Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen, jetzt bin ich immer noch hellwach. Weiß nicht, wie ich morgen früh aus dem Bett kommen soll. Gestern hatte ich die letzte Sitzung bei Frau Müller-Schott. In all unseren Gesprächen hat sie mir immer wieder vermittelt, dass ich viel in meinem Leben geschafft habe. Und dass ich etliche Male versucht habe, dieser Ehe zu entkommen. Damals habe mir die Kraft gefehlt, die Versuche zu einem guten Ende zu führen. Sie fragte mich, ob ich mich jetzt stark genug fühle, mein Leben nach meinem Willen und meinen Wünschen zu leben. Ich musste nicht nachdenken. Jetzt will ich! Und ich will auch endlich den Tatsachen ins Auge sehen. Ich habe so viele Jahre diese schreckliche Tatnacht verdrängt und meine Antworten auf ihre diesbezüglichen Fragen verschluckt, dass mir plötzlich war, als würde ich platzen. Ich habe ihr alles erzählt. Am Ende nahm Frau Müller-Schott meine Hände in ihre beiden und sah mich fest an: »So, Frau Wagner, jetzt haben Sie endlich das Fass geöffnet, nun können Sie nach vorn sehen! Sie werden Ihren Weg aufrecht gehen, dessen bin ich sicher.«
Auch du, meine kleine große Tochter, hast ein Recht darauf zu erfahren, was in jener Nacht geschah und was ihr vorausging. Und darum erzähle ich es hier noch einmal:
In jenem Sommer war ich ein paar Mal bei einem Psychologen, um mir Rat zu holen. Meine damalige Chefin hatte ihn mir vermittelt. Ich hatte ihr auf ihre besorgten Fragen nur wenig von meiner Ehe erzählt, aber sie hat wohl gesehen, wie müde und kaputt ich war, psychisch und physisch ganz unten. Sie hat erlaubt, dass ich die Psychologen-Termine während der Arbeitszeit verabrede, damit Jochen nichts davon mitkriegte. Ich durfte an solchen Tagen etwas eher Feierabend machen. So auch an diesem Tag im Juni. Nach dem Gespräch mit dem Psychologen fühlte ich mich groß und stark, ich verließ ihn mit dem Gedanken, ich packe das jetzt, ich ziehe die Scheidung durch.
Es war ein sonniger, warmer Abend, und auf dem Weg zu meinem Auto traf ich Piet, den Holländer, den ich seit jenem Osterfeuer nie mehr gesehen hatte. Er erkannte mich sofort wieder und lud mich spontan zu einem Eis ein. Du, Julchen, warst bei Sandra und Micha, nichts zog mich also heim. Ich freute mich, dass Piet über meinen schroffen Anruf damals nicht sauer war, und so gingen wir in das Café am Stadtpark. Ich war sofort wieder hin- und hergerissen von seiner Stimme, dem süßen Akzent und diesem meerwasserblauen Blick. Wir redeten über dies und das, das heißt, meist erzählte er von seinen Touren und ich hörte zu, bis er vorschlug, im Haus seiner Schwester eine Kleinigkeit zu essen und Wein zu trinken, der Garten sei wunderschön, Annelie und ihr Mann seien verreist. Ich weiß heute nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe, aber ich sagte zu. Er legte den Arm um mich, als wir zu meinem Auto gingen, und mir war egal, ob mich jemand sah oder nicht. Ich fuhr, Piet saß neben mir und erklärte den Weg, immer noch sein Arm um meine Schultern. Irgendwann glaubte ich, im Rückspiegel Jochens Auto zu sehen, habe aber nicht weiter darauf geachtet. Wir saßen dann im Garten bei Ciabatta, Tomaten mit Mozarella und Basilikum und einer Flasche Weißwein. Ich blieb bei einem Glas, musste ja noch heimfahren. Irgendwann fing Piet an, mich zu küssen, aber als er mit mir ins Haus wollte, sagte ich nein. Seine Küsse, sein Streicheln, seine Schmeicheleien gefielen mir zwar, aber zu mehr war ich nicht bereit. Irgendwann brach ich auf, wir tauschten noch mal die Handynummern und verabredeten uns für den übernächsten Abend. Vermutlich hätte ich dann seinen Bemühungen nicht mehr widerstehen können. Ich war total verknallt in Piet. Zu Hause empfing mich der tobende Jochen. Er brüllte, dass die Wände wackelten: »Ich hab gesehen, wie du mit dem Kerl rumgemacht hast! Du bleibst jetzt ein halbes Jahr im Haus, danach kannst du machen, was du willst!«
Heute kommt mir das vor wie ein schlechter Scherz. Aber damals …
Dabei fuchtelte er mit einem Messer vor meiner Nase rum, warf eine Flasche nach mir und führte sich auf wie das wütende Rumpelstilzchen. Plötzlich stürzte er in den Schuppen, kam mit der Kettensäge wieder, ließ den Motor aufheulen und brüllte mich an: »Du rufst jetzt sofort diesen Kerl an und sagst, dass du ihn nie wiedersehen willst, sonst mache ich Frikassee aus dem!«
Unter dem Röhren der Kettensäge rief ich Piet an, sagte, ich könne ihn nicht wiedersehen, er solle mich vergessen. Piet fragte noch, was das für ein Geräusch im Hintergrund sei, ich antwortete ausweichend, aber er begriff wohl, dass etwas für mich Ungutes im Gange war.
