Montag, 16. Juni 2014

Das Leben ist eine Achterbahnfahrt. Das Tolle: In genau vier Wochen kann ich dieses Haus auf Nimmerwiedersehen verlassen.

Das Zweitschönste: Ich habe eine eigene Wohnung. Ich habe sie in der Zeitung gefunden, mich vorgestellt und sie auf Anhieb bekommen: 60 Quadratmeter ganz für mich allein, zwei Zimmer, Küche, Bad, in der Nähe eine Bushaltestelle und ein Supermarkt. Meine Brüder haben mir geholfen, die Wände zu streichen, mehr war nicht erforderlich. Da Papa jetzt in einem Seniorenheim in Sandras und Michaels Nähe lebt, konnte ich den halben Haushalt übernehmen. Ich muss kaum etwas Neues kaufen.

Ich habe lange mit Holger gesprochen, der, glaube ich, ein bisschen enttäuscht war, dass ich nicht zu ihm ziehe. Er hat eine große Dreizimmerwohnung, da sei doch Platz genug für uns beide, ich könnte ein Zimmer für mich haben. Irgendwann sah er ein, dass ich erst einmal Luft holen, alleine leben üben muss. Ich möchte den aufrechten Gang, den ich im Knast gelernt habe, in Freiheit ausprobieren. Natürlich habe ich Holger in all den Jahren schätzen und auch lieben gelernt, ich möchte ihn nicht mehr verlieren. Aber bitte, bitte, lass uns jetzt behutsam ein gemeinsames Leben beginnen!

Meine liebe Julia, mit dir und deinen Pflegeeltern bin ich übereingekommen, dass du bei ihnen bleibst, bis du auf eigenen Füßen stehst. Jetzt bist du 16 Jahre alt, vielleicht wirst du studieren und in eine andere Stadt gehen. Es wäre nicht gut, dich jetzt aus deinem gewohnten Umfeld zu reißen. Und mit dem Bus bin ich schnell bei euch.

Das Traurige: Frau Buchmann gibt die Änderungsschneiderei auf. Übers Wochenende war sie wieder bei ihrem Mann, sie haben beschlossen, sich für immer in Spanien niederzulassen. Es traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.

Sie hat mich gefragt, ob ich das Geschäft übernehmen möchte, ich könnte ihr den Kaufpreis in Raten zahlen. Es war ein gutes, ehrliches Gespräch in ihrem Hinterzimmer bei Tee – wie ein halbes Jahr zuvor mein Antrittsgespräch. Ich brauchte nicht zu überlegen, ich kann mich jetzt noch nicht in eine so große finanzielle Abhängigkeit begeben. Das hat sie zwar sehr bedauert, aber auch verstanden. Zum Abschied umarmten wir uns. Schade. So werde ich zu meiner Entlassung arbeitslos sein.