April 2009

Ich sitze am Tisch und schreibe nicht mehr mit der Hand, sondern, wie du irgendwann sehen wirst, auf einer Schreibmaschine. Sie ist elektrisch und hat eine Korrekturtaste, was mir die Sache ungemein erleichtert. Früher klackerten die Maschinen so laut, dass man das Tippen bei offenem Fenster bis auf die Straße hörte. Bei dieser hört man die Anschläge kaum.

Ich gehe nun einmal in der Woche zum Schreibmaschinenkurs, er geht über zehn Wochen und kostet nichts. Die Schreibmaschine darf ich so lange mit in die Hütte nehmen. Inzwischen klappt es ganz gut, ich bin zwar noch sehr langsam, aber Übung macht den Meister. Nach dem Kurs muss ich die Maschine zwar wieder abgeben, aber vielleicht schaffe ich es noch, das bisher Geschriebene abzutippen und im Kurs auszudrucken, damit ich am Ende alles lesbar in einem Hefter zusammenklammern kann. Außerdem kann ich auf sinnvolle Art Tippen üben. Und danach schreibe ich eben wieder mit der Hand. Oder ich kaufe mir eine eigene Schreibmaschine. Oder einen Laptop, der Texte speichern kann, dann würde ich Papier sparen. Internet ist im Knast tabu, ich muss Micha fragen, ob es Laptops ohne Internet gibt und bei der Sozialarbeiterin klären, ob ich so was haben darf. Ich weiß zwar nicht, ob ich das Gelernte überhaupt später verwenden kann, aber das ist jetzt egal, irgendwann kann man alles Gelernte im Leben gebrauchen. Und alles ist gut, was ablenkt vom öden Einerlei, von leeren Reden und vom Grübeln, das zu nichts führt.

Mein dritter Geburtstag in Haft. Über deinen Brief, mein Julchen, habe ich mich sehr gefreut! Wenn ich glauben kann, dass es dir gut geht, dann muss ich mir keine Sorgen machen. Besonders froh bin ich, dass du offenbar in der Schule keine Schwierigkeiten hast. Viele rutschen ja im ersten Jahr auf dem Gymnasium etwas ab, aber du scheinst alles toll zu packen.

Damit ich hier nicht verblöde und wenigstens ein bisschen mit dir Schritt halten kann, habe ich mir ein eigenes Lexikon gekauft, Meyers Kompakt-Lexikon in einem Band. Und dazu den Großen Ravensburger Weltatlas. Der ist zwar für Kinder gedacht, aber das ist mir egal, so verstehe ich wenigstens alles. Da sind außer den Karten und tollen Satellitenaufnahmen auch Daten und Fakten zu historischen, kulturellen und geografischen Besonderheiten der einzelnen Länder drin, auch Infos über Klima, Wetter und das Sonnensystem. Wenn ich Lust und Zeit habe, informiere ich mich über dies und das.

Für meine Wohngruppen-Frauen habe ich an meinem Geburtstag einen Kuchen gebacken und Kaffee gekocht, sie haben mir Zigaretten (ich kann es eben nicht lassen, weil hier so viele rauchen) und Duschgel geschenkt. Und eine hat mir eine ganz tolle Karte gemalt. Sie arbeitet in ihrer Freizeit an einem größeren Bild, das sie dann in unserem Aufenthaltsraum aufhängen will.

Wenn wir zusammen sitzen, reden wir oft über unser Lieblingsthema: Rezepte. Das mag etwas abartig klingen, weil wir sie ja kaum umsetzen können, aber es hilft uns wohl irgendwie, mit dem Mangel zurechtzukommen. Vielleicht sollte ich die Rezepte, die ich hier zum ersten Mal höre, aufschreiben und sammeln.

Zum Beispiel Thai-Curry: Hühnerfleisch anbraten, Kokosmilch erhitzen, mit einer Currypaste, Limonenblättern und Zitronengras, alles aus dem Asialaden, würzen, das Fleisch und diverse klein geschnittene Gemüse darin garen, mit Korianderblättchen bestreuen. Muss ich unbedingt probieren, wenn ich draußen bin.

