Juni 2012

Helmut hat einen Anwalt für Strafrecht gebeten, für mich einen Antrag auf Gewährung der Halbstrafe und Aussetzung des Strafrests zur Bewährung, so die ordentliche Bezeichnung, zu stellen. Es hätte wenig Aussicht auf Erfolg, aber versuchen kann man es. Dazu brauchten wir die Beurteilung der JVA über mein Verhalten; sämtliche Beamten, die jemals mit mir zu tun hatten, müssen dazu Stellung nehmen. Wahrscheinlich geschieht das mit einem Rundschreiben und dauert vier bis sechs Wochen, bis jeder seinen Senf dazugegeben hat. Alles geht dann zu diesem Anwalt, der es weiterreicht an einen Staatsanwalt der Strafvollstreckungskammer und einen zuständigen Richter.

Ich mache mir wenig Hoffnung. Nicht, weil ich negativ aufgefallen sein könnte, ich führe mich eigentlich vorbildlich, sondern weil ich noch nie gehört habe, dass hier jemand mit einer Halbstrafe davongekommen ist.

Ich bemühe mich sehr, nicht auf ein positives Ergebnis zu hoffen, ertappe mich aber dabei, mir manchmal auszumalen, wie es wäre, wenn … Und ich klammere mich an den Gedanken, dass, wenn es nichts wird, wenigstens demnächst die Lockerungen beginnen. Und dass ich in zwei Jahren den Antrag auf die Zwei-Drittel-Lösung stellen kann.

Ich habe hier viel über mein Leben nachgedacht, habe mir viele Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort fand. Nur eines weiß ich sicher: Ich hätte Jochen nie heiraten dürfen. Aber damals dachte ich, keinen mehr abzukriegen, so wie ich mich fühlte, wenn ich in den Spiegel sah. Ich fand meine Schulkameradinnen viel hübscher. So ein Quatsch! Menschen sind nun mal unterschiedlich, dick oder dünn, volles Haar oder fusseliges, gebräunter Teint oder Pickel, Storch- oder Stampfbeine, flachbrüstig oder Hängebusen – wenn ein Mensch freundlich und zugewandt ist, treten Äußerlichkeiten in den Hintergrund. So viel weiß ich inzwischen. Aber damals habe ich mich an den anderen gemessen. Die meisten hatten einen Freund, ich wollte wohl nicht hinter ihnen zurückstehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte erst mal ein paar Jahre allein gelebt. So bin ich vom Elternhaus direkt in die Ehe gewechselt. Und vor Jochen habe ich nie mit einem anderen Mann geschlafen. Ich wusste eigentlich nur aus Büchern, dass es schön sein kann. Am Anfang war es auch schön. Manchmal.

Eigentlich war ich ein selbstbewusstes Kind gewesen, von meinen Eltern und Brüdern geliebt und behütet – wo war mein Selbstwertgefühl abgeblieben? Oder hatte ich mir nur eingebildet, selbstbewusst zu sein? Jedenfalls hatte Jochen es binnen kurzem geschafft, mich kleinzukriegen mit seinen Demütigungen und abfälligen Sprüchen, die immer gemeiner wurden, besonders, als du, Julchen, auf der Welt warst: »Du schaffst es nie alleine mit Kind! Bist ja zu blöde, einen Eimer Wasser auszukippen. Wenn du mich verlässt, bringe ich dich um, ich finde dich überall!« Nach der Sache mit Piet am Osterfeuer wurde es noch schlimmer: »Ich nehme dir den Hausschlüssel und das Handy weg und sperre dich hier ein, niemand wird dich vermissen, so bescheuert, wie du bist! …«

Was mich besonders schmerzte, war, wenn er auch dich beschimpfte: »Du bist ja so dämlich wie deine Mutter, diese dumme Kuh! Eine Drei in Mathe? Du bleibst so lange nach der Schule im Haus, bis du es kapiert hast und eine Zwei nach Hause bringst! Guck dir deine Verwandten an, die bringen viel bessere Zensuren nach Hause (was gar nicht stimmte). Dauernd machst du was kaputt oder schmeißt was um, kannst du nicht aufpassen, du Trampel? Bist ja total bescheuert!«

Als er die Kinder-Handballmannschaft trainierte, nahm er dich mit, obwohl du gar keine Lust hattest auf Handball. Du wolltest viel lieber Gitarre spielen lernen.

»Gitarre ist was für Weicheier«, war Jochens Kommentar, »du spielst Handball, das stärkt Nerven und Muskeln.« Dass Handball ein harter Sport ist, wusste ich damals nicht. Und ich habe auch erst sehr spät gemerkt, dass er dich viel härter rannahm als die anderen Mädchen. Auch dass er dich vor den anderen bloßstellte, wenn du aus Versehen den Ball mit dem Fuß getroffen hast, in den Torraum gelaufen bist oder einen Siebenmeterwurf vergeigt hast, erfuhr ich erst viel später von anderen. Als ich mitbekam, wie lethargisch und traurig du nach jedem Training heimkamst, war ich endlich imstande, dich gegen ihn zu verteidigen und von der Tortur zu befreien.

Dass ich all dem nicht viel eher Einhalt geboten habe, werde ich mir vorwerfen, solange ich lebe. Die Wunden, die er dir geschlagen hat, verheilen zwar, aber Narben bleiben.

