Freitag, 6. Januar 2012

Für Swetlana und Alla wäre eigentlich heute erst Weihnachten und damit ein freier Tag, da sie aber schon lange in Deutschland leben, haben sie mit uns gefeiert. Zum Mittagessen gab es am 24. für jede Gefangene – natürlich – Kartoffelsalat und Würstchen und am ersten Weihnachtsfeiertag ein halbes Hähnchen. Wir haben am Heiligabend alle bei einem tollen Buffet in unserer Wohngruppe zusammengesessen. Swetlana und Alla haben Soljanka gekocht, mit Bockwurst und gekochtem Schinken statt Rinderbrust. Danach gab es Wareniki, das sind halbmondförmige Teigtaschen, die sie mit Quark gefüllt haben.

Von Katrin und Lucia gab es kubanischen Reis mit Zwiebeln, Knoblauch, Schweinefleisch und Tomaten aus der Dose. Da das Original Cajun-Gewürz nicht aufzutreiben gewesen war, haben sie in der Küche Gewürze, die ihnen fehlten, erbettelt und eine Cajun-Ersatzmischung hergestellt aus Pfeffer, Kreuzkümmel, Thymian, Oregano, Paprikapulver, Cayennepfeffer. Martina und Hanna waren zuständig für einen frischen Salat, Hummel und Eileen hatten Weihnachtskekse gebacken, Heike und ich haben zum ersten Mal im Leben Panna cotta gemacht, frei nach Schnauze sozusagen aus Sahne, Zucker, Gelatine und obendrauf Erdbeermarmelade. Statt Wodka, Wein und Cava, das ist spanischer Champagner, wie uns Katrin aufklärte, gab es Apfelsaft, Cola und Wasser. Es war eine richtige Völlerei, und uns allen hat es einen Riesenspaß gemacht, die anderen zu überraschen. Sobald die Stimmung ins Sentimentale zu kippen drohte, hat eine von uns rasch irgendwas Unverfängliches erzählt.

Hummel, unsere kleine Naive, fragte sogar Carmen-Katrin unverblümt, was man hier niemanden fragt: »Wieso hast du ausgerechnet in Spanien gesessen?«

Da dieser exotische Umstand aber jede von uns interessierte, nahm niemand Anstoß, nicht mal die Befragte. Im Gegenteil, Katrin berichtete ganz emotionslos, dass sie auf dem Flughafen Madrid–Barajas mit Kokain erwischt und zu zehn Jahren Haft verurteilt worden sei, wovon sie vier Jahre in Madrid abgesessen habe.

»Zehn Jahre? Wie viel Zeug hattest du denn dabei?«, fragten einige gleichzeitig.

»Drei Kilo.«

»Für drei Kilo Kokain zehn Jahre???«

»Tja, in Spanien sind die BTM-Gesetze härter als hierzulande«, meinte Katrin. »Dieser Arsch, mein Auftraggeber, ist inzwischen hier gefasst worden und hat nur siebeneinhalb Jahre gekriegt. Und das nicht für drei Kilo, sondern für mindestens dreißig oder mehr!

Und hat damals nicht mal für einen guten Anwalt für mich gesorgt. Hat mich einfach dort in Spanien hängen lassen, da verstand ich noch kein Wort Spanisch, mit Englisch kam ich nicht weit, und erreichen konnte ich den Kerl auch nicht mehr, sein Handy blieb stumm.«

War es die weihnachtlich-weiche Stimmung oder diese nicht alltägliche Geschichte, jetzt wollten wir mehr wissen und fragten durcheinander:

»Woher kam der Typ?«, »Wie hast du ihn kennengelernt?«, »Wie kamst du nach Madrid?« Und vor allem: »Warum hast du dich auf so was eingelassen?«

Und Katrin gab fast emotionslos Auskunft: »Wie man an so jemanden kommt? Über Bekannte, die einen Bekannten haben, der jemanden kennt und der gerade jemanden für eine solche Reise sucht. Der Arsch lebte in Holland, ist Afrikaner.«

»Und warum?«

»Mein Freund hatte Schulden, und ich wollte ihm aus der Patsche helfen. Er war natürlich total entsetzt, als er davon und von dem Urteil erfuhr. Ich wollte die Tour nur einmal machen, denn der Lohn hätte nicht nur für seine Schulden, sondern für sehr viel mehr gereicht.«

»Und wie ging das?«

»Ich fuhr nach Amsterdam, flog über Madrid nach Miami, weiter nach Honduras, wo ich das Zeug übernahm, und zurück. Beim Umsteigen, als ich für die letzte Etappe nach Amsterdam eingecheckt hatte, die Bordkarte war schon abgerissen, war dann Endstation. Ich habe ein halbes Jahr in U-Haft gesessen, dann wurde ich verurteilt.«

»Und warum bist du erst nach vier Jahren nach Deutschland gekommen?«, wollte eine wissen.

»Erst?«, sagte Katrin, »Die deutsche Polizei brauchte meine Aussage gegen den Arsch, deshalb ging es etwas schneller. Sonst würde ich vielleicht heute noch dort sitzen. So, und ehe ihr noch weiter fragt«, und jetzt wurde sie heftiger: »Ja, ja, ja, ich bereue es sehr, jeden Tag, ja, ich habe ausgeblendet, dass es viel zu viele Drogentote gibt, dass es auch Kinder treffen kann, ja, ich habe auch die Angst ausgeblendet, geschnappt zu werden, ja, ich habe totale Scheiße gebaut, nein, nie wieder würde ich so was tun, und ich empfehle es auch niemandem, und nein, ich weiß nicht, ob mein Freund auf mich warten wird. Ende, nun hab ich genug davon erzählt.«

Lucia und ich, die rechts und links von ihr saßen, umarmten sie und drückten ihr einen Kuss auf die Wange. Und dann quatschten wir noch über dieses und jenes, bis wir kurz vor Mitternacht gemeinsam aufräumten und das Geschirr abwuschen. Als alle schon schlafen gegangen waren, rauchten Katrin und ich noch eine Zigarette, und sie gestand:

»Weißt du, was ich gern mal wieder möchte? Was Kuschliges, Lebendiges anfassen, mal wieder ein Felltier streicheln. Natürlich Lea-Marie an mich drücken, mit meiner Nase in ihrem Haar wühlen, ihre kleinen Händchen streicheln, ihr Küsse auf den Bauch drücken, bis sie quietscht. In Spanien habe ich das gar nicht so sehr vermisst, da war alles bunt, laut, warm, aber hier …«

Wir umarmten uns noch mal und gingen dann auch schlafen.