Ich habe frei, weil ich am Wochenende Dienst hatte, Heike ist arbeiten, also kann ich ungestört schreiben.
Gut, dass die Feiertage vorbei sind. Auch wenn wir hier das ganze Drumherum auf ein Minimum beschränken, man denkt doch immer wieder daran, wie es draußen war und ist. Ich habe mich jetzt zu einem Gymnastikkurs Bauch-Beine-Po angemeldet, muss endlich was für die Figur tun. Ich stehe zwar fünf Tage hintereinander in der Küche, renne vom Tisch zum Herd zur Kochwanne, schleppe Wassereimer und Töpfe von riesigen Ausmaßen, aber die anschließenden zwei freien Tage hänge ich in unserem Bereich rum. Manchmal spiele ich mit einer der Frauen Tischtennis, aber das reicht nicht, um Pfunde abzubauen. Meistens hocke ich mit Heike zusammen; wenn wir nicht gerade Zeitung lesen, ich habe unsere Heimatzeitung abonniert, oder Briefe schreiben, quatschen wir – über Fernsehfilme, was wir uns für unser Leben danach vornehmen. Nie über unsere Taten.
Was mich ungemein freut: Weichelts schreiben mir regelmäßig liebe, aufmunternde Briefe. Dem ersten Brief hatten sie zehn Briefmarken beigelegt, um mir eine Freude zu machen. Was anderes dürfen sie nicht schicken. Was sie nicht wussten: Es sind jeweils nur drei Briefmarken erlaubt, die restlichen sieben musste ich abgeben, die wurden zu meiner Habe in die Effektenkammer gegeben. Warum das so ist und wann ich die wiederbekommen kann, habe ich noch nicht ergründet. Seltsame Bestimmungen herrschen hier.
Du erinnerst dich doch an Lita und Otto Weichelt? Sie waren für uns wie Großeltern. Weißt du noch, wie sie dich gehütet haben, als du nicht in den Kindergarten konntest wegen der fiebrigen Erkältung? Ich konnte nicht frei nehmen, weil bei uns im Laden Inventur war, und Sandra schniefte und hustete auch wie verrückt. Tante Lita hat dir Salbeitee gebrüht und für dich Kekse gebacken, und Onkel Otto hat dir vorgelesen.
Wenn ich bei ihnen Eier holte, haben wir immer über dieses und jenes geredet. Manchmal luden sie mich bei solchen Gelegenheiten ein, mit ihnen Kaffee zu trinken. Im Sommer saßen wir dann in der lauschigen Laube im Garten, im Winter in ihrem kuschligen Wohnzimmer. Seltsamerweise hatte Jochen nie gemeckert, wenn ich von ihnen zurückkam. Vor den beiden hatte er Respekt.
Jochens Vater war bis zu seinem Schlaganfall ein oller Blubberkopp, der seine Frau und Jochen fast ebenso behandelte wie Jochen mich. Nur Jochens Schwester hat er vergöttert: Püppi hier und Püppi da. Zuneigung und Wärme fand Jochen wohl nur bei seinen Großeltern. Bei Weichelts benahm er sich völlig anders als sonst, viel weicher und freundlicher. Lita habe Jochen an seine Oma erinnert; sie war gestorben, als er in die Schule gekommen war.
Jedenfalls half Jochen ohne zu zögern, wenn sie mal ein Problem mit dem Auto oder mit dem Rasenmäher hatten. Einmal bauten Otto und Jochen ein Wochenende lang neue Kaninchenställe, weil die alten fast zusammengekracht waren. Weichelts hatten also keinen Grund, Jochen nicht zu mögen. Deshalb schätze ich es besonders hoch ein, dass sie jetzt noch den Kontakt zu mir halten. Wie gern würde ich sie wiedersehen! Hoffentlich bleiben sie noch lange gesund.
Hier geht alles seinen vorgeschriebenen Gang. Aber neulich gab es auf dem Hof mal wieder Krawall. Eine Frau stürzte plötzlich auf Hummel zu, boxte und trat auf das Mädchen ein, zerrte an ihrem blonden Pferdeschwanz, dass ich dachte, sie reißt ihr den Skalp raus, sie spuckte ihr sogar ins Gesicht, dabei schrie sie wie eine Irre. Ich verstand immer nur: »Wenn du dich nicht so blöd angestellt hättest, wäre ich jetzt nicht hier, verdammte Mistkröte, Arschloch …« Die beiden diensthabenden Beamtinnen beeilten sich nicht gerade, als sie das Spektakel mitkriegten. Sie zogen sich langsam ihre Handschuhe an, guckten noch einen Moment zu, bevor sie die beiden trennten. Eine brachte die Angreiferin weg, die andere kümmerte sich um Hummel.
