Jetzt brennen überall die Osterfeuer. Wie gern wäre ich irgendwo dabei! Bekannte treffen und quatschen, den Kindern beim Eiersuchen zugucken, ein Bierchen trinken, Gegrilltes essen, warten, bis das Feuer entzündet wird und zusehen, wie der große Haufen langsam niederbrennt, Teil einer Gemeinschaft sein und sich auf den Sommer freuen …
Jedes Jahr sind wir zum Platz gegangen, auch du, Julchen, hast mit den anderen versteckte Süßigkeiten gesucht und gefunden und später, von den Feuerwehrleuten beaufsichtigt, Stockbrot am Feuer gebraten. Es gab Kaffee und Kuchen, Grillwürste und Bier, du tobtest mit den anderen Kindern herum, Jochen war bei der Freiwilligen Feuerwehr am großen Holzhaufen zugange.
In jenem Jahr, an das ich jetzt denke, saß ich mit ein paar Frauen aus dem Ort zusammen an einem langen Holztisch, als ich hinter mir eine Stimme hörte, die mir einen Schauer über den Rücken rieseln ließ: »Da seid ihr ja alle zusammen!«, tönte es samtweich mit einem mir fremden Akzent. Ein großer, junger Mann mit strohblonden Haaren, die lustig nach allen Seiten abstanden, kam um den Tisch und legte seine Hände auf Annelies Schultern. Annelie stellte ihn als ihren Bruder vor, er sagte artig seinen Namen: Piet van den Hoek. Ich wusste zwar, dass Annelie Niederländerin und mit einem Deutschen verheiratet ist, aber nicht, dass sie einen Bruder hat. Woher auch, so gut kannten wir uns schließlich nicht. Annelie arbeitet in dem Schuhgeschäft neben unserem Laden, und wenn es dort besonders preiswerte Schuhe im Angebot gab, ließ sie uns das wissen, so wie wir sie und ihre Kolleginnen über unsere Schnäppchen informierten.
Piet quetschte sich neben seine Schwester auf die Bank, er saß mir gegenüber und guckte mich an, wie mich sehr lange kein Mann mehr angeguckt hatte.
Wir Frauen redeten weiter über dies und das, bis eine Piet fragte, was ihn in unsere Gegend getrieben habe.
»Familienbesuch«, und er grinste seine Schwester an.
Und was er sonst so mache, wenn er nicht seine Familie besuche, fragte eine andere. Ich war froh über die Fragen, hätte nicht gewagt, sie zu stellen, obwohl mich das natürlich brennend interessierte.
Wir erfuhren, dass er in Katwijk, Südholland, lebt, einer Stadt am Meer, dass er für eine Maschinenbaufirma arbeitet und beruflich häufig in Deutschland ist.
Immer wieder sah er mich an mit Augen, die so blau waren wie wahrscheinlich das Meer vor seiner Stadt im Sonnenschein, und ich war hin und weg. Ich saß da wie eine Statue, glotzte zurück und lauschte fasziniert seinen Worten mit dem hinreißenden Akzent. Ab und zu versuchte ich auszumachen, wo du, Julia, warst und was Jochen trieb. Du tobtest fröhlich mit den anderen Kindern durchs Gelände, dir konnte nichts passieren. Jochen lehnte entweder am Bierstand oder schürte mit seinen Feuerwehrleuten den riesigen Reisighaufen. Ich versank immer wieder in diesem meerblauen Blick.
Später standen wir nebeneinander und sahen zu, wie das Osterfeuer lichterloh brannte, da brannte auch mein Herz.
»Ich bin noch eine Woche in Deutschland, kann ich dich wiedersehen?«, fragte Piet irgendwann leise.
Ich antwortete ausweichend. Wie sollte ich das anstellen?
Als ich zögerte, ging er zum Bierstand, ließ sich einen Zettel geben und schrieb mir darauf seine Handy-Nummer.
»Ruf mich an, wenn du magst. Oder noch besser, gib mir deine Nummer«, sagte er und zückte sein Handy, um meine Nummer einzutippen.
Während ich sie ihm sagte, steckte ich seinen Zettel in die Tasche meiner Jeans.
»Deine Schwester weiß auch, wo ich zu finden bin«, sagte ich noch. Ich wollte auf ein unverfängliches Thema ausweichen, fragte nach seiner Arbeit.
