Martinas Art, sich zu pflegen, ging mir nicht aus dem Kopf. Heike und ich sind schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass jede das Maß an Pflege und Schönheit für sich beansprucht, das ihr hilft, einen Halt zu geben. Haare und Frisuren sind immer ein Thema, das fast jede von uns beschäftigt. Manche probieren alle naselang was Neues aus – hochgesteckt oder offen, geflochten oder gedreht, das hat auch was Spielerisches. Heike wäscht sich jeden zweiten Tag die Haare, weil sie die fettigen Strähnen, die am dritten Tag an ihrem Kopf kleben, nicht leiden kann. So will sie sich weder uns noch ihrem Spiegelbild zeigen. Im Essensaal und auf dem Hof sehe ich einige Frauen, die offenbar nie ohne Make-up, Wimperntusche und Lidstrich vor die Hütte gehen. Einige der afrikanischen Frauen, die es hier auch gibt, haben ihr krauses Haar zu aufwendigen Kreationen geflochten, was sehr witzig aussieht. Ob die das jeden Morgen neu gestalten? Muss ich irgendwann mal rauskriegen. Und sogar die sportliche Hanna trägt in der Hosentasche einen Lippenpflegestift mit sich rum, den sie häufig benutzt und der einen zartrosa Schimmer auf ihren Lippen hinterlässt.
Ich hatte nie Make-up oder Nagellack, mir genügten Duschgel, Deo, Haarwäsche, Haarspray und Nivea-Creme. Wenigstens in dieser Beziehung vermisse ich nichts. Wenn ich mal ganz fein sein wollte, trug ich Lippenstift auf, ich glaube, diesen einen hatte ich jahrelang, und einen Hauch Opium, das mir Jochen mal geschenkt hatte. Aber immer, wenn ich sehe, wie Frau Mertenbach mit ihren perlmutt-lackierten Fingernägeln hantiert, die Stoffe glatt streicht oder uns ein Muster zeigt, denke ich: Das sieht sehr schön aus.
»Ob ich mir mal Nagellack kaufe?«, fragte ich mehr mich als Heike.
»Klar, warum nicht, wenn du nicht gerade dunkelrot, knallblau oder grün wählst …«
Wir mussten beide lachen.
»Du hast schmale Hände und schön geformte Nägel, rosa oder beige könnte gut aussehen«, sagte sie. »Wollen wir das zusammen kaufen und benutzen, was meinst du? Wir lackieren uns doch sicher nicht jeden Tag die Nägel.«
»Gute Idee.« Beim nächsten Einkauf werde ich Nagellack auf meine Liste setzen und Heike den Nagellackentferner, beschlossen wir.
Mein Julchen, du wirst staunen, was aus deiner Mutter noch wird!
Irgendwo hab ich mal gelesen, wer nichts mehr für sich tut, hat sich aufgegeben. Und das darf nicht sein. Also tun wir was für uns.
Weil wir nach Normalität hungern.
Weil es uns etwas von Würde zurückgibt.
Weil hier alles so trostlos grau ist. Oder dunkelblau, wie die Uniformen der Bediensteten.
Weil man sich nie gehen lassen darf. Hab ich das nicht oft genug in meinem Elternhaus gehört?
Weil auch Schönheit hilft, in schlechten Zeiten zu überleben.
Ich erinnere mich an Erzählungen meiner Oma, die im Krieg ihre alten Kleider enger gemacht hat, weil sie einige Pfunde abgenommen hatte. Und dass sie aus einer alten schwarzen Männerhose ihren Töchtern, meiner Mama und Tante Hillu, Röckchen genäht und diese mit bunten Blüten bestickt hatte. Nun ist hier zwar Gott sei Dank kein Krieg, was viel schlimmer ist als Knast, aber eingeschränkt in unseren Handlungen sind wir schon.