das metallisch-helle Schrap-schrap-Geräusch des Schlüssels immer noch doppelt schmerzhaft klar, dass ich hier nicht rauskann. In der ersten Zeit schnürte mir dieser Gedanke manchmal regelrecht die Luft ab. Ich hätte an die Tür hämmern können vor Panik – was, wenn hier ein Feuer ausbricht? Oder eine der Frauen durchdreht und die anderen bedroht? Kommt dann schnell genug Hilfe? Wie viele Beamte oder Beamtinnen haben nachts Dienst in dieser Anstalt? Und wo halten die sich auf? Sind sie wach oder schlafen sie auch? In jeder Zelle gibt es einen Notrufknopf, aber hört auch jemand das Signal?

Inzwischen hat mich Anita beruhigt und gesagt, dass jede Beamtin und jeder Beamte im Dienst einen Pieper am Körper trägt und demzufolge Notrufe hört. Dennoch brauchte ich etliche Nächte, um abends einigermaßen ruhig einschlafen zu können.