Seine Firma stellt Turbinen und allerlei Maschinen her, die man für den Straßenbau verwendet, und er besucht Kunden, akquiriert Aufträge, wartet die Maschinen. Und wenn es irgendwie passt, besucht er seine Schwester. Nein, verheiratet sei er nicht, von Kindern wisse er nichts, sagte er grinsend, und als er ansetzte, mich nach meinen Familienverhältnissen zu fragen, stand plötzlich Jochen hinter mir. Er hatte schon ein paar Bier intus und fragte in ziemlich herrischem Ton nach dir, Julia.
»Sie sitzt da drüben mit anderen Kindern«, sagte ich und zeigte in die entsprechende Richtung.
»Dann hole sie und bring sie ins Bett, es ist schließlich spät!«, befahl er mir.
Ich verabschiedete mich von Piet nur mit einem Kopfnicken.
»Ruf mich an, ich warte drauf!«, flüsterte er.
Dann suchte ich dich, Julia, und ging mit dir heim. Ich brachte dich ins Bett, dachte an Piet und wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich ihn eher getroffen. Wie gern wäre ich wieder zurück zum Feuer gegangen, die anderen saßen bestimmt noch bis weit nach Mitternacht dort. Aber ich wagte nicht, dich allein zu lassen. Außerdem – was würde es bringen, Piet noch einmal zu sehen? Was sollte ich ihm sagen?
Ich zog mich aus. Sollte ich den schwarzen Body anziehen und auf Jochen warten, um ihn zu beruhigen? Du bist so entsetzlich feige!, dachte ich, bietest dich an und beschwerst dich noch über ihn! Ich zog den Body an, voller Selbstekel. Bloß keinen Stress zu Ostern!, dachte ich noch, dann schlief ich ein.
Ich erwachte, als Jochen mit dem langen Kochmesser vor mir stand, den Body aufschlitzte und brüllte: »Ich schneide dir unten alles weg, wenn du noch mal mit so einem Kerl rummachst, denkst wohl, ich hab dich nicht beobachtet? Du benimmst dich wie eine Hure! Dem Kerl poliere ich die Fresse, dass er seine Zähne einzeln aufsammeln kann, wenn er mir vor die Füße läuft!«
Ich dachte, er sei total übergeschnappt, er fuchtelte wie wild mit dem Messer vor mir rum. Ungeachtet des Blutes, das aus einer Schnittwunde kurz über meinem Schambein lief, fiel er über mich her.
Am Ostersonntag waren wir bei Sandra und Micha eingeladen. Als Jochen mal mit meinem Bruder draußen beim Auto war, flüsterte ich Sandra zu, dass ich Dienstag früh ins Frauenhaus gehen wolle, ob sie sich um dich kümmern könne. Wir redeten den Kindern ein, wie toll es wäre, wenn du, Julia, ein paar Tage bei ihnen bliebest, Sandra würde dich am Dienstag mit in ihren Kindergarten nehmen. Ein paar Sachen für dich und deine beiden Kuscheltiere hatte ich vorsorglich eingepackt und heimlich mitgenommen.
Dienstag rief ich meine Chefin an und bat um einen freien Tag, ich hätte mir den Magen verdorben, Mittwoch wäre ich sicher wieder fit. Piet schickte ich eine SMS: »Es tut mir leid, ich kann dich nicht treffen. Alles Liebe für dich!«
Jochen legte ich einen Zettel auf den Küchentisch: »Versuche nicht, uns zu finden. Wir sind weg.«
Dann rief ich die Notruf-Nummer an, die mir Nicole vor langer Zeit gegeben hatte. Eine Frau mit sachlicher, nicht unfreundlicher Stimme vereinbarte mit mir einen Treffpunkt in der Kreisstadt, etwa 45 Kilometer von unserem Ort entfernt, sie würde dort auf mich warten. Ich nannte ihr mein Autokennzeichen und den Autotyp.
Die Frau, die am Treffpunkt auf mich zukam, wirkte vertrauenerweckend. Sie war vielleicht Mitte Vierzig, trug einen grauen Blazer, Jeans, die dunklen Haare hochgesteckt. Sie gab mir die Hand und stellte sich vor: Elke Hentschel, Sozialarbeiterin. Gemeinsam fuhren wir zu einem zweistöckigen Haus, das sich in nichts von seinen Nachbarn unterschied. Nur dass auf dem Klingelschild kein Name stand. Das Auto konnte ich hinter dem Haus abstellen, von der Straße nicht einsehbar. Daneben lag ein schöner, großer Kinderspielplatz mit allem, was ein Kinderherz erfreut.