Ich merke, ich habe mich verändert in den sechs Jahren seit meiner Verhaftung, nicht nur äußerlich. Wenn ich lache, dann ohne die Hand vor den Mund zu halten, und ich habe etwas zugenommen. Vor allem aber: Es tut einfach gut zu sagen, was man denkt und wie man behandelt werden möchte. Insofern hat der Knast gute Aufbauarbeit geleistet. Heute habe ich nichts mehr zu verlieren, kann nur gewinnen, denn tiefer fallen kann ich auch nicht mehr. Mich macht keiner mehr blöde an. Nein, ich raste nicht aus, ich kann ganz ruhig und freundlich meine Rechte einfordern, wenn ich im Recht bin. Und da ich (meistens) zu den Menschen freundlich bin, kommt auch (meistens) Freundlichkeit zurück.

Es war ein weiter, steiniger Weg bis zu solchen Erkenntnissen. Vielleicht war es für mich nur hier im Knast möglich, über alles nachzudenken, auch mithilfe der Psychologin. So seltsam es sich anhören mag: In der ersten Zeit fand ich mein Leben hier fast erträglicher als das mit Jochen, weil berechenbarer, ohne körperliche Angriffe. Natürlich, als ich mich davon genug erholt hatte, bedrückten mich die Trennung von dir, meine Jule, und die Knast-Atmosphäre mehr und mehr. Dann kam die innere Auflehnung gegen diese Entmündigung, diese ständige Kontrolle, dieses strenge Reglement. Ich kam mir vor wie eine Tigerin im Zoo, die rastlos am Gitter hin- und hertrabt. Schließlich ergab ich mich in mein Schicksal, und nun mache ich das Beste draus.

Manchmal fallen mir Details aus der Gerichtsverhandlung ein. Einmal fragte mich der Richter: »Haben Sie nicht, als das erste Mal so ein Ausdruck wie Arschloch, blöde Kuh gefallen ist, zu ihrem Mann gesagt, halt, das lasse ich mir nicht gefallen!?«

»Ja, doch«, hab ich gesagt, »aber es half nichts.«

Heute dürfte mir das niemand mehr bieten! Damals habe ich das widerspruchslos hingenommen. Nur nach innen habe ich revoltiert. Aber das nahm niemand wahr. Was war ich für ein Huhn!

Heute bin ich mir sicher, dass ich alleine zurechtkomme, sobald ich in Freiheit bin. Irgendwie werde ich es schaffen, Geld zu verdienen und mir eine kleine Wohnung einzurichten. Ich denke nicht an eine gemeinsame Wohnung mit Holger, selbst wenn er in seinen Briefen oder bei seinen Besuchen so etwas anklingen lässt. Ich möchte erst mal alleine klarkommen.

Wie hieß der dazu passende Spruch meiner Mama? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Solche Weisheiten schienen ihr wohl ein Gerüst gegeben zu haben. Mittlerweile zitiere ich sie selber oft.

Aber damals, in meiner Ehe mit Jochen, sah ich keinen Weg. Dabei hatte ich meine stabile Familie im Rücken und tolle Freundinnen.

In der U-Haft prophezeite mal eine Frau, die nicht zum ersten Mal saß, dass im Laufe der Zeit viele Kontakte einschlafen würden. Das leuchtete mir ein, denn nicht jeder, der von meiner Tat weiß, kann weiterhin mit mir befreundet sein. Das nehme ich auch nicht übel. Mir blieb nur, eifrig Briefe zu schrei­ben, und ich bekam auch viel Post. Zum Beispiel von Susann. Als ihre Tochter aufs Gymnasium kam, schrieb sie nur noch von diesem Wunderkind. Offenbar hat sie ihr Kind enorm getriezt: Jeden Tag hat Susann mit ihr gebüffelt, sogar den Stoff vom folgenden Schuljahr hat sie dem armen Mädchen aufgehalst und sich bei mir beklagt, dass ihre Tochter immer bockiger werden würde. Ich fragte vorsichtig in einem Brief: Vielleicht überforderst du sie? Nimmst ihr möglicherweise die Lust am Lernen? Und dachte, dass das Mädchen überhaupt nicht Kind sein durfte. Ich kann mich noch gut an die Kleine erinnern: ein zartes, fast durchsichtiges, kleines Dingelchen, niemals aufmüpfig oder laut. Susann ist darauf nie eingegangen, ab und zu schickte sie noch eine Postkarte, dann kam monatelang nichts mehr. Da hab ich es aufgegeben, ihr zu schreiben. Nein, ich bin ihr nicht böse, warum auch? Jeder lebt sein Leben, jede hat eigene Sorgen, alle müssen sehen, wie sie durchkommen. Und immer nur Briefe an eine hinter Gittern schreiben, ohne sich zu treffen, zu quatschen, mit Blickkontakt in Rede und Gegenrede etwas zu Ende zu diskutieren, miteinander zu lachen und etwas zu unternehmen, das ist einfach öde, ich kann es verstehen. Umso dankbarer bin ich für die Kontakte, die mir geblieben sind: Meine Brüder und Sandra, mein Papa, Nicole und Weichelts. Die beiden alten Leutchen sind wirklich treue Seelen!

Als ich wegen des Anwalts mit Helmut telefonierte, erzählte er mir, dass es unserem Vater gut geht. Er ist ja nun schon 84 Jahre alt, aber Helmut meinte: »Wirst sehen, er bleibt fit, bis du wieder draußen bist, und er weiß, dass du dein Leben meistern wirst!« Ich habe ihn schon eine Weile nicht gesehen, insofern hat mich das sehr beruhigt. Ich bin meinem Paps auch unendlich dankbar, dass er zu mir hält. Natürlich halten Eltern zu ihren Kindern, in guten wie in schlechten Tagen. Dennoch, eine Selbstverständlichkeit ist es nicht.