Keine gibt zu, dass sie sich vor Weihnachten fürchtet. Ostern ist nicht ganz so schlimm, und Silvester kriegt man irgendwie vor dem Fernseher rum. Aber Heiligabend ist schrecklich. Auf jeder Piste steht ein geschmückter Weihnachtsbaum, in den Zellen sind Adventskranz oder Weihnachtsgestecke untersagt. Auf den einzelnen Stationen gibt es in der Vorweihnachtszeit Bastel- und Backaktionen.
Jede erhält einen kleinen Stollen, einen Schokoladenweihnachtsmann, drei Mandarinen. Früher durfte man Päckchen bekommen, erzählte eine, heute ist das verboten, zu viel Aufwand wegen der Kontrollen. Da sehr viele Frauen hier BTMer, also drogenabhängig sind oder waren, fürchtet man Drogenschmuggel. Seelsorger und Psychologen schieben Sonderdienste, falls eine durchdreht. Heiligabend sind alle Zellen den ganzen Tag offen, damit niemand alleine sein muss.
An zwei Tagen hab ich gearbeitet. Am 24. haben wir Hähnchen mit Kartoffelsalat gemacht, am ersten Feiertag gab es Wildrahmgulasch mit Rotkohl und Kartoffeln. Stundenlang haben wir Kartoffeln geschält und Fleisch geschnitten. Da zu Weihnachten mehrere Gottesdienste angeboten werden, konnte ich am 24. nachmittags in die Kirche gehen. Ich war zwar rechtschaffen müde, aber ich wollte wenigstens eine Ahnung von Normalität erleben.
Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, als die Pastorin die bekannte Geschichte aus dem Lukasevangelium las:
»Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt …« Ich kann sie heute noch auswendig.
Als wir Kinder noch klein waren, ging die ganze Familie am frühen Nachmittag in die Kirche, um das Krippenspiel zu erleben. Später besuchten wir die Christvesper, auch Oma und Opa kamen mit. Nach dem Kirchgang verschwanden die Eltern im Weihnachtszimmer, das seit dem Vormittag abgeschlossen war. Wenn Papa das Glöckchen läutete, ging die Tür auf, und wir sahen die echten Kerzen am Baum leuchten. Bevor wir unsere Geschenke auspacken durften, sagten Helmut, Micha und ich unsere Gedichte auf, manchmal sangen wir auch ein Lied, das wir neu gelernt hatten. Und nach der Bescherung saß die ganze große Familie am festlich gedeckten Tisch zusammen. Solange ich denken kann, gab es Karpfen nach polnischer Art, also mit Pfefferkuchensoße und Sauerkraut, weil Oma aus Schlesien stammte. Ich erinnere mich auch, dass die Erwachsenen eine Karpfenschuppe in ihre Portemonnaies taten, angeblich wäre dann immer Geld drin.
Nach dem Essen saßen wir beisammen, erzählten oder spielten Halma, Kniffel oder Schöne neue Welt, ein Geografiespiel. Wie richtig und sicher erschien mir damals das Leben! Alles hatte seine festgefügte Ordnung. Wann und wie konnte es geschehen, dass aus dem fröhlichen, unbeschwerten Kind, das ich einmal gewesen war, eine total unsichere Jugendliche wurde?
Seit meiner Hochzeit war es auch mit dem Weihnachtskarpfen vorbei. Jochen schüttelte sich schon bei dem Gedanken an Karpfen, er bestand auf Kartoffelsalat, aber bitte mit viel Speck, und Würstchen.
Über den Erinnerungen war mir der Inhalt der Predigt entgangen. Und nun noch das gemeinsame Singen, das gab mir den Rest. Bei O du fröhliche war es mit meiner Fassung vorbei. Aber es kullerten nicht nur bei mir die Tränen, rechts und links von mir schniefte es auch. Keine schämte sich dafür. Es ist schon draußen schwer, in der Weihnachtszeit nicht sentimental zu werden. Hier drin aber liegen die Nerven blank, jede hat eigene Bilder im Kopf, eigene Erinnerungen, Träume und Sehnsüchte.
Danach saß ich mit Heike, Martina und Hummel, das sind in unserer Wohngruppe die beiden Jüngsten und beide Lebenslange, und den anderen in unserem Gemeinschaftsraum bei Cola, Tee oder Kaffee, Stollen und Keksen. Ein paar haben ferngesehen, wir vier haben lange Monopoly gespielt. So konnte rührselige Stimmung gar nicht wieder aufkommen. Warum das Mädchen, das eigentlich Juliane heißt, Hummel genannt wird, weiß ich nicht. Es passt aber zu ihr, sie kann kaum zwei Minuten still sitzen.
Am zweiten Feiertag konnte ich endlich dich, mein geliebtes Kind, in die Arme schließen. Ich hatte im Kreativzirkel für Sebastian eine Pudelmütze gestrickt, für dich und für Nora Kleider genäht (Sandra hatte mich mit den richtigen Maßen versorgt), Noras ist rot, deins dunkelblau mit rundem Ausschnitt, langen Ärmeln und einem angekrausten Rock. Dazu aus giftgrünem Stoff einen Schlauch als Bindegürtel. Dass du es sofort anprobiert hast, fand ich süß! Es steht dir wirklich gut, und ich glaube, deine Freude war so groß wie meine. Das Bild, das du mir gemalt hast, soll ich in meinem Zimmer aufhängen, hast du gesagt. Dieser wunderschöne Engel in seinem roten Kleid, mit den goldenen Flügeln und den langen blonden Haaren soll mich beschützen. Ich musste mich unglaublich zusammenreißen, um nicht wieder loszuheulen, als du mir das Bild schenktest. Aber weißt du was? Das ist das einzige Bild, das ich über meinem Bett angebracht habe. Und wenn ich die Knopfaugen sehe und den Lachmund, bin ich richtig gerührt.