Samstagabend, Juni 2007

Es ist schon spät. Die anderen scheinen zu schlafen, ich bin hellwach, sitze am Tisch und habe die Lampe mit einem T-Shirt so abgedunkelt, dass das Licht nur auf mein Heft scheint. Seit etlichen Nächten quäle ich mich mit Gedanken an dich, meine Kleine. Ein Kind sollte aufwachsen voll Vertrauen in seine Eltern, die es schützen vor den Gefahren der Welt. Ich habe dich bekommen aus Egoismus, weil ich unbedingt ein Kind wollte, weil ich glaubte, wenn so ein kleines Wesen erst mal da ist, wird Jochen sich ändern, wird es ebenso lieben und behüten wollen wie ich. Wird alles tun wollen, damit es in Sicherheit aufwachsen und sich zu einem starken Menschen entwickeln kann. Und was haben wir dir geboten? Einen lieblosen, gewalttätigen Vater, der dich ebenso beschimpft und kleingemacht hat wie mich, und eine schwache Mutter, die dich nicht vor ihm schützen konnte und dir kein Vorbild war. Ein arm­seliges Elternbild! Wie sollst du mit diesem Dilemma klarkommen? Ich bete, dass dein Leben bei Sandra und meinem Bruder die alten Erfahrungen überlagert.

Ob sich Jochen möglicherweise in seinem Macho-Hirn einen Jungen als sogenannten Thronfolger gewünscht hat? Was keine Entschuldigung für seine Ausfälle ist. Gesprochen haben wir nie darüber. Nur einmal, als ich mit dir schwanger gewesen war, sprachen wir über Namen. Einen Sohn hätte er Max nennen wollen, nach seinem Großvater, den er sehr geliebt hatte. Die Namenswahl einer Tochter hatte er mir überlassen. Ich hätte mich natürlich auch über Max gefreut, Hauptsache, gesund und alles dran.

Aber ob Mädchen oder Jungen, kleine Kinder sind nun mal tapsig und unbeholfen. Ich erinnere mich, als wir einmal am Kaffeetisch saßen, du noch auf deinem Kinderklappstuhl, da hattest du eine Tasse umgekippt. Der Kakao schwappte auf den Tisch und auf Jochens frisch gewaschene Jeans. Er bellte los: »Du ungeschicktes Trampel, kannst du nicht aufpassen, jetzt muss ich mich umziehen, blöde Göre …«

Du warst so erschrocken, dass du erst nach ein paar Sekunden anfingst zu weinen. Mein Gott, du warst drei! Eine Dreijährige kann man doch nicht so anschreien! Ich hab dich auf den Arm genommen und versucht, dich zu trösten.

»Brüll das Kind nicht so an«, sagte ich leise.

Aber Jochen war nicht zu bremsen: »Du halt dich zurück, pass gefälligst besser auf sie auf, guck dir an, was sie gemacht hat …«

»Doch nicht mit Absicht!«

»Das wäre ja noch schöner, wenn sie das mit Absicht getan hätte!«

Das war erst der Anfang. Später hat er dir auch mal eine Ohrfeige gegeben, wenn ihm was nicht passte. Wie weh mir tat zu sehen, wie du schützend die Ärmchen vor das Gesicht hieltst, wenn er auf dich einblaffte wegen irgendeiner Kleinigkeit, aus Angst, wieder eine Ohrfeige einzufangen! Kleingemacht hat er dich, runtergeputzt, niemals ein Lob, immer nur Tadel, nie hast du ihm genügt.

Warum habe ich es nicht wenigstens deinetwegen fertiggebracht zu gehen, wenn ich es schon meinetwegen nicht konnte? Warum war ich so schwach?

Immer und immer wieder stelle ich mir diese Fragen, drehe mich im Kreis und komme nicht weiter.