Heike lief das Wasser im Mund zusammen, als sie davon erzählte. Das Gemüse kauft man auch im Thai-Laden, also Maiskölbchen, kleine gelbe, weiße oder blaue Auberginen. Man könnte das auch durch Erbsen, Brokkoli, grüne Bohnen, Paprika ersetzen. Und die Currypaste durch Chiliflocken. Das Zitronengras ist nicht zum Essen bestimmt, das muss man nur halbieren, mit dem Messer flachdrücken und vor dem Essen entfernen.

Oder kennst du Salat Niçoise? Prinzessbohnen, gelbe Paprikaschote, Gurke, Radieschen, Kirschtomaten, schwarze Oliven ohne Stein, Sardellenfilets in Öl mit Radicchio-, Frisee- oder Kopfsalat mischen, darüber ein Dressing aus Weißweinessig, Olivenöl, Salz und Pfeffer, hartgekochte Eier längs vierteln und darauf garnieren, dazu kann man kurz gebratene Thunfischsteaks reichen. Mir war sogar neu, dass es Thunfischsteaks gibt und dass man die braten kann!

Solche extravaganten Zutaten bietet unser Knast-Laden natürlich nicht, so dass wir keines der Rezepte ausprobieren können.

Es mag dir seltsam erscheinen, dass ich in diesem langen Brief an dich Rezepte aufschreibe. Was sollst du damit anfangen, wenn du das jemals lesen wirst? Für mich ist dieses Reden mit den anderen über so normale Dinge wie Kochen, als säße ich mit ihnen nicht im Knast, sondern in heiterer Runde nach der Arbeit; vielleicht reden wir darüber, weil eine ihren Geburtstag vorbereitet und die ganze Familie eingeladen hat; vielleicht, weil wir mal was Besonderes auf den Tisch bringen wollen. Draußen tauscht man sich doch auch über interessante Rezepte aus! Es ist eine Gefühlsmischung von Zu-Hause-sein mit ein bisschen Vorfreude auf die Freiheit – irgendwann einmal werde ich wieder für dich, für die Familie, für Freunde kochen – und Erinnerung an frühere gemütliche Abende. Und es lenkt ab vom öden Knast-Eintopf mit seinen ewigen Anträgen und Reglementierungen, dem Krach, den immer gleichen Klamotten und den Streitereien der Frauen, den langweiligen, grauen Tagen und den dunklen, verzweifelten Nächten.

Bei solchem Spinnen über Essen und Trinken erfuhr ich, wie man Alkohol aus dem ansetzen kann, was es im Knast gibt: Man weicht Brot in Wasser ein, tut Pflaumenmus dazu und lässt es 14 Tage stehen. Das soll dann Alkohol ergeben. Johannisbeermarmelade ginge auch. Und Marmelade kriegen wir ja jeden Tag. Es soll auch möglich sein, aus vergorenem O-Saft und Hefe eine Art Alkohol anzusetzen. Kommt mir ziemlich spanisch vor. Außerdem gibt es hier keine Hefe. Von unserer Wohngruppe hat das jedenfalls noch keine probiert, ich glaube auch nicht, dass es funktioniert.

An meinem Geburtstags-Nachmittag saß Hanna mit am Tisch, die seit kurzer Zeit in unserer Wohngruppe eine Einzelzelle bewohnt. Ich hatte bisher wenig Kontakt zu ihr, sie hält sich meistens zurück. Wenn sie aber was sagt, klingt das sehr bestimmt. Ungewohnt fest drückte sie mir die Hand und gratulierte sachlich: »Bleib gesund und halte durch!« Irgendwie imponiert mir das Schnörkellose. Ich kann sie mir gut auf einem Fußballplatz vorstellen.