Frau Hentschel erklärte mir das Haus: Auf jeder der beiden oberen Etagen gäbe es sechs Zimmer, klar und sparsam eingerichtet mit jeweils einem oder zwei Betten, in einigen Zimmern außerdem mehrere Kinderbetten, dazu Schrank, Tisch, Stühle. Es gab Gemeinschaftsbäder mit Dusche, Wickelkommode und Toilette. Sie zeigte mir die Küche im Erdgeschoss, einen Aufenthaltsraum für die Frauen, ein Kinderspielzimmer. Im Souterrain lag der Bereich für die Mitarbeiterinnen, ein Raum für Waschmaschine und Trockner, Waschmarken könne ich kaufen, die Benutzung der Maschinen müssten die Frauen untereinander absprechen.
Ich hätte großes Glück, sagte Frau Hentschel, gerade sei ein Zimmer frei geworden. Sie wies mir ein Einzelzimmer zu, auf dem Bett lag ein Päckchen mit Bettwäsche, zwei Handtüchern und zwei Waschlappen. Dann bat sie mich nach unten in den Besprechungsraum.
»Ich informiere noch die Psychologin«, sagte sie und telefonierte kurz.
Die beiden Frauen wollten so vieles von mir wissen, dass mir der Kopf schwirrte: Alter, Beruf, Gründe für die Flucht, wo das Kind sei, ob ich den Tagessatz von acht Euro pro Tag selbst bezahlen könne, ob ich weiter arbeiten könne, welche Papiere ich mithabe, Lohnzettel, Kindergeldbescheinigung und so was. Ich sagte, dass ich ein bisschen Geld gespart hätte und am nächsten Tag zu meiner Chefin fahren wolle, um mit ihr die Situation zu besprechen. Sie informierten mich über die Hausordnung: Das Haus ist mit Gegensprechanlage und Überwachungskamera gesichert, Zigaretten, Alkohol, Drogen seien selbstverständlich tabu, einmal in der Woche besprächen alle Frauen in einer Hausversammlung anstehende Probleme, Telefon- und Putzdienste.
»Wir unterstützen Sie bei Wohnungssuche, Kindergartenwechsel für Ihr Kind, in Rechtsfragen und bei Kontakten zu Behörden. Zu uns kommen Frauen unterschiedlicher Nationalität, Religion, psychischer und physischer Verfassung, unterschiedlichen Alters und Bildungsniveaus. Aber das Zusammenleben kann für Sie hilfreich sein, hier sind schon Freundschaften fürs Leben entstanden. Seien Sie also zuversichtlich und offen!«, versuchte Frau Hentschel, mir Mut zu machen.
»Haben Sie jetzt noch Fragen? Nein? Sie können so lange bleiben, wie Ihr Zustand es erfordert«, sagte sie abschließend. »Haben Sie schon eine Vorstellung über Ihre weiteren Schritte?«
Plötzlich begriff ich meine absolute Ahnungslosigkeit. Ich hatte überhaupt keinen Plan. Hatte nur einen Schritt vor den anderen gesetzt und nicht über irgendwelche Konsequenzen nachgedacht. Ich muss geguckt haben wie ein erschrockener Hamster, dann fing ich an zu heulen wie schon lange nicht mehr. Ich konnte gar nicht aufhören mit Schluchzen.
Frau Hentschel brachte mich in mein Zimmer. »Ruhen Sie sich aus, kommen Sie zu sich, in der Küche ist immer etwas Notverpflegung, schlafen Sie erst mal.«
Schlafen konnte ich nicht, aber irgendwann habe ich aufgehört mit der Heulerei, weil ich aus dem Nachbarzimmer Kinderlärm hörte. Als ich aus meinem Zimmer trat, um die Toilette zu suchen, traf ich auf meine Nachbarin. Sie stellte sich als Paola vor und bot sofort Hilfe an: »Komm nachher in unser Zimmer, dann können wir reden, wenn du magst.«
In ihrem Zimmer herrschte ein heilloses, aber sympathisches Durcheinander. Paola, Italienerin in meinem Alter, lebte seit zwei Wochen dort mit ihren vier Kindern, zwei, drei, vier und sechs Jahre alt. Auf ihrem Bett lagen zwei Bücher, in den Kinderbetten Kuscheltiere, auf dem Fußboden Spielzeug, Jacken, Kinderschuhe. Sie lud mich spontan zum Abendessen ein. Ich fühlte mich in diesem Durcheinander sofort irgendwie geborgen.
