Samstagabend, 17. November 2012, abends

Heute war ich von 14 bis 17 Uhr zum ersten Mal allein draußen, Ausgang ohne Aufsicht nennt sich das. Man bekommt eine Art Urlaubsschein, um sich im Notfall ausweisen zu können, denn der Personalausweis liegt in der Effektenkammer. Immerhin hat man mir meine Privatklamotten ausgehändigt. Der Wintermantel passt sogar noch, die Hose ist etwas eng.

Da Sandra und Micha sich derzeit um meinen Papa kümmern, der mit Grippe im Bett liegt, war ich einverstanden, dass Holger mich abholt. Er wollte mich schon längst wieder besuchen, mir waren aber deine Besuche, meine Julia, wichtiger.

Ich war total aufgeregt. Holger stand pünktlich am Tor und nahm mich in den Arm. Wir stiegen in seinen Peugeot, und er fragte, wie ich diese drei Stunden verbringen möchte. Drei Stunden, die reichen nicht aus, um dich zu besuchen. Also: »Julia und meinen Papa anrufen, eine Hose kaufen, Kaffee trinken – in dieser Reihenfolge.«

Er gab mir sein Handy, ich telefonierte erst mit dir, rief dann Papa an. Er krächzte ziemlich, freute sich aber riesig, meine Stimme zu hören. Er war so überrascht, dass wir gar kein richtiges Gespräch führen konnten. Er beruhigte mich, es sei nur eine kleine Grippe, in der Woche käme die Nachbarin und bringe ihm Suppe, und gleich kämen ja auch die Kinder, womit er Sandra und meinen Bruder meinte.

»Im Dezember besuche ich dich!«, versprach ich, und ich spürte seine Freude.

»Und nun Hosen kaufen?«, Holger lachte mich an.

»Ist dir das lästig?«, fragte ich.

»Mit dir ist mir gar nichts lästig!«

Ich war ziemlich verunsichert. Wie konnte dieser Mann jahrelang auf mich warten, sich freuen über drei gemeinsame Stunden? Ist das normal?

Er fuhr ins Zentrum, parkte das Auto, und wir liefen durch die Fußgängerzone. In diesem Ort war ich noch nie gewesen, aber Holger kannte sich aus. Jeans wollte ich kaufen, normale dunkelblaue Jeans.

Die Läden hießen noch wie vor sechs Jahren – C&A, H&M, Gerry Weber, Marc O`Polo, Peek und Cloppenburg …

»Hier haben wir die meisten Chancen, was Passendes zu finden«, sagte Holger und zog mich in den Eingang. Ich war total unsicher. Ob man mir ansah, woher ich kam?

Holger schien Gedanken lesen zu können: »Du siehst gut aus!«, flüsterte er mir ins Ohr.

Und da er richtig vermutete, dass ich keine Ahnung hatte, welche Größe mir passen könnte, suchte er in den Regalen vier verschiedene dunkelblaue Jeans aus und schickte mich damit in die Umkleidekabine.

Dort musste ich mich erst mal hinsetzen. Diese Überfülle an Klamotten hatte mir den Atem verschlagen.

»Lass mal sehen!«, tönte Holger, der vor dem Vorhang stand.

»Gleich, bin noch nicht so weit!«

Die erste Hose ging nicht zu, in die zweite kam ich gar nicht rein, die Oberschenkel waren viel zu eng, die dritte war zu weit, bei der vierten saß der Hintern nicht richtig.

»Gib her, ich suche weiter!«, bot Holger an.

Hose Nummer sechs passte wie angegossen. Mir war ganz heiß vor Anstrengung.

Holger wollte bezahlen, aber das ließ ich nicht zu: »Du kannst mich zum Kaffee einladen, aber die Hose bezahle ich!«

Uns blieben noch eindreiviertel Stunden bis zu meinem Ausgangsende. In einem kleinen Café saßen wir am Fenster, tranken Kaffee und aßen Kuchen – er Pfirsich-Melba-Torte, ich Mohnkuchen. Und einer naschte vom Teller des anderen.

Ich wusste nicht, was ich erzählen sollte, war wie zugeschnürt von den neuen Eindrücken, dem Hin und Her auf der Straße, den vielen Menschen mit Tüten und Taschen, dem Lärm. Laut ist es zwar im Knast auch, aber anders laut, schriller. Früher flüsterten die Leute im Café und im Restaurant, jetzt reden sie an jedem Tisch so ungeniert, als säßen sie zu zehnt im Wohnzimmer und müssten gegen den Fernseher anschreien.

Holger erzählte von seinem Geschäft, dass es gut laufe, dass er sonntags mit einem Kumpel zum Fußball gehe und einmal in der Woche in eine Mucki-Bude. Er koche sich jetzt oft selbst etwas, und er freue sich darauf, mich mal mit einem Essen zu verwöhnen. Dabei nahm er meine Hand und sah mich an. Ich zog die Hand nicht weg. Fühlte mich irgendwie sicher. (HALT! Lass dich nicht wieder vereinnahmen!, zuckte es mir kurz durchs Hirn. Immer schön langsam!)

Pünktlich 17 Uhr setzte mich Holger vor dem Tor ab. Ich ließ zu, dass er mich küsste. Zum ersten Mal. Es fühlte sich gut an.

»Bleib tapfer! Und bis bald«, sagte er zum Abschied, dann klingelte ich am Tor.

Ja, Jule, meine große Tochter, ich weiß nicht, ob ich in ihn verliebt bin, was genau ich für ihn empfinde. Ich fühle mich ihm sehr verbunden. Wie weit das reicht, wird die Zukunft zeigen. Ich glaube, ich kann das erst einschätzen, wenn ich wieder ein freier Mensch bin. Denn hier drin bin ich einfach nur dankbar, dass er mir schreibt, mich besucht, nicht aufgibt.

In diesem Sinn werde ich ihm schreiben müssen, damit er nicht enttäuscht ist, wenn ich mich auch nach meiner Entlassung erst mal zurückhalte. Aber nicht mehr heute.