Meine liebe Julia, heute fällt es mir besonders schwer, dir zu schreiben. Heute bist du zehn Jahre alt geworden, es ist dein zweiter Geburtstag ohne mich. Ich durfte ausnahmsweise zehn Minuten mit dir telefonieren. Die nette Frau Lohse hatte Dienst, eigentlich muss man nämlich Telefonate wie so vieles andere auch mit einem Formblatt beantragen. Am besten zwei Wochen vorher. Ich war sehr dankbar, dass sie es erlaubt hat, dennoch, was ist ein kurzes Telefonat? Früher haben wir Tage vorher Einladungen an deine Freundinnen verschickt und überlegt, welchen Kuchen ich backen, welches Abendbrot ich machen soll und was ihr spielen wollt. Am liebsten bin ich mit euch Kindern ins Schwimmbad gefahren oder ins Kino. Hauptsache, nicht bei uns im Haus, ich hatte immer Angst, dass Jochen irgendwas nicht passte und er explodieren würde. Die Angst muss ich nun nicht mehr haben. Du wirst mit Nora und Sebastian und deinen Freundinnen feiern, und ich weiß, dass Sandra alles liebevoll ausrichten und Micha deine Freundinnen heimfahren wird.
Ich freue mich so sehr, dass meine kleine Überraschung pünktlich bei dir angekommen ist und dass sie dir offenbar Freude bereitet hat. Ich hatte nämlich befürchtet, dass du schon zu groß bist für Pinguin Pondus, aber wenn es dein Talisman sein wird, freut es mich umso mehr. Klar hab ich ihn selbst gehäkelt. Ich weiß noch genau, wie die Bilder in deinem Kinderbuch aussehen. Erinnerst du dich, dass ich dir Pinguin Pondus immer und immer wieder vorlesen musste? Du warst regelrecht verliebt in den kleinen Kerl! Den roten Schal zu häkeln war natürlich kein Problem, Schnabel und Füße waren viel schwieriger. Ich hoffe, dass das Blau der Flügel auch das richtige Blau ist, du hast doch das Buch noch zum Vergleichen? Häkelnadel und Wolle hat mir die Frau besorgt, die hier eine Handarbeitsgruppe leitet. Ich konnte mir deshalb die Farben der Wolle nicht aussuchen. Vielleicht gehe ich öfter in die Gruppe, genäht, gehäkelt und gestrickt hab ich schon immer gern, wenn ich früher auch kaum Zeit dazu hatte. Jochen fand solche Tätigkeiten nutzlos, wenn sie nicht zur Verschönerung des Hauses beitrugen. Hier lenkt mich jegliche Beschäftigung mit anderen ab vom Grübeln.
Aber ich wollte dir erzählen, wie das mit dem Geld ist. In der Küche verdiene ich Geld, das bekomme ich aber nicht ausgezahlt. Jede von uns hat drei Konten: Hausgeld, Eigengeld und Überbrückungsgeld, das ist für die Zeit nach der Entlassung. Ist davon ein bestimmter Satz erreicht, geht alles Weitere auf das Eigengeldkonto. Damit kann man Schulden regulieren, aus einem Katalog etwas Größeres bestellen, Raten zahlen, zum Beispiel für einen Fernseher oder ein Radio.
Vom Hausgeldkonto werden die Einkäufe abgebucht. Zweimal im Monat kreuzt man auf einer Einkaufsliste an, was man haben möchte: Kaffee, Tee, Dosenmilch, Zigaretten, Nudeln, Backmischungen, Kopfsalat und Thunfisch, Salami, Käse und Chips, Erdnusskerne und Haferflocken, Zahncreme, Duschgel, Nivea, Multivitamintabletten, Geburtstagskarten, Notizblöcke, Kugelschreiberminen, Batterien, Briefmarken, Klebestifte, Zeitschriften und Sportschuhe … Pfeffer nicht, das könnte man Bediensteten ins Gesicht streuen. Hefe auch nicht, damit könnte man Alkohol ansetzen. Kaugummi ebenfalls nicht, damit lassen sich die Türschlösser zukleben. Deo nur als Roller, Nagellackentferner und Haarlack ohne Alkohol, Haarlack nur als Pumpspray und alles ausschließlich in Plastikflaschen. Man kommt erst mit der Zeit dahinter, warum das alles so ist und muss sich halt damit abfinden.
