GESCHICHTE DER ZIVILEN ATOMUNFÄLLE
Goiânia, Brasilien, September 1987
Ein solches Blau hatte er noch nie gesehen. Oder doch? Es schien von innen heraus zu leuchten, intensiv, ja, fluoreszierend fast. Wie bei der großen Rosette in der Kuppel der Santa Maria della Cruz hoch über dem Altar, wenn das Sonnenlicht sich während der Frühmesse den Weg hinein in die Kirche bahnte.
Eigentlich war José Santes kein besonders gläubiger Mensch. Das heißt, er glaubte schon, dass es da jemanden gab, der die Geschicke der Menschen lenkte. Eine Art übernatürliches Wesen, von dem das Gefüge, in dem er, José, lebte, zusammengehalten wurde, in guten wie in schlechten Zeiten. Doch für diesen Glauben brauchte er keine Kirche, und wenn es nach ihm ginge, würde er am Sonntag in der Frühe sicher nicht ausgerechnet in der Messe hocken. Die wunderbar kurvigen Hüften seiner Frau schoben sich vor sein inneres Auge, das schwarze Fließ zwischen den Schenkeln, schwärzer noch als ihre Augen …
Doch in diesem Punkt ging es nun mal nicht nach ihm. Für Theresa war der Gang zur Kirche etwas so Selbstverständliches, dass selbst die eitrigen Mandeln der kleinen Rosanna kein Hinderungsgrund gewesen waren, zumindest ihn, José, um sechs Uhr morgens zum Gebet zu schicken, wenn schon Theresa selbst nicht gehen konnte. Einfach undenkbar, dass man die Messe am Sonntag nicht besuchte. So war es immer schon gewesen und damit basta.
Also wartete er Sonntag für Sonntag auf den Moment, in dem der erste Sonnenstrahl durch die Rosette brach. Manchmal passierte das gerade in dem Augenblick, in dem die Orgel einsetzte, dröhnend und überwältigend. Wuchtig drangen die Töne in ihn ein und wühlten sich tief in die Eingeweide, ganz anders als die blechernen Klänge, die bei ihnen zu Hause aus dem Radio drangen, das Theresa den ganzen Tag laufen ließ, um die zurzeit aktuellen Schlager mit ihrer selbst etwas metallisch klingenden Altstimme mehr schlecht als recht zu begleiten.
Wenn die Orgel einsetzte und die Sonne durch die Rosette schillerte und das Rot und das Blau der bleigefassten Scheiben in einer Intensität erstrahlen ließ, die diese Farben sonst nicht entfalten konnten, dann war das überwältigend schön, fand José. Überirdisch. Ein eindeutiges Indiz für die Existenz dieses höheren Wesens. Es war ein Fingerzeig Gottes.
Und nun leuchtete er direkt vor ihm, dieser Fingerzeig Gottes. Magisches Blau von einer Kraft, die von innen her zu kommen schien, ganz ohne Rosette, ohne Kirche, Sonne und Orgel. Ehrfürchtig blickte José in das metallene Gefäß vor sich auf dem Werktisch. Es war eine Art Sand, ein leuchtend blauer, grobkörniger Sand. José nahm eine Handvoll und ließ sie zurück in den Behälter rieseln. Nein, dachte er. Kein Sand. Die Partikel klebten, hafteten an seiner Haut wie feucht gewordene Salzkristalle. Er klopfte seine Hände an der Hose ab.
Kristall. Der Gedanke gefiel ihm. Ich werde Fernandez fragen, ob er Theresa ein Herz daraus machen kann, beschloss José. Ein feines Herz aus Glas, gefüllt mit diesen wunderbar leuchtenden Kristallpartikeln. Ein gutes Geschenk für einen Hochzeitstag.
Er selbst könnte versuchen, ein leuchtendes Kreuz zu schmieden. Wenn er beim Schmelzvorgang einen Teil der Partikel in das flüssige Gemisch gab, würde sich die Leuchtkraft vielleicht auf das Metall übertragen. Er würde beides tun, beschloss er. Fernandez würde er mit dem Herz beauftragen, er selbst würde sich an dem Kreuz versuchen.
Er füllte zwei leere Einmachgläser mit dem Kristall und stellte sie in der Werkstatt ins Regal. Eines für Fernandez und eines für sich selbst. Dann verschloss er den Behälter mit dem restlichen Pulver, so gut es eben ging. Vielleicht hatte ja einer der Jungs heute Abend noch eine Idee, was man sonst noch damit anfangen könnte. Den Zylinder, den würde er auf jeden Fall einschmelzen. Der war bares Geld wert.
