Ich sitze jetzt etwas verdreht am Tisch, ein Bein auf Heikes Stuhl. Mein Knie ist dick, rot und heiß. Jeder Schritt ein höllischer Schmerz. Die Krankenschwester veranlasste, dass ich zum Arzt gebracht wurde, diesmal ohne Handschellen. Immerhin besteht für uns während der Haft Anspruch auf Gesundheitsfürsorge, so dass ich mir um die Bezahlung keine Sorgen machen muss.
Der Arzt hat das Knie röntgen lassen.
»War die Kniescheibe mal gebrochen?«, fragte er mich.
»Gebrochen? Ich weiß nicht. Vor ein paar Jahren bin ich mit dem Knie auf eine Rasenkante aus Beton gefallen.«
»Hatten Sie einen Bluterguss? War das Knie geschwollen?«
»Es war so dick wie mein Oberschenkel, grün, lila und blau.«
»Dann kann es eine Fraktur gewesen sein, die Sie als solche nicht wahrgenommen haben«, sagte der Arzt. »Ist es damals geröntgt worden?«
»Nein, daran erinnere ich mich nicht.«
»Arbeiten Sie in der JVA?«
»Ja, in der Küche.«
»Und – macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Doch, ja.«
»Hm, also Schweres tragen, langes Stehen, Hocken und Aufrichten könnte für Sie zum Problem werden. Und das müssen Sie wohl in einer Großküche. Könnten Sie sich vorstellen, sich um eine andere Tätigkeit zu bewerben?«
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich etwas ratlos.
Er verordnete mir ein paar Tage Ruhe, ich sollte das Knie kühlen und wenn ich aufstehe, bandagieren, er versorgte mich mit einer Bandage und Voltaren-Tabletten.
Was ich ihm nicht gesagt habe: Jochen hatte mich damals derart geschubst, dass ich einen Meter weit geflogen und mit dem Knie auf einen Rasenkantenstein geknallt bin. Mir war fast die Luft weggeblieben vor Schmerz, ich konnte nicht mal heulen, saß nur da und hielt mein Knie. Erst hat Jochen nur leise und wütend gezischelt (damit es die Nachbarn nicht hören), ich blöde Gans wäre auf eine seiner Hanfpflanzen getreten, nur gut, dass er gerade vorbeigekommen sei, wer weiß, ich hätte ihm vielleicht noch die ganze mühselig angelegte Anlage zertrampelt, ich sei nun mal zum Scheißen zu dämlich, und was ich überhaupt zu der Zeit zwischen Brombeeren und Himbeeren bei seinem Hanf zu suchen hätte … Als ich mich nicht rührte und, offenbar kreidebleich, sitzen blieb, weil ich gar nicht aufstehen konnte, hob er mich endlich hoch, brachte mich ins Haus und entschuldigte sich wortreich, wie immer, es tue ihm so leid, er wollte mir nicht wehtun, aber es koste so viel Mühe, Cannabis zu züchten … Ich hörte gar nicht mehr zu, kannte die Litanei ja zur Genüge. Ich zog die Hose aus und besah mir den Schaden: Das Knie war so dick wie ein Elefantenbein und rot. Erschrocken rannte Jochen in die Küche zum Kühlschrank, wo im Eisfach immer ein Kühlpad liegt, packte es auf mein Knie und wickelte ein Handtuch drum. Dann holte er mir was zu trinken.
Ich überlegte ernsthaft, die Polizei anzurufen. Der Schaden, den er an mir angerichtet hatte, war offensichtlich. Aber was würde passieren? Was sollen Polizisten machen, falls sie wirklich kommen? Ihn mitnehmen, verhaften? Das werden sie nicht tun. Zum einen würden sie es für eine Lappalie halten, sie würden mir empfehlen, ihn anzuzeigen und würden die Anzeige aufnehmen. Und dann?
Soweit käme es gar nicht, denn Jochen würde ihnen ganz freundlich die Tür öffnen, sie hereinbitten, sich ahnungslos stellen: »Ich? Nein, ich habe ihr nichts getan, sie ist gestürzt! Ich wollte sie zur Rettungsstelle bringen, aber sie wollte nicht.«
Und so würden die Beamten ihm glauben und nicht mir, der hysterischen Person, die vor Schmerzen auf blöde Ideen gekommen ist. Nein, so funktionierte das nicht. Aber wie dann?
Jochen war jedenfalls an diesem Nachmittag die Fürsorge in Person, brachte mir Kaffee, bestellte Pizza, holte dich vom Kindergarten ab, versorgte dich und brachte dich ins Bett. »Die Mama ist gestolpert und hat sich wehgetan«, erklärte er dir, »heute lese ich dir eine Gutenachtgeschichte vor.«
Er half mir später die Treppe hoch ins Schlafzimmer, rieb mir das Knie mit Voltaren-Salbe ein, legte sich artig neben mich ins Bett und streichelte meine Hand. Und immer wieder beteuerte er, wie leid es ihm tue und dass er mich doch so liebe. Und ich ließ mich wieder einmal mehr in die ach so bequemen Träume fallen: Im Grunde genommen ist er ein guter Mensch, er ist eben so geworden, weil sein Vater ihm keine Liebe zeigen konnte, nun hat er gesehen, was er angerichtet hat, wird es nicht wieder tun, alles wird gut. Für ein paar Tage, streng genommen so lange, wie ich nicht auftreten konnte, ging auch alles gut.