Das Bestellte wird am Einkaufstag in einer Box geliefert. Auf dem Lieferschein steht statt des Namens ein Code, so dass der Lieferant nicht weiß, wer in welchem Knast sitzt und wer was bestellt. Der Lieferant ist nämlich ein Logistikunternehmen, das mit großen Einzelhandelsketten zusammenarbeitet und deutschlandweit über achtzig Gefängnisse beliefert. Klar, dass die Gewinn machen wollen, also ist hier drin alles ein bisschen teurer als draußen.
Martina aus unserer Wohngruppe erzählte mal, dass es in der JVA, in der sie vorher gewesen war, einen Tante-Emma-Laden gibt, in dem die Frauen einmal im Monat richtig auswählen und kaufen können. Allerdings sei alles extrem teuer. Für ein Duschbad zum Beispiel, das draußen 99 Cent kostet, musste sie zwei Euro bezahlen. Aber ähnlich hoch sind die Preise auch bei uns. Der Lieferant hat eben das Monopol und kann offenbar die Preise gestalten, wie es ihm passt.
Warum Martina erst woanders gewesen war, wollten wir wissen.
»Weil ich dort gelebt habe, aber nun näher bei meinen Eltern sein wollte«, sagte sie.
Martina ist Anfang Zwanzig und Gärtnerin. Und sehr darauf bedacht, dass ihre Hütte super penibel geputzt ist. Sie sieht immer sehr gepflegt aus. »Man darf sich hier auf keinen Fall gehenlassen, das ist eine Frage der Selbstachtung!«, hat sie mal erklärt, und da rennt sie bei mir offene Türen ein.
Einmal, wir saßen nach dem Abendbrot noch beisammen, hab ich sie gefragt: »Wenn du bei der berühmten guten Fee drei Wünsche frei hättest, was würdest du dir wünschen?«
»Dass meine Eltern gesund bleiben und dass die Tat nie geschehen wäre.«
Ich habe sie natürlich nicht nach der Tat gefragt, das tut man hier nicht. Entweder eine erzählt freiwillig oder eben nicht.
»Das waren erst zwei Wünsche. Und der dritte?«
»Fällt mir nix ein.«
»Später einen guten Job, eine Wohnung?«
»Nö, das brauche ich mir nicht zu wünschen. Dafür werde ich kämpfen.«
Tolle Haltung, alle Achtung!
Aber zurück zum Geld: Schulden habe ich haufenweise. Ich weiß nicht, ob das Geld vom Hausverkauf für die Gerichtskosten und den Anwalt reichen wird. Du bekommst zwar Halbwaisenrente, bis du eine Ausbildung abgeschlossen hast, aber die muss ich irgendwann an die Rentenversicherung und an das Sozialamt zurückzahlen. Der Staat verlangt schließlich Schadenersatz. Und an mein Alter darf ich gar nicht denken. Unsere Arbeitsjahre hier werden nämlich nicht auf die Rentenpunkte angerechnet, weil die JVA keine Beiträge an die Rentenversicherung abführt. Dafür haben sie kein Geld. Schließlich würden Strafgefangene im Schnitt nur neun Prozent vom draußen üblichen Durchschnittslohn bekommen, weil sie auch nur auf eine Produktivität zwischen zwanzig und dreißig Prozent kämen. So wie wir in der Küche arbeiten und was ich von den anderen höre, kann ich das mit der Arbeitsproduktivität nicht recht glauben. Muss ich aber, kann schließlich nicht das Gegenteil beweisen.
Das alles habe ich von einer Frau erfahren, die mit mir in der Küche arbeitet. Sie meinte, das Sozialgesetzbuch hätte schon vor vierzig Jahren geändert werden sollen, das ist aber nie passiert. In vielen Ländern Europas sei das mit der Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung anders geregelt, aber bei uns haben wir hinter Gittern eben keine Lobby. Woher sie das weiß, konnte ich nicht fragen, wir mussten weiter arbeiten, und später habe ich es vergessen.
Das soll dich aber nicht bekümmern, schließlich habe ich mir das alles alleine eingebrockt. Und wer weiß, was noch passiert, bis ich alt bin. Ich muss jetzt erst mal die Zeit hier heil überstehen. Und ich darf dich auf keinen Fall verlieren, mein Sonnenschein, das ist meine größte Angst. Ich baue so sehr darauf, dass Sandra und Micha mit dafür sorgen, dass du dich nicht von mir abwendest.
Jetzt ist es spät geworden. Heike schläft schon, da muss ich meine Tränen nicht verstecken. Ich sehe dich vor mir, wie du in deinem Bettchen liegst und Pinguin Pondur auf dich aufpasst, und ich bin unendlich traurig. Behüt’ dich Gott, mein kleiner Liebling!