Als ich heulend das Telefonat beendet hatte, riss mir Jochen das Handy aus der Hand und schmiss es in die Ecke. Und noch bevor ich einen Ton des Entsetzens herausbringen konnte, köpfte die Säge mit dumpfem Jaulen meine Calla, die gerade eine wunderschöne rote Blüte hervorgebracht hatte, er fegte den Topf mit dem Calla-Stumpf vom Blumenständer, zersägte das hohe, zierliche Möbel, das splitternd zu Boden fiel. Auf der Erde ein Haufen Blätter, Erde, Holz, und als ich endlich schreien konnte, brüllte er zurück: »Halts Maul, sonst bist du als Nächstes dran!« Dabei fuchtelte er mit der laufenden Säge vor mir rum, und als ich abhauen wollte, packte er mich am Oberarm. Dann der übliche Befehl: »Los, wir baden jetzt.«
Denke ich heute zurück, sehe ich mich wie in einem Film, dem jemand den Ton abgedreht hat.
Der Mann zerrt sie aus dem Bad ins Wohnzimmer, er steht vor dem Fach mit den Porno-Videos in der Schrankwand, die Frau starrt auf seinen Rücken, er schiebt ein Video in den Apparat, zieht sie zu sich auf die Couch, und während er auf den Bildschirm stiert, raucht er Marihuana und trinkt Bier. Er schwingt sich auf sie, rammt in ihren Körper, der mechanisch auf seine Bewegungen reagiert. Mit jedem Stoß keucht er: »Wenn-ich-dich-noch-mal-mit-einem-Kerl-erwische-bringe-ich-dich-um!« Sie hat die Augen geschlossen, das Gesicht von ihm abgewandt. Als er fertig ist, trinkt er noch ein Bier, kippt um und schläft ein.
Der Porno ist längst zu Ende, die Frau schaltet den Fernseher aus. Sie geht ins Bad, wäscht sich, zieht sich an, kehrt zurück, setzt sich in den Sessel, dem schlafenden Kerl gegenüber, sie raucht, heult, grübelt. Wieder hat sie versagt, obwohl sie nur Stunden zuvor den Psychologen mit einem neuen, starken Gefühl verlassen hatte. Wenn sie jetzt nicht handelt, würde es ewig so weitergehen. Nein, schlimmer als bisher. Es ist immer schlimmer geworden, nachdem sie auch nur leise aufgemuckt hatte. An Abhauen dachte sie schon lange nicht mehr. Zu oft hatte er gedroht, er würde sie überall auf der Welt finden und ihr niemals das Kind überlassen. Plötzlich durchzuckt sie ein Gedanke: Was, wenn er in seiner unendlichen Sex-Gier das Kind, wenn es größer ist … Nein, das mochte sie nicht mal zu Ende denken. Ihr Blick fällt auf das Chaos am Boden, die zerstörte Pflanze, die sie seit Jahren gehegt und gepflegt hatte. Auf die Kettensäge und den kaputten Blumenständer, der schon im Wohnzimmer ihrer Großeltern gestanden hatte. Sie schluchzt. Sieht das Messer, mit dem er rumgefuchtelt hatte. Erstechen? Kann sie nicht. Erwürgen? Aber was, wenn er aufwacht? Sie steckt sich eine Zigarette an. Steht auf, geht durchs Zimmer wie ferngesteuert. Nebenan steht die Tür zu dem Verschlag unter der Treppe auf, in dem allerhand Kram lagert. Sie sieht einen Vorschlaghammer. Nimmt ihn, geht zurück zur Couch. Der Mann liegt auf der Seite. Sie schlägt zu. Mit der stumpfen Seite des Hammerkopfes direkt auf seinen Schädel. Er zuckt. Nein, er soll nicht leiden, durchfährt es sie. Sie schlägt noch einmal zu. Erst jetzt spritzt Blut, läuft aus seinem Kopf, versickert in der Couch. Alles ist still. Tiefe Nacht.