Nach dem Hofgang saßen Heike, Hanna, ich und ein paar andere im Gemeinschaftsraum, als Hummel vorbeischlich. Wir fragten sie, ob sie mit uns einen Tee trinken und reden möchte. Als hätte sie nur auf eine solche Aufforderung gewartet, setzte sie sich, schniefte noch ein paar Mal und fing dann etwas wirr an:
»Ich habe zwei Jahre in der Gosse gelebt, und das will ich nie wieder! Und ich kann doch keine Ausbildung machen, das nützt mir doch gar nichts, wie soll ich denn hier Praxiserfahrung sammeln, dabei ist mir eine Ausbildung wirklich wichtig.«
»Hummel, fang doch mal von vorn an«, sagte Heike vorsichtig, »was hat es mit dieser Frau vorhin auf sich? Woher kennst du sie?«
Hummel starrte die Tischplatte an. Sie saß neben mir, ich legte meinen Arm um sie, streichelte ihr über den Rücken. »Warum hast du in der Gosse gelebt?«
Das waren offenbar ein paar Fragen zu viel auf einmal, Hummel guckte wie ein Reh, das plötzlich an einer viel befahrenen Straße steht.
Allmählich kam folgende Geschichte raus: Hummel hatte eine Lehre als Masseurin und medizinische Bademeisterin abgebrochen, als sie einen jungen Mann kennenlernte und mit dem eine Wohnung bezog. Es gab häufig Zoff, er schmiss sie raus. Zurück in ihr Elternhaus wollte sie nicht, weil ihre Eltern wegen der abgebrochenen Lehre sauer waren und den Jungen ablehnten. Sie schlief in einem Haus, das abgerissen werden sollte, in der ein paar Jugendliche ihr Lager aufgeschlagen hatten, sie bettelte, klaute manchmal Lebensmittel. Duschen, Wäsche waschen und essen konnte sie in einem Kloster. Und dann lernte sie diese Frau kennen, mit knapp 30 neun Jahre älter als Hummel. Ab und zu durfte sie auch bei ihr und ihrem Mann übernachten, aber der Mann sah das nicht so gerne.
»Die Frau hat gesagt, sie wolle mir helfen, wollte mir eine Wohnung und Arbeit besorgen«, erzählte Hummel nun etwas flüssiger. »Ich hab ihr geglaubt und mich an sie geklammert. Dafür könne ich auch was für sie tun: Ihr Mann würde sie knechten und schikanieren, und sie wolle ihn umbringen, brauche dazu aber meine Hilfe. Zuerst hab ich das nicht ernst genommen, aber sie fing immer wieder davon an. Und ich hatte nicht den Arsch in der Hose zu sagen: Lass mich einfach in Ruhe, ich steige aus. Ich hatte Schiss, wieder alleine dazustehen. Und dann bin ich da so reingeschlittert.«
Hummel schniefte, trank den Tee in kleinen Schlucken, guckte auf die Tischplatte, als könne sie den weiteren Text dort ablesen, und wir anderen saßen ganz still. Es kommt selten vor, dass eine so offen ihre Geschichte mehr als einer Mitinhaftierten erzählt, und wir waren sechs oder sieben. Aber dann siegte unsere Neugier. Martina fragte: »Und dann habt ihr ihn umgebracht?«
Martina wohnt mit ihr in einer Hütte, und offenbar kannte sie Hummels Geschichte auch noch nicht.
»Ja. Zuerst haben wir es mit Gift versucht, aber das hat nicht geklappt.«
»Und woher hattet ihr Gift?«, fragten zwei gleichzeitig.
»Wir haben Tiefengrund genommen, so eine Art Voranstrich. Das haben wir mit Weinbrand-Verschnitt gemixt.«
»Und dann?«
»Dann hab ich ihn mit einem Küchenmesser erstochen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
Lange war es still im Raum. Bis eine fragte: »Und wie viel hast du gekriegt?«
Hummel fing schrecklich an zu weinen, stammelte dann weiter:
»Lebenslang. Ich wollte mich nach der Urteilsverkündung umbringen, aber ich wusste nicht, wie. Ich war nie gewalttätig, ich weiß nicht, warum ich das gemacht hab. Und jetzt muss ich mein ganzes Leben im Knast verbringen …«
»Nach zehn Jahren kannst du ein Gnadengesuch stellen«, sagte eine. »Dann bist du 31 und kannst noch viel aus deinem Leben machen.«
»Aber es ist so verdammt schwer«, schluchzte sie. »Das Schlimmste sind die Erinnerungen, diese Albträume. Immer wieder die Tat, derselbe Ablauf, dieselben Bilder. Und auf dem Hof und im Essenraum sehe ich diese Frau, der ich blöde Kuh so vertraut hab! Warum nur hab ich das getan?«
Wir haben Hummel getröstet so gut wir konnten und sind dann still auseinandergegangen. Hanna und Martina werden wohl noch eine Weile beruhigend auf sie eingeredet haben. Hummels Eltern kümmern sich übrigens von ferne um sie, so gut es eben geht.