»Stimmt, ich hab Fußball gespielt«, sagte sie und lachte. »Wie kommst du darauf?«

»Du siehst so sportlich aus. Und wenn du gehst, trittst du fest und bestimmt auf und schlurfst nicht rum wie viele andere hier.«

»Ja, im Sommer Fußball und Schwimmen, im Winter Skilaufen.«

»Ist beim Sport was mit deiner Nase passiert?«, entfuhr es mir. Und dann schob ich schnell nach: »Oh, entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein.«

»Bist du nicht. Das ist in der U-Haft passiert. Ich war mit drei Bulgarinnen auf der Zelle, die nichts zum Rauchen hatten. Zuerst hatte ich ihnen immer Zigaretten gegeben, wenn sie mich darum gebeten haben, aber einmal haben sie mir welche geklaut, und da werde ich ekelhaft. Es gab ’ne Schlägerei, die drei gegen mich. Aber die haben dann auch so ausgesehen wie ich. Danach haben wir alle vier Arrest gekriegt. Wenn ich rauskomme, lasse ich die Nase richten. Ich bin froh, dass ich von denen weg bin, da war es ganz schlimm, nicht so friedlich wie hier.«

Ein paar Tage später kamen wir auf dem Hof miteinander ins Gespräch darüber, was uns hier am meisten fehlt. Da war sie ungewohnt offen:

»Nein, Sex nicht, das habe ich an einem Menschen festgemacht, und der ist nicht da. Also ist auch Sexualität nicht da. Schlimm ist, dass er mich nicht in den Arm nehmen kann, wenn’s mir nicht gut geht. Am Anfang war das furchtbar, ganz furchtbar. Ich vermisse einen Menschen, dem ich vertrauen, mit dem ich reden, dem ich nah sein kann. Du kannst hier ja nicht zu einer sagen: Nimm mich mal in den Arm, ich brauch das jetzt – die denkt dann gleich, man will was von ihr.«

»Stimmt, bei manchen Frauen vermute ich, dass sie Sex miteinander haben, obwohl draußen ein Mann auf sie wartet«, sagte ich. »Aber irgendwie müssen sie ja zurechtkommen mit ihrer Sehnsucht.«

»Klar«, sagte Hanna, »ist nur blöd, wenn sie dabei so laut sind, dass die in den Nachbarzellen mithören müssen. So ging es mir in der Hütte, in der ich vorher war.«

Mir ist doch schon einiges erspart geblieben, dachte ich.

»Eine Frau verklickerte mir mal, eine Sozialarbeiterin hätte ihr versichert, eine auf sich selbst gerichtete Sexualität sei eine Form des Anpassens, um zu überleben.«

»Sie meinte Selbstbefriedigung?«, fragte ich.

»Genau, ist nur hochtrabend ausgedrückt.«

Wir schwiegen eine Weile vor uns hin, dann gestand ich ihr: »Mir fehlt auch Berührung, ohne Sex, einfach nur mal eine Umarmung … Und das hat mit lesbisch nichts zu tun.«

»Ich trau mich ja nicht mal zu weinen, ohne mich zu verstecken«, sagte Hanna. »Dabei würde ich gern mal richtig losheulen und getröstet werden.«

»Das sieht man dir nicht an«, sagte ich. »Aber mir geht’s genauso. Ich heule auch nur, wenn es niemand sieht.«

»Wenn ein Kind ohne menschliche Wärme, ohne Berührungen aufwächst, wird es verhaltensgestört – Erwachsene brauchen ebenso Wärme. Aber das Einzige, was du im Knast nicht zeigen darfst, sind Gefühle. Damit gibst du zu verstehen, dass du verletzlich bist, schwach und angreifbar. Also rede ich nicht über Privates. Das hab ich einmal gemacht und bitter bereut«, sagte sie.

»Magst du es mir erzählen?«

»In der U-Haft hat mich eine Frau nach meinem Mann, meinen Eltern, meinem Haus gefragt. Und ich dumme Nuss habe ihr treudoof Auskunft gegeben, einfach, weil ich froh war, über meine Familie reden zu können. Als sie Haftausgang hatte, ist sie zu meinen Eltern marschiert, hat sich als Beamtin von der JVA ausgegeben und um Geld für mich gebeten, damit ich was einkaufen könne. Meine Eltern haben das natürlich geglaubt und ihr Geld gegeben. Als ich dahinterkam, war sie schon entlassen.