Am Mittwoch fuhr ich auf Schleichwegen ins Geschäft, parkte einen halben Kilometer vorher und bat meine Chefin um ein vertrauliches Gespräch. Ich erzählte ihr von meinem Auszug. Sie hatte längst geahnt, dass meine Ehe nicht zu den glücklichsten gehörte. Ich gestand ihr auch meine Ratlosigkeit und stieß auf Verständnis. Sie gewährte mir anstandslos vier Wochen unbezahlten Urlaub. So blieb mir mein Arbeitsplatz erhalten, und ich gewann Zeit zum Nachdenken.
»Bleiben Sie stark, Frau Schwarz, Sie werden ganz bestimmt allein mit Ihrem Kind zurechtkommen, davon bin ich überzeugt«, sagte sie zum Abschied.
Am Samstag und am Sonntag fuhr ich zu Sandra und Micha, um dich zu sehen, mein geliebtes Julchen. Natürlich hatte Jochen bei ihnen nach mir gefragt, und natürlich hatten sie keine Auskunft gegeben. Von dir, Julia, erfuhr er nur: Mama kommt bald wieder.
Schon nach ein paar Tagen verabredete ich mit Paola, dass ich einkaufe und sie für mich mit kocht. Ihre beiden kleinen Mädchen benahmen sich sehr zutraulich, aber fast zu still, während die älteren Jungen ihre Umgebung mit unberechenbaren, aggressiven Ausbrüchen terrorisierten. Scheinbar anlasslos gerieten sie in fürchterlichen Zorn, tobten und brüllten, versuchten, ihre Mutter zu schlagen und beschimpften sie auf Italienisch. Paola brach häufig in Tränen aus, ich versuchte, sie zu trösten und zu stärken, so gut ich konnte und war heilfroh, dass du das nicht miterleben musstest. In vielen Gesprächen mit der Psychologin versuchte Paola, sich das Rüstzeug zu holen, um die Situation zu beherrschen, aber offenbar waren die Jungen traumatisiert von der jahrelang durch ihren Vater erlebten Gewalt und der plötzlichen Trennung von ihrem gewohnten Umfeld.
Es wird wohl lange dauern, bis sie das Erlebte verarbeitet haben, sagte Paola mal zu mir. Und wer weiß, was die Mädchen davon mit sich rumschleppen, ohne dass es an die Oberfläche kommt.
Am Tage war ich Paola behilflich, ihre Kinderschar zu bändigen. Die beiden Kleinen, Gina und Nina, mochte ich besonders gern. Während ich sie beschäftigte, dachte ich voll Sehnsucht an dich und die Zeit, als du so klein warst. Wie selten waren die friedlichen, schönen, harmonischen Momente damals mit dir und deinem Papa! Dann konnte er sogar zärtlich sein zu dir und zu mir. Aber sie endeten so unverhofft wie sie begannen.
Warum läuft es in so vielen Partnerschaften so daneben? Die Frauen, die hier Schutz suchen, waren irgendwann voll Zuversicht in eine Partnerschaft gestartet. Zum Beispiel eine Rumänin mit ihrem Sohn, die keinen Beruf gelernt hatte; zwei deutsche Frauen ohne Kinder, eine machte irgendwas mit EDV, die andere war Krankenschwester; eine Frau aus einem böhmischen Dorf mit zwei Söhnen, die mit Paolas Jungen rumtobten.
Sobald die Kinder schliefen, saßen Paola und ich in meinem Zimmer, tauschten uns über unsere Männer aus und dachten über das Morgen nach. Was sie über ihren italienischen Macho erzählte, hätte der Refrain von meinem Lied über Jochen sein können. Wenn die eine weinte, tröstete die andere.
Paola hatte in Rom Literaturwissenschaft studiert, bevor sie ihren Mann kennenlernte. Sie hatte gehofft, nach der Heirat zu Hause als Lektorin arbeiten zu können, aber dann bekam er ein gutes Jobangebot in Deutschland und sie ein Kind nach dem anderen. Paola wollte nun zurückkehren in ihre Heimatstadt Mailand, wo ihre Eltern lebten. Ihre Kinder sollten nicht das Muster verinnerlichen, das sie bei Paola und ihrem Vater erlebt hatten und was ihre Jungs wohl schon geprägt hätte.