Wieder lag ich an diesem Abend lange wach. Warum nur habe ich das getan? Das ist wohl eine Frage, die jede von uns immer aufs Neue beschäftigt. Warum habe ich keinen anderen Ausweg gefunden? Warum habe ich immer wieder erneut versucht, mit Jochen zu reden? Mir hätte doch schon beim dritten Mal klar sein müssen, dass er nur leere Versprechen abgab! Ich aber bin stets drauf reingefallen, wenn er sanft und lieb war und beteuerte, mir nie mehr wehzutun, immer in der irren Hoffnung, es möge wahr werden.
Stattdessen habe ich mich bei Nicole und Sandra ausgeheult. Nahm ihnen aber immer wieder das Versprechen ab, ihm gegenüber kein Wort über meine Klagen zu verlieren, ihn niemals anmerken zu lassen, was sie von mir wissen. Denn ich wusste, wenn jemand mit ihm über unsere Ehe spricht, wird es danach für mich noch schlimmer.
Ich hätte dich, mein Kind, nehmen und gehen müssen. In eine andere Stadt, es hätte gar nicht ein anderes Land sein müssen. Was war denn seine Drohung wert, mit der er mich einschüchterte: Ich finde euch überall! Wie sollte denn das möglich sein?
Wenn ich ehrlich bin, ich fürchtete mich davor, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Wir beide verdienten nicht üppig, aber so viel, dass es uns an nichts mangelte. Wir hatten genug zu essen, genug anzuziehen, wir rauchten beide und Jochen trank ziemlich viel. Wir brauchten jeder ein Auto, um zur Arbeit zu kommen, auch das war möglich. Wirtschaftlich ging es mir also gut – zu zweit. Mit meinem Gehalt allein und mit Kind hätte ich alt ausgesehen.
Und wir hatten das alte Haus gekauft, das wir Stück für Stück renovierten und ausbauten. Jochen setzte allen Ehrgeiz daran, aus dieser ehemaligen Dorfschule das schönste Haus des Ortes zu machen. Von Montag bis Samstag stand ich im Laden, an etlichen freien Tagen und so manchen Sonntag kellnerte ich beim Griechen, um ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Und abends hab ich mit am Haus gearbeitet. Es war also auch mein Haus. Und das alles sollte ich verlassen? War ich zu bequem? Zu träge? Zu ängstlich? Traute ich mir einen Neuanfang nicht zu? Wahrscheinlich traf alles zusammen zu.
Tiefengrund hat Hummel vorhin erwähnt. Damit hatte Jochen die Klinker des Hauses gereinigt. Mir hatte er aufgetragen, die Fugen mit einem Kratzer zu putzen. Ich hockte also in jeder freien Minute bis zur Dämmerung auf der Plattform, die er aufgebockt hatte, und scharrte in den Fugen rum. Häufig meckerte er von unten, dass ich wieder was falsch gemacht hätte.
In der Zeit feierte Helmut seinen 30. Geburtstag, er hatte Familie und Freunde eingeladen, und ich saß ziemlich matt am Kaffeetisch. Helmut fragte Jochen: »Warum lässt du sie so schwer arbeiten, du musst doch sehen, dass sie nicht mehr kann!«
Na, du hättest erleben sollen, was da abging! Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Jochen donnerte los, was er, Helmut, sich erlaube, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen, eine Frau müsse schließlich mitarbeiten, so was lasse er sich nicht sagen und so weiter und so fort. Niemand wagte nach dem Ausbruch, auch nur einen Piep abzusondern, man ging zur Tagesordnung über. Aber kaum zu Hause, brüllte Jochen mich zusammen: Ich solle mir nicht einfallen lassen, mich bei irgendwem über ihn zu beschweren, ich hätte zugestimmt, das Haus zu kaufen, nun solle ich auch mitmachen und mich nicht so anstellen.
Tiefengrund. Nein, auf Tiefengrund mit Weinbrand-Verschnitt wäre ich nicht gekommen. Zumal Jochen nur Bier trank, wenn er trank.
Mein Gott, Julia, was wirst du denken, wenn du das irgendwann einmal liest? Andererseits hilft es mir zu überleben, wenn ich alles, was mir hier begegnet, was mich beschäftigt, aufschreiben kann. Das ist, wie mit einer sehr vertrauten Person reden – es erleichtert.