Ende Juli 2008

Neulich saß ich abends mit Heike in unserer Hütte, wir tranken Cola, rauchten und redeten darüber, was wir noch anstellen könnten, um den Alltag erträglicher zu machen. Ich sehe Heike gerne an. Sie hat ungewöhnlich große, hellgraue Augen, aber die steilen Falten zwischen den Brauen deuten darauf hin, dass sie mehr Grund zur Sorge als zum Lachen gehabt haben muss. Ich unterhalte mich gern mit ihr, denn sie kann gut zuhören und redet keinen Quark wie so viele andere hier.

Wir kamen auf Computer zu sprechen, auf Internet und all diese Dinge im weltweiten Netz, die uns hier so fremd sind.

»Ob ein Schreibmaschinenkurs sinnvoll ist?«, sinnierte ich vor mich hin. »Schließlich wollen wir mal mit einem Computer arbeiten, wenn wir wieder draußen sind.«

Dabei werde ich total auf Michael zählen können, der sich als IT-Dienstleister selbstständig gemacht hat. Ich habe nur so viel verstanden, dass er Privatkunden und Firmen berät, deren Computer und EDV-Anlagen betreut. Er wird mir auch zu einem Computer verhelfen können. Ich bin richtig stolz auf meinen Bruder, dessen Ein-Mann-Firma sogar die Feuerwehr und den Sportverein sponsert.

»Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis wir an einem Computer sitzen können, aber zu lernen, wie man auf einer Tastatur zurechtkommt, kann ja nichts schaden«, sagte Heike. »Wir sollten das mal ernsthaft ins Auge fassen.«

Ich erzählte Heike von meinen Befürchtungen, in der Küche doch keine Perspektive zu sehen. Das hatte ich mir zwar schön ausgemalt, aber mit dem Knie hätte das keine Zukunft. Heike brachte mich auf die Idee, auf die ich eigentlich auch hätte kommen können:

»Du nähst und häkelst so tolle Sachen für deine Tochter und deine Nichte – versuch doch, in die Schneiderei zu kommen!«

»Aber die nähen doch richtig schwere Sachen: Uniformen, Parker, Overalls …«

»Na und? Alles kann man lernen. Und nähen könntest du, bis du alt und grau bist.«

»Warum hast du dich nicht um die Näherei beworben?«, hab ich sie gefragt.

»Ach, ich bin in der Bügelei ganz zufrieden, da brauche ich nicht nachzudenken, arbeite stur vor mich hin. Und wenn ich hier rauskomme, versuche ich, wieder in meinem Beruf unterzukommen.«

»Was hast du eigentlich draußen gemacht?«

»Ich bin Krankenschwester. Und da mein Delikt nichts mit meinem Beruf zu tun hat und Krankenschwestern immer gesucht werden, mache ich mir darüber keine Gedanken.«

Da wir so gemütlich, wie es hier eben möglich ist, beieinander saßen, fasste ich mir ein Herz und fragte sie, was man hier eigentlich nicht fragt, ich fragte sie nach der Tat.

»Willst du die ganze Geschichte hören?«

»Wenn du sie erzählen magst, gern.«

Die Kurzfassung ist wie folgt: Heike und ihr damaliger Freund Maximilian haben sieben Banken überfallen, dafür sitzen sie nun sechseinhalb Jahre im Gefängnis.

»Sieben Banken? Als Frau? Wie geht das denn?«

»Ganz einfach«, erzählte Heike. »Wir hatten uns kleine Filialen auf dem platten Land ausgesucht, wo nur eine Angestellte hinterm Schalter steht. Ein gestohlenes Kfz-Kennzeichen am Auto, nein, keine Masken, nur Sonnenbrillen, Mützen, jeder eine Gaspistole. Die kann man ja auf die Schnelle nicht von einer richtigen unterscheiden. Wir sind also rein, haben mit den Pistolen rumgefuchtelt und gebrüllt: Wir wollen nur das Geld, mach den Tresor auf, sonst knallen wir dich ab! Als die Scheine verstaut waren, fesselten wir Hand- und Fußgelenke mit Isolierband, klebten einen Streifen über den Mund und hauten ab. Vorher zerschlugen wir die Überwachungskamera.