Dort waren auf unserem Gang dreißig Frauen, und darunter keine drei, mit denen ich auch draußen was zu tun haben würde. Nicht, weil ich so toll bin, sondern weil es eine ganz andere Welt ist. Das einzige gemeinsame Interesse: Hoffentlich ist der Einkauf Mittwoch und nicht erst Donnerstag, und was gibt es zu essen.«

»Und wie baust du Frust ab?«

»Wenn mir was nicht passt, kläre ich das sofort. Ob Beamtin oder Mitgefangene. Ich schlucke nichts. Manchmal könnte ich natürlich hinlangen. Mach ich aber nicht. Und wenn ich die ganz große Wut habe, schreibe ich meiner Freundin einen fünf Seiten langen Brief.«

»Besucht sie dich?«

»Nein, das möchte ich ihr nicht zumuten, was soll man sich da erzählen? Nur meine Eltern besuchen mich.«

»Und dein Mann?«

»Der ist tot. Ganz plötzlich gestorben. Und danach fing der Schlamassel an.«

»Oh, mein Gott, das tut mir sehr leid.«

Sie ist Immobilienmaklerin und sitzt wegen einer Betrugs­geschichte. So viel hat sie noch gesagt, und ich hab nicht weiter gebohrt. Nur eins noch, und damit wollte sie wohl ihre Rede abschließen:

»Das Einzige, was ich daraus gelernt habe: Wenn ich nicht weiter weiß, muss ich Hilfe suchen. Egal, worum es geht. Das sitzt jetzt. Mir wäre früher nie eingefallen, aufs Arbeitsamt zu gehen, lieber wäre ich selber rumgerannt und hätte irgendeine Beschäftigung angenommen. Oder wenn eine Fünfzig-Kilo-Kiste irgendwohin gebracht werden musste, hab ich eben angepackt. Heute würde ich sagen: Fass mal bitte mit an. Oder hilf mir bitte, einen Brief zu formulieren. Es gibt immer Menschen, die helfen können. Und ich muss lernen, mein Misstrauen wieder abzulegen. Mit Misstrauen kommt man auch nicht weiter.«

»Hast recht, Hanna.« Und dann hab ich sie kurz und scheu umarmt.

In der Nacht lag ich wieder lange wach. Meine Gedanken fuhren Karussell, drehten sich um Hannas Worte: Wenn ich nicht weiter weiß, muss ich Hilfe suchen. Verdammt noch mal, warum habe ich nicht energischer Hilfe gesucht? Ich hab doch versucht, etwas zu unternehmen! Warum bin ich immer wieder zurückgeschreckt, hab gekuscht? Wegen der Meinung der Nachbarn, wegen meiner Kolleginnen, meiner Chefin? Was ging mich denn die Meinung der Leute im Ort an, auf die ich immer, sogar in jener schlimmen Nacht, Rücksicht genommen habe? War das nicht auch ein Spruch meiner Mutter bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: Was sollen denn die Leute denken? Ja und? Jetzt haben sie was zu denken! Irgendwann wird’s langweilig, dann hören sie auf, darüber zu reden. Aber ich sitze hier in diesem Knast. Nein, ich gebe niemandem die Schuld an meiner Situation. Es ist allein meine Schuld. Davon kann und wird mich niemand freisprechen. Ich muss damit klarkommen. Ich kann die Geschichte nicht rückgängig machen, obwohl ich nichts lieber täte!

Nächste Woche ist Ostern. Am Montag kommst du wieder mit Sandra und Micha. Ich freue mich unendlich auf euch!

Ich habe übrigens einen Friseurbesuch beantragt, ja, wir haben einen Friseursalon in der Anstalt. Ich möchte dich, meine Julia, mit einer neuen Frisur überraschen, wünsche mir einen frechen Kurzhaarschnitt. Du sollst nicht denken, dass sich deine Mama gehen lässt, nur weil sie nicht in Freiheit ist!