Sie raucht noch eine halbe Zigarette, dann geht sie zum Telefon, wählt 110. Sagt: »Ich habe meinen Mann umgebracht. Können Sie es bitte so einrichten, ohne Blaulicht zu kommen? Ich möchte nicht, dass das ganze Viertel geweckt wird.«
Dann tritt sie vor die Haustür. Irgendwas lässt sie glauben, bald wieder zu Hause sein zu können. In ihrem Kopf kreist ein Gedanke: Ich bin doch keine Mörderin!
Ich muss raus, frische Luft schnappen. Es ist Zeit für den Hofgang.
Heute blicke ich fassungslos zurück. Diese Frau soll ich gewesen sein? Ich hätte dich, Julia, mein Liebstes, nehmen und gehen sollen, hätte überall Hilfe gefunden! Wie naiv war ich denn? Und wie duldungsstarr?
Und dennoch: War das Urteil gerecht?
Als ich vor einem Jahr das erste Mal bei Sandra und Michael im Haus war, wollte mir Sandra Fotos von den Kindern zeigen, und wir gingen in Michas Arbeitszimmer. Dort fiel mein Blick auf ein Regal, in dem drei dicke Ordner standen mit der Aufschrift »Andrea«. Ich sah Sandra fragend an. Und da erst erzählte sie mir, wie sehr sie sich nach der Gerichtsverhandlung bemüht hatten, ein milderes Urteil für mich zu erwirken. Nicht nur um Revision haben sie sich – vergeblich – bemüht, auch im Internet, in Fachzeitschriften und Archiven nach vergleichbaren Fällen gesucht, an Zeitungen, Anwälte und sogar den Petitionsausschuss des Landtages geschrieben.
Schon über das Mordmerkmal Heimtücke haben sie sich empört: Die Begründung dieses Paragrafen 211 stammt aus der Nazizeit, als der berüchtigte Strafrichter Roland Freisler Tausende Todesurteile sprach. Der Paragraf besagt, ein Täter handelt heimtückisch, wenn er die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers ausnutzt. Wie aber soll eine Frau, die 15 Zentimeter kleiner und 30 Kilogramm leichter ist als ihr Peiniger, sich anders als heimtückisch wehren, wenn sie denn schon tätlich wird?
»Mord hätte eigentlich lebenslang bedeutet, das weißt du«, sagte Micha, der dazugekommen war. »Vielleicht erinnerst du dich an die Urteilsbegründung: Weil du sofort ein Geständnis abgelegt hast und nicht vorbestraft warst und weil der Gutachter bei dir eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht ausschließen konnte …« Micha hatte aus einem Ordner das Urteil genommen und las vor: »… hat die Kammer den Strafrahmen gemäß §§ 49 Abs. 1 Nr. 1, 21 StGB von drei bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe zugrunde gelegt.«
Sandra fiel ihm ins Wort: »Aber auch 12 Jahre sind viel zu viel! Wir hatten mit fünf oder sechs Jahren gerechnet.«
Sie hatte sich richtig in Rage geredet.
»Es ist bald vorbei«, sagte ich. »Dann fange ich neu an.«
»Genau«, sagte mein Bruder und umarmte uns. »Kommt, ihr beiden, lasst uns wieder zu den anderen gehen.«