Ich war am nächsten Tag doch zum Arzt gefahren, wobei das Knie beim Kuppeln höllisch schmerzte. Der diagnostizierte eine Kapselverletzung, verordnete Physiotherapie und eine Knie-Orthese; wochenlang trug ich dieses Plastikteil über meinen Jeans.
Wieder in der Hütte, lag ich auf dem Bett, kühlte mein Knie und dachte nach. Mit der Arbeit in der Küche hatte ich die Idee verbunden, später darauf aufbauen zu können: mich in einer Großküche bewerben, in einer Kantine oder einer Gastwirtschaft. Essen geht immer. Und wenn ich hier noch sieben Jahre weitergearbeitet hätte, könnte ich auch auf Praxiserfahrung verweisen. Da mir dieses Knie aber immer wieder mal zu schaffen macht und ich auch nicht jünger werde, scheint eine solche Karriere nicht erfolgversprechend zu sein. Was nun? Vielleicht weiß die Sozialarbeiterin Rat. Irgendwann müsste ich mal wieder Vollzugsplan-Sitzung haben. Mal sehen, ob mir bis dahin was einfällt.
Als ich so vor mich hin grübelte, hörte ich plötzlich furchtbares Geschrei. Melanie, die psychisch nicht ganz intakt scheint, ist wohl mal wieder ausgetickt. Kurz nachdem das Geschrei verstummt war, guckte Eileen, die mit Melanie eine Zelle teilt, durch unsere Tür.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie. Ich war froh über die Abwechslung. Sie hatte den Notknopf gedrückt, und eine Beamtin hatte sich um Melanie gekümmert. Eileen saß erst eine Weile stumm auf einem Stuhl neben meinem Bett. Ich kann Eileen zwar nicht so gut leiden, mochte sie aber auch nicht wegschicken.
»Wenn du reden magst, leg los«, sagte ich. Und dann legte sie los:
»Ich halte Melanies Launen nicht mehr aus. Mal ist sie laut und scheißfreundlich, tut so, als mache ihr das Leben hier überhaupt nichts aus, alles ist doch wunderbar, besser als draußen, wo man alles alleine regeln muss. Und im nächsten Moment ist sie stumm wie ein Fisch, sitzt da und rührt sich nicht … Den Rasierer, mit dem sie sich Achselhaare und Beine rasierte, hat die Beamtin schon eingezogen, weil sie sich mit der Klinge die Arme geritzt hat.«
»Ist das nicht alles bekannt?«
»Ja, ja«, sagte sie, »die Beamtin, die sie jetzt abgeholt hat, meinte auch, sie gehöre nicht hierher. Sie ist zwar häufiger bei der Psychologin als jede andere von uns, aber zu helfen scheinen ihr die Gespräche nicht. Die gehört in die Psychiatrie, nicht hierher!
Ich hoffe, dass man sie dort unterbringt, denn die macht mich regelrecht meschugge. Vorhin ist sie in unserer Hütte hin- und hergetigert und hat gebrüllt, sie bringe sich um, wenn man sie noch weiter hier festhielte, sie sei unschuldig und alle um sie rum seien Idioten, die sie quälen und demütigen, ich sei die Allerschlimmste … Mannomann, ich hab mit mir zu tun, kann mich nicht noch um sie kümmern«, stöhnte Eileen. Mir fiel die Frau ein, mit der ich am Anfang die Doppelzelle geteilt habe. Auch die hatte wohl einen Riss in der Schüssel. Ist eigentlich kein Wunder, dass hier eine durchdreht.
»Weißt du, weshalb sie überhaupt hier ist?«
»Sie hat ihr Baby umgebracht und dafür sechs Jahre gekriegt«, sagte Eileen.
Wir quatschten noch ein bisschen über dies und das, dann ging sie nachsehen, ob sie die Hütte für sich hatte. Nicht nur mein Knie schmerzte wie verrückt, die Auskunft über Melanie hatte mich aufgewühlt. War sie schon krank im Kopf gewesen, als sie das Baby umbrachte? Oder ist sie darüber krank geworden? Mir fehlen die Worte für so eine Tat. Aber sicher gibt es auch viele Menschen, die meine Tat nicht verstehen.