Blöd war, dass wir eine Filiale ein zweites Mal überfallen haben und die Frau offenbar einen Notknopf gedrückt hatte, denn die Polizei war hinter uns her. Und der Gipfel der Blödheit war, dass wir etwa zehn Kilometer als Geisterfahrer über die Autobahn gejagt sind, verfolgt von Blaulicht, Martinshorn und Lichthupe.«

Heike schwieg eine Weile und guckte ins Leere. Ich blieb auch still. Dann sagte sie leise: »Als Krankenschwester habe ich Menschen geholfen, und ich helfe gern! Und dann mache ich so was! Ich fasse immer noch nicht, dass ich das gewesen bin.«

Irgendwann redete sie weiter: »Du willst sicher wissen, warum wir das getan haben.«

Ich nickte.

»Ich war unglaublich verliebt in Max. Er sieht toll aus: braune Haare, stahlblaue Augen, groß, schlank, immer Jeans, Jackett und tadellos gebügelte Hemden. Und ich war höllisch eifersüchtig. Er hatte immer Geld, und eines Tages erzählte er von seinen Besuchen im Casino. Zuerst begleitete ich ihn aus Neugier. Wir spielten mit kleinen Einsätzen – Fünf-Euro-Jetons. Aber allmählich war es, als gerieten wir in einen Strudel, aus dem wir nicht mehr rausfanden, wir spielten immer risikoreicher, verloren immer öfter und hofften auf den großen Gewinn. Du kannst dir diese Atmosphäre sicher nicht vorstellen, aber wenn sich das Roulette dreht, die Kugel rollt, dann ist das so ein unglaublicher Kick, wie ich ihn sonst nie erlebt habe. In einer Silvesternacht haben wir mit 10 000 Euro begonnen, nach Mitternacht hatten wir 30 000, wir wollten fünfzig vollmachen. Als das Casino schloss, war alles weg.

Zuerst hab ich meinen Dispo ausgeschöpft, den Vermieter vertröstet, die Familie belogen, Klamotten verkauft, weder Versicherungen noch Telefonrechnungen bezahlt. Dann einen Kredit aufgenommen. Max hat mir versichert, ein todsicheres System gegen die Bank zu haben, wir müssten nur lange genug spielen. Dabei weiß man, dass es so ein System nicht gibt.

Einmal hat sich ein Mann auf der Casino-Toilette erschossen. Da haben wir beschlossen aufzuhören. Aber es ging nicht. Sobald ich Geld in den Fingern hatte, fuhr ich los, auch ohne Maximilian. Einmal, ich wollte heimfahren, fand ich im Auto einen Hundert-Euro-Chip, da bin ich zurück und hab erneut gesetzt. Am Ende blieb mir gerade genug Geld für den Automaten, der die Parkhausschranke öffnet.

Irgendwann hatten wir jeder 50 000 Euro Schulden. Da kam er auf die Idee mit den Banküberfällen. Beim ersten Mal erbeuteten wir 48 000 Euro. Wir teilten, bezahlten die dringendsten Schulden, der Rest landete in der Spielbank. Das Ende kennst du.«

Ich dachte an Anita und ihre Kaufsucht. »Warst du krank, Heike? Ist Spielsucht so was wie Kaufsucht?«

»Genau. Und weil so eine Krankheit nicht an einen Stoff gebunden ist, man sie nicht heilen kann, indem man der oder dem Kranken etwas vorenthält, ist ihr so schwer beizukommen. Und Roulette ist das Heroin unter den Glücksspielen, hat also ein sehr hohes Suchtpotenzial. Das hatte meine Verteidigerin bestätigt.«

Einen Moment guckte sie aus dem Fenster, dann erzählte sie weiter: »Weil bei mir keine Fluchtgefahr bestand, konnte ich nach einer kurzen U-Haft bis zur Gerichtsverhandlung nach Hause und arbeiten. Ich habe einen tollen Chef, der mir eine Therapie vermittelt hat. Ich habe inzwischen allen Frauen, die wir überfallen haben, lange Entschuldigungsbriefe geschrieben. Und einer Frau haben Max und ich bereits eine Entschädigungssumme gezahlt. Aber was ich der Versicherung der Bank zurückzahlen muss, wird sich noch ins Unüberschaubare hinziehen.«

»Danke, Heike, dass du mir das erzählt hast«, hab ich gesagt und sie umarmt. »Eines Tages werde ich dir auch meine Geschichte erzählen.«

Es ist gut, dass ich Heike habe. Ganz ohne eine Vertraute hält man es hier nur sehr schwer aus.