Meine liebe Julia, heute regnet es wieder, das gefällt mir. Wenn die Sonne scheint und ich nicht rauskann, werde ich traurig. Dann stelle ich mir vor, ihr trinkt im Garten Kaffee, esst Kuchen, den Sandra gebacken hat, vielleicht läuft der Rasensprenger, vielleicht buddelt Micha im Garten in der Erde, vielleicht seid ihr drei Kinder mit den Rädern baden gefahren – alles Dinge, die ich wahnsinnig gern auch machen würde. Aber nun regnets, und ich schreibe an diesem langen Brief an dich.
Es wird Zeit, dass ich dir von Holger erzähle. Vielleicht wirst du ihn irgendwann kennenlernen. Und wenn nicht – auch gut.
Es war noch in der U-Haft, und ein Mann aus der Männerabteilung war bei uns als Hausarbeiter eingeteilt. Er machte Flure und die Sanitäranlagen sauber. Sein Zeug samt einem Kaffeekocher lagerte in einem Kabuff auf unserem Flur. Als ich mal dort vorbeikam, bot er mir einen Kaffee an, den ich gern annahm. Er stellte sich vor: »Ich heiße Holger.« Wir haben ein paar Mal zusammen Kaffee getrunken, immer nur schnell im Stehen, und einmal gestand er mir, dass er sich sofort in mich verliebt hätte, als er mich das erste Mal sah. Na schönen Dank auch, das fehlte mir noch. Nicht, dass er mir unsympathisch war, aber ein Mann, gar eine Beziehung, war das Letzte, was ich damals im Sinn hatte. Holger schien das nicht zu beeindrucken. Er erzählte, dass er einen kleinen Elektroladen besitze, den während seiner Abwesenheit ein Kumpel hüte, der schon im Rentenalter sei, dass er 38 Jahre alt sei, geschieden und kinderlos, dass er wegen Steuerhinterziehung sitze und noch ein Jahr vor sich habe. Mir war das alles ziemlich wurscht, und ich dachte, nach meiner Verhandlung werde ich eh verlegt, und dann hat sich das mit seiner Verliebtheit erledigt.
Da hatte ich mich in Holger geirrt. Einen Tag nach meiner Verurteilung traf ich ihn noch mal, er hatte mir auf seiner Reinigungstour aufgelauert und sah mir auf drei Meter Entfernung an, wie ich mich fühlte. Wir gingen in sein Kabuff, er nahm mich in den Arm, was ich mir gefallen ließ, und versprach, auf mich zu warten, mir zu schreiben, mich zu besuchen, sobald er draußen ist und wenn ich das wolle. Was er sich sehr wünsche. Seine Umarmung tat mir gut, er fühlte sich gut an und roch gut, aber auf seine Versprechungen gab ich nichts. Er hatte noch ein Jahr vor sich, ich zwölf, was sollte das also? Nein, über die Brücke gehe ich nicht, darauf wollte ich mich nicht einlassen. Nie wieder sollte mich ein Mann beherrschen oder verletzen. Ich sagte ja, ja, und danke und alles Gute auch für dich und zog mich zurück.
Kaum war ich hier gelandet, kam ein Brief von ihm. Er wusste, welche JVA für mich zuständig ist und hatte irgendwie meinen Familiennamen rausgekriegt. Er schrieb von seinem Alltag, hoffte, dass ich mich gut einleben würde und meine Zuversicht nicht verlöre. Und ich solle ihm unbedingt schreiben, er möchte wissen, wie es mir geht. Ja, und das tat ich dann auch. Hatte an den langen Abenden und Wochenenden ohnehin nichts zu tun und schreibe gern Briefe, um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu verlieren. Warum also nicht auch an Holger. Ich schrieb ihm, dass Michael sich mit meinem Anwalt verständigt habe, der die Revision beantragen wollte, schrieb ihm später, dass sie abgelehnt worden sei und mir nur die Hoffnung auf Halbstrafe, und wenn aus der nichts wird, auf die Zwei-Drittel-Lösung bleibe und dass das immer noch acht Jahre sein werden, bevor ich wieder rauskönne. Bei jedem Brief, den ich abschickte, dachte ich, nun habe er die Nase voll vom Warten, aber nein, er schrieb zurück. Nicht aufdringlich, nicht fordernd, einfach nur lieb, freundlich, unerschütterlich. Und auch als er wieder frei war, hörten seine Briefe nicht auf. Sein Kumpel hatte das Geschäft zwar recht und schlecht geführt, er müsse aber nun dafür sorgen, dass er es wieder in Schwung kriegt, muss also Werbung machen. Ob ich eine Idee hätte.
Schließ den Laden für eine Woche oder zwei, renoviere ein bisschen und setz eine Anzeige in die Zeitung: Neueröffnung – moderne Lampen und Leuchten – Reparaturen vom Fachmann oder so ähnlich.
So hat er es dann auch gemacht und mir über jeden Schritt berichtet. Hat sogar die Anzeige aus der Zeitung ausgeschnitten und einem Brief beigelegt. Und ein Foto. Da sitzt er auf einem Motorrad, in Jeans, kariertem Hemd, lachend. Er ist mittelgroß, mittelschlank, mittelblond, nichts Besonderes, aber sein Lachen gefällt mir. Er hat beim Lachen kleine Falten um die Augen, ich glaube, die Augen sind mittelblau. Er hätte zwar auch sehr gern ein Foto von mir, weiß aber, dass ich keine Autogrammpostkarten parat hätte, schrieb er mit einem Smiley. In meinem Antwortbrief überging ich das. Aber in meinem Kopf fing es an zu rödeln. Ich weiß, dass wir einmal im Jahr sogenannte Jahresfotos machen lassen können. Es kommt eine Fotografin ins Haus, man sitzt dann unten im Erdgeschoss, wo die Büros und die Räume von Sozialarbeiterinnen und Beamtinnen liegen, zwischen Birkenfeigen, Clivien und anderem Grünzeug und wird abgelichtet. Dann bekommt man vier Bilder, in Postkartengröße und Farbe. Bis jetzt hielt ich diesen Service für mich für unnötig. Doch als Weihnachtsgeschenk? Vielleicht freust du dich auch über ein Foto von deiner Mama, meine geliebte Kleine? Eins würde ich meinem Papa schicken, eins Nicole im fernen Norwegen. Und eins vielleicht für Holger? Darüber werde ich nachdenken. Ist ja noch lange hin bis Weihnachten.