Schon einige Male hatte ich in der Zeitung über Kindsmörderinnen gelesen. Sind das alles Mörderinnen? Oder sind Frauen wie Melanie in einer Zwangslage? Oder wissen sie nicht, was sie tun? Ich hatte mal in einem historischen Roman, den Titel weiß ich nicht mehr, gelesen, dass im 17. Jahrhundert die Findelkinderhäuser in Europa überfüllt gewesen waren. Dass Frauen ihre ungewollten Babys auf Kirchentreppen, vor Pfarrhäusern oder sonst wo abgelegt haben und verschwunden sind. Und dass Mutterliebe gar nicht so ein angeborenes Gefühl sei, wie immer behauptet wird. Warum sonst haben reiche Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Neugeborenen gleich an Ammen weitergereicht? Doch nicht nur aus Sorge um ihre Figur, die durch das Stillen leiden könnte? Aber warum heute noch Kinder töten? Wir haben Verhütungsmittel, die Möglichkeit der Abtreibung, es gibt Babyklappen, und sogar eine anonyme Geburt ist möglich, danach kann man das Kind zur Adoption freigeben. Überall im Land gibt es Hilfsangebote und Möglichkeiten, sich über Lösungen zu informieren. Wie verzweifelt oder wie krank muss eine sein, die ihr Baby umbringt?
Ich bin unendlich dankbar, dass ich dich bekommen habe, mein Sonnenschein. Wie gern hätte ich außer dir noch mehr Kinder bekommen. Aber eben nicht mit Jochen. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als Kinder zu haben und sie aufwachsen zu sehen.
Ich hatte zwei Fehlgeburten. Das erste Mal, als Jochen Fliesen fürs Bad gekauft hatte und ich die Pakete vom Auto in den ersten Stock geschleppt habe. »Ich glaube nicht, dass das gut für mich ist«, hatte ich zaghaft angemerkt, aber er meinte nur, ich solle mich nicht so anstellen, Schwangerschaft sei keine Krankheit, er müsse noch mal fort und die Fliesen müssten nach oben, damit er sie am nächsten Tag verlegen könne. In der Nacht bekam ich starke Blutungen, am nächsten Tag fuhr ich zu meiner Gynäkologin. Das mit den Fliesen hab ich ihr nicht erzählt, als ich heulend vor ihr auf dem Stuhl lag. Sie hat die Gebärmutter ausgeschabt und mich für eine Woche krankgeschrieben. Ich durfte nicht Auto fahren wegen der Anästhesie, deshalb rief ich Jochen an, der zwar fluchte, aber mich abholte, heimbrachte und mich wenigstens in Ruhe ließ, als ich auf dem Sofa lag.
Eineinhalb Jahre später, ich war wieder in der zehnten oder elften Schwangerschaftswoche, starb Opa, der Vater meiner Mutter. Ich stand meiner Mama mit Rat und Tat zur Seite, begleitete sie zum Pfarrer, verschickte die Karten, besprach mit ihr in der Gaststätte alles Nötige. Auch ich war unsagbar traurig. Nach der Trauerfeier wollte ich allein sein, an Opa denken, weinen, meine Ruhe haben. Sex war das Letzte, an das ich dachte. Bei Jochen aber war es das Wichtigste. Er ließ mich zwar allein ins Bett gehen, mitten in der Nacht aber weckte er mich und rammelte auf mir rum wie bekloppt. Einen Tag später verlor ich auch das zweite Kind. Diesmal überwies mich die Gynäkologin ins Krankenhaus, weil die Blutungen nach der Ausschabung nicht aufhörten. Ich war unendlich traurig.
Ich bin mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen, die hänselten und veräppelten mich zwar gern, aber es war immer Trubel im Haus. Als wir klein waren, haben wir viel miteinander gespielt. Später unternahmen sie mehr mit ihren Freunden. Aber wenn mich jemand ärgerte, drohte ich: Ich hole einen meiner Brüder, dann kannst du was erleben …! Eine vollständige Familie stellte ich mir mit mindestens zwei Kindern vor. Nun sah es so aus, als ob mir nicht mal eins vergönnt sein würde. Ich weiß nicht, was sich Jochen gedacht oder was er wirklich gefühlt hat. Als ich ihn darauf ansprach und auf ein richtiges Gespräch hoffte, sagte er nur, wir könnten noch viele Kinder machen, das sei eine seiner leichtesten Übungen. Daraufhin hielt ich den Mund.
Als ich mit dir schwanger war, Julia, achtete ich auf mich. Dich wollte ich nicht verlieren. Ich passte auf, was ich tat. Hoffte, wenn ich keinen Anlass gab für Ärger, wird doch noch alles gut. Aber was waren solche Anlässe? Ich konnte sie ja nicht voraussehen, weil sie für mich nicht berechenbar waren.
Einmal, die Schwangerschaft war schon sichtbar, trat er mir mal wieder auf seine charmante Art in den Hintern. Ich weiß nicht mehr, warum. Was ich nicht vergessen habe: Ich habe mich umgedreht und ihm eine geklatscht. Wir standen beide starr vor Schreck da. Bevor er sich fassen konnte, habe ich ihn angebrüllt: »Wenn ich dieses Kind auch verliere, weil du keine Rücksicht nimmst, zeige ich dich an!«
Das hat ziemlich lange gewirkt. Nur habe ich leider nie mehr gewagt, mich so zu wehren. Warum nur nicht?