Was hat dich geprägt, Julia, fragte ich mich, wenn ich dann schlaflos und grübelnd im Bett lag? Wie wirst du Partnerschaft leben? Etwa nach dem Muster deiner Eltern? Paolas Worte hatten mir sehr zu denken gegeben. Wie sollte es weitergehen mit dir und mit mir? Warum schaffe ich es nicht, eine vernünftige Ehe zu führen? Was ist das für eine Situation: Mein Kind bei Verwandten, ich versteckt in einem Haus, ohne mein Kind, ohne meine Arbeit, unter fremden Frauen mit ähnlichem Schicksal. Ich sehne mich nach Zweisamkeit, nach Harmonie! Warum habe ich versagt?
Natürlich hatte mir Piet sehr gefallen, ich hätte ihn auch gern wiedergetroffen, aber Zukunft? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen.
Paola erzählte mir, wie sehr Frau Hentschel ihr half, die nötigen Schritte für ihre Scheidung und die Rückkehr nach Mailand einzuleiten.
In einem langen, intensiven Gespräch bestärkte mich die Psychologin darin, mich von Jochen zu trennen. Er würde sich nie ändern, ich solle aufhören, mir die Schuld für sein Handeln zu geben. Die Mitarbeiterinnen des Hauses könnten mir bei allen nötigen Schritten behilflich sein, mich sogar, wenn ich es möchte, zum Familiengericht begleiten. Sie legte mir alles so leicht dar, dass ich mich nach diesem Gespräch stark und beschwingt wie lange nicht fühlte. Jawohl, das schaffe ich! Es war ein Freitag, mein dritter Freitag im Frauenhaus. Drei Wochen hatte ich von Jochen nichts gesehen und nichts gehört. Am kommenden Montag werde ich allein zum Gericht gehen und die Scheidung einreichen!
Als ich am Samstagabend nach dem Besuch bei euch in mein Auto steigen wollte, das ich zwei Straßen weiter geparkt hatte, stand plötzlich Jochen vor mir. Ich blieb stehen wie angenagelt.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er butterweich. Ich schwieg, setzte mich hinters Lenkrad, er neben mich. Und während ich auf den Asphalt vor mir starrte, redete er mit Samtstimme auf mich ein:
»Ich habe nachgedacht, es tut mir unendlich leid, wenn ich dich gekränkt und dir wehgetan habe, ich verspreche dir, ich werde mich zusammennehmen, es wird nicht wieder vorkommen, wir haben uns ein so schönes Zuhause aufgebaut, das kannst du doch nicht einfach verlassen, ich habe Sehnsucht nach dir und Julia, wir gehören zusammen, und entschuldige, wenn ich eifersüchtig war, aber ich liebe dich so sehr, bitte, versuche es doch noch einmal mit mir«, also das alte Lied.
Ich bat ihn auszusteigen, ich brauchte Zeit zum Nachdenken, ich würde ihn morgen anrufen.
Und was tat ich? Fiel zusammen wie ein Soufflé. Schrieb am Sonntag Frau Hentschel einen Brief, in dem ich mich für alle Fürsorge und Hilfe bedankte und mitteilte, es noch einmal mit meinem Mann zu versuchen; gab Paola das Geld für meinen Aufenthalt mit der Bitte, es am Montag der Leiterin zu übergeben, bat sie, standhafter als ich zu bleiben und sich unbedingt aus Mailand zu melden; schickte Jochen eine SMS, packte meine Sachen und fuhr zu euch.
Sandra schüttelte nur schweigend den Kopf, als ich dich abholte. Mein Bruder war auf dem Fußballplatz, dessen vorwurfsvolles Gesicht konnte ich mir jedoch gut vorstellen. Ich schämte mich vor den beiden, das ist wahr. Aber ich hatte nicht die Kraft, von Jochen wegzugehen.
Jetzt, im Nachhinein fallen mir Bruchstücke des Gutachtens ein, das der Psychologe im Gerichtsprozess über mich und meine Ehe verlesen hat: »Der Ehemann war starrköpfig, rechthaberisch, ignorant, aufbrausend … Über den Zustand ihrer Ehe haben sie nie gesprochen … Die Hilfsmöglichkeiten der Angeklagten waren erschöpft … Beiden Eheleuten war eine gute Fassade wichtig, das Haus ihr ganzer Stolz … Durch seine täglichen Drohungen ist Gewalt gewöhnlich geworden … Ihre innere Abhängigkeit vom Ehemann war so stark, dass schon kleine Zeichen genügten, um sie wieder zu ihm zurückzubringen …«
Das soll ich gewesen sein? In eine solche Abhängigkeit werde ich mich nie mehr begeben, dessen bin ich heute sicher. Ich glaube, ich habe hier im Knast den aufrechten Gang gelernt.