Dezember 2010, Samstagmittag

Das Gute an diesem Laptop: Ich kann im Bett sitzen und schrei­ben, muss nicht immer auf dem Stuhl am Tisch sitzen. Das Schwierige: Ich darf die Buchstaben nur ganz sanft antippen, nicht mehr so auf die Tasten hauen. Das fällt mir noch schwer, ich muss also häufig korrigieren. Aber wenn ich alles so viel hätte wie Zeit …

Ich habe meine Decke zusammengerollt und mir hinter den Rücken als Lehne getan, so ist es ziemlich bequem. Heike sitzt auch so im Bett und liest.

Mittags gab es Spaghetti Bolognese, das schmeckt allen, wir sind satt und so zufrieden, wie man hier sein kann.

Morgen ist Erster Advent, zum vierten Mal hinter Gittern. Das ist die schlimmste Zeit hier. Nein, auch sonnige, warme Sommertage sind schlimm. Aber die Vorweihnachtszeit und Heiligabend schlagen enorm aufs Gemüt.

Gerade hörten wir eine traurige Nachricht: Eine Frau aus der benachbarten Wohngruppe ist nach zehn Jahren vor zwei Wochen entlassen worden. Sie hatte ihr kleines Kind in der Badewanne ertränkt, weil es immer nur brüllte. Sie hat hier eine Psychotherapie gemacht, das heißt, sie hatte sehr viele Termine bei der Psychologin und schien am Ende stabil zu sein. Und nun, so erzählte man sich im Essensaal, habe sie sich umgebracht.

Heike hat Frau Hirschfeld, die Sozialarbeiterin, gefragt, ob das Gerücht stimme. Sie wusste nur so viel: Die Frau wollte oder konnte nicht wieder in ihrem Dorf leben, sie hatte als neues Ziel eine Adresse in Berlin angegeben. Ob sie dort allein leben wollte, wusste Frau Hirschfeld nicht. Sie ist vor einer S-Bahn auf die Gleise gesprungen. Der Fahrer konnte nicht schnell genug bremsen. Sie war sofort tot. Wir rätselten den ganzen Abend lang darüber, was bei ihr schiefgelaufen sein könnte, warum die psychologische Stütze nicht gehalten habe, was ihr möglicherweise draußen passiert sei, warum sie niemanden hatte, bei dem sie Hilfe hätte finden können. Und wie es dem armen S-Bahn-Fahrer nun ergehen mag, der diesen Schock verdauen und irgendwann wieder eine Bahn fahren muss. Worüber wir nicht sprachen, was wohl aber jede von uns beschäftigt: Wie werden wir es schaffen, im Alltag zurechtzukommen? Hier ist alles geregelt, was uns fürchterlich nervt, jeder Schritt vorgeschrieben, jeder Gang vorgezeichnet, jede Mahlzeit vorgesetzt. Für alles Besondere müssen wir einen Antrag stellen, alle im Format DIN A 5: Antrag auf Besuch, Antrag auf den Empfang eines Paketes, Antrag auf einen Arztbesuch … Und für jeden Antrag ist eine bestimmte Frist einzuhalten, sonst wird er nicht bearbeitet.

Wie aber werden wir leben ohne Anträge? Wie werden wir zurechtkommen, wenn wir jede Entscheidung selbst fällen müssen? Wie werden wir mit Fehlentscheidungen, mit Enttäuschungen, mit Schwierigkeiten umgehen?

In zwei Jahren kann ich einen Antrag auf Halbstrafe stellen, d. h. dass ich rauskann und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Und wenn das nichts wird, stelle ich später einen Antrag auf die Zwei-Drittel-Lösung, d. h. dass ich 2014 entlassen werde. Dann würden in ungefähr zwei Jahren die Lockerungen beginnen. Dann könnte ich Leben üben. So sehr ich mich auf die Welt da draußen, auf ein normales Leben freue, so sicher weiß ich auch, dass ich sehr stark sein muss, um zu bestehen. Dabei habe ich hier, glaube ich, schon viel über mich nachgedacht und gelernt. Wovor also sollte ich mich fürchten? Was soll mir passieren, nachdem das Schlimmste, was ein Mensch tun kann, hinter mir liegt? Warum immer noch diese Zweifel?

Gehe ich vom Normalfall aus – der Zwei-Drittel-Lösung –, muss ich noch viermal Advent und Weihnachten ohne dich, mein Mädchen, überstehen. Wie aber wäre ein Weihnachtsfest mit dir? Hast du dich nicht schon von mir entfernt? Vielleicht magst du gar nicht mit mir unter’m Weihnachtsbaum sitzen? Vielleicht erlebst du in der Familie meines Bruders zum ersten Mal entspannte und friedliche Weihnachtstage? Bei uns gab es doch meistens Stress. Nur wenn wir bei deinen Großeltern waren – am ersten Feiertag bei meinen Eltern, zusammen mit Helmut, Sandra, Micha und ihren Kindern, am zweiten Feiertag bei Oma Herta und Jochens Schwester Püppi samt Mann und Kind – benahm sich Jochen friedlich. Kaum zu Hause, geriet der Frieden ins Wanken.

Ich wünsche so sehr, dass du vieles vergessen hast. Oder erinnerst du dich?

An einem dieser Feiertage wolltest du am Vormittag einen Märchenfilm sehen, was Jochen nicht passte, keine Ahnung, warum. Er verbot es dir, du weintest und batest, er brüllte sein Nein, du weintest lauter, da gab er dir eine Ohrfeige. Und ich schrie ihn an: »Nie wieder schlägst du Julia, sonst …« Ich kam nicht weiter. Er packte mich am Arm, zerrte mich aus dem Zimmer und zischte: »Was – und sonst? Du drohst ja immer nur, also kannst du auch das Drohen sein lassen. Und nun halt die Klappe und erkläre dem Kind, dass es jetzt kein Fernsehen gibt. Mach endlich das Mittagessen und dann lass uns zu meiner Mutter fahren.«

Stimmt. Ich drohte immer nur. Weil ich feige war. Heute würde mir das nicht mehr passieren. Heute kann ich meinem Gegenüber in die Augen sehen und klar meine Meinung sagen. Ich habe erfahren, dass es einfach guttut zu erklären, wie man eine Situation beurteilt, wie man etwas empfindet, was einen stört. Aber damals …

Vielleicht habe ich auch von Anita und von Heike gelernt, Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg zu gehen, sondern Klarheit zu schaffen.

Und sicher haben auch die Stunden bei der Psychologin geholfen, dass ich heute entschieden Grenzen setzen kann, wenn mir jemand zu nahetritt. Aber davon morgen, mir tut schon der Rücken weh.