Gestern wart ihr wieder da, wie sehr hatte ich mich auf euch gefreut! Und wie schwer ist mir diesmal der Abschied gefallen. Ich rechne es Sandra, Michael und dir hoch an, dass ihr euch bei diesem Traumwetter ins Auto setzt, um mich in dieser trostlosen Umgebung zu besuchen. Wie viel schöner wäre es, könnte ich an einem dieser lauen Mai-Abende mit euch im Garten sitzen! Ich musste mich sehr zusammenreißen, um vor euch ein heiteres Gesicht zu machen. Aber kaum war ich in meiner Hütte, fiel meine Fassade zusammen. Und heute geht es mir nicht besser. Draußen 25 Grad, knallblauer Himmel, strahlender Sonnenschein – und ich hocke in diesem verdammten Gemäuer. Das ist bei schönem Wetter viel schwerer auszuhalten als bei Sturm und Regen. Obwohl ich auch gern mal wieder einen Spaziergang im Regen machen würde. Aber Sonne und Wärme … hoffentlich ist bald Abend. Durch diese blöde Sommerzeit bleibt es ja viel länger hell, das heißt, ich muss viel länger gegen diese wahnsinnige Sehnsucht nach draußen ankämpfen. Es ist ja auch nicht immer so, eigentlich habe ich mich ganz gut im Griff. Nur ist es heute wieder mal besonders schlimm.
Vorhin auf dem Hof habe ich eine gut aussehende Frau wahrgenommen, die offenbar neu hier ist. Ein paar Frauen erzählten, sie habe sich ein Jahr lang vor dem Haftantritt versteckt. Sie war verurteilt worden, keine Ahnung weshalb, und durfte erst mal heim zu ihrem Mann und den beiden Kindern. Aber als dann der Brief mit der Aufforderung im Kasten lag, in zwei Wochen die Haft anzutreten, hat sie sich versteckt. Frag nicht, wie das ging, jedenfalls soll ihr Mann der Polizei, die mal nach ihr fragte, erzählt haben, sie würden getrennt leben und er habe keine Ahnung, wo sie sei.
Sie erzählten auf dem Hof auch von einer Frau, die jetzt drüben in der Mutter-Kind-Abteilung lebt. Die war im dritten Monat schwanger, als sie einrücken musste und hat ihr Kind hier geboren – mit zwei Beamtinnen neben dem Bett im Kreißsaal. Irre, was man hier so alles hört und sieht.