»Ich will es gern ausprobieren«, sagte Fernandez. Prüfend hob er das Einmachglas mit den blauen Partikeln gegen das Licht der untergehenden Sonne. »Ich weiß zwar nicht, was das für ein Pulver ist, aber es sieht schön aus. Woher hast du es?«
»Das war in einem Zylinder, den mir zwei fahrende Schrotthändler angeboten haben. Ich wollte ihn schon einschmelzen. Aber dann habe ich gemerkt, dass da was drin war.« José zupfte Tabak aus der Packung, verteilte ihn auf einem Filterpapier und drehte sich mit flinken Fingern eine Zigarette. »Also haben wir ihn aufgebrochen, Pépe und ich.« Er befeuchtete die gummierte Seite des Papiers mit der Zunge, verklebte das Tabakröllchen und zündete es an. »War ein ganz schönes Stück Arbeit. Aber es hat sich ja gelohnt. Schön, nicht wahr?« Er nahm noch einen tiefen Zug.
»Ja. Wirklich schön«, bestätigte Fernandez. »Ich werde mich gleich an die Arbeit machen.«
José nickte zufrieden. Das würde er auch tun. Bald jedenfalls. Morgen. Pfeifend verließ er die Werkstatt und ging die Gasse hinunter zu seiner Frau, die sicher bereits mit dem Essen auf ihn wartete.
Vor der Tür des kleinen Hauses, das er mit seiner Familie bewohnte, sah er an sich hinunter. Auf dem verwaschenen Grau seiner weiten Baumwollhose leuchteten bläulich die Farbpartikel. Er versuchte, sie abzuklopfen, gab es dann aber auf. Das Zeug war erstaunlich hartnäckig.
»Kommst du?«, rief Theresa, die ihn bereits gehört hatte, aus der Küche. »Essen ist fertig.«
»Schneller Muli, hopp, hopp, hopp«, sang José und ließ seine Tochter auf seinen Knien hüpfen. »Denn wir reiten jetzt Galopp. Übern Bach mit einem Satz, doch mein Muli bockt und platsch. Hui …« Er ließ seine Tochter von seinen Knien rutschen, die Hände fest um die kleine, runde Taille gelegt, ließ sie hinab, den Kopf nach unten, sodass die langen schwarzbraunen Haare über den Boden fegten, und hob sie im nächsten Moment wieder schwungvoll zurück auf seine Knie.
Rosanna quiekte vor Freude und patschte ihre Händchen zusammen. Pummelige Kleinmädchenhände, wie bei einer Putte. »Nomma«, krähte sie vergnügt, und José gehorchte.
»Schneller Muli, hopp, hopp, hopp«, sang er bereitwillig. »Denn wir reiten jetzt Galopp … doch mein Muli bockt und platsch.« Erneut ließ er das Kind von seinen Knien gleiten.
»Sie sollte jetzt wirklich schlafen. Du machst sie ja wieder ganz wach.« In Theresas Stimme schwang leichter Tadel mit, aber sie lächelte, während sie sich die Hände an ihrer Schürze trocken rieb.
»Nomma«, gluckste Rosanna.
»Na gut, Prinzesschen. Noch ein letztes Mal.« José zwinkerte Theresa zu. »Und dann machst du Bubu, ja? Schneller Muli, hopp, hopp, hopp …«
Drei Köpfe waren über das Glas gebeugt, in dem es so verheißungsvoll leuchtete.
»Man könnte Schmuck für die Touristen daraus herstellen«, schlug Josés Nachbar Roger vor. »Das lässt sich bestimmt gut verkaufen. Vielleicht wirst du ja sogar reich damit?«
José verstand den Wink. »Eine Runde für alle auf meinen Deckel«, rief er zum Tresen hinüber. »Und eine Runde Tabak für alle.« Mit auffordernder Geste schob er sein Tabakpäckchen in die Mitte des Tisches und warf das Filterpapier daneben.
Sein Schwager tunkte einen Finger in das Pulver und malte ein Kreuz auf sein weißes T-Shirt. Blau leuchtete es auf seinem Bauch, der sich unter dem Stoff abzeichnete, prall wie ein Fußball. »Oder so T-Shirts für die ganzen Mädels in der Disco«, schlug er vor. »Das sähe bestimmt toll aus.« Bei dem Gedanken leckte er sich über die Lippen. »Wir könnten sie auf dem Markt verkaufen.« Dann griff er nach dem Tabak und drehte sich eine Zigarette.
»Was heißt denn hier wir?« José wedelte ablehnend mit den Händen. »Das Zeug hab schließlich ich gekauft. Wo ist eigentlich Pépe?« Suchend sah er sich in der Bar um. Doch von seinem Gehilfen war weit und breit nichts zu sehen. »Komisch, der ist doch sonst immer der Erste am Tresen.«
»Hat sich vielleicht mit deinem kostbaren Staub aus dem Staub gemacht«, witzelte sein Schwager.
Dröhnendes Gelächter.
»Der war gut.« José hob anerkennend sein Glas in die Höhe. »Salute.« Kurz darauf bestellte er die nächste Runde.
Als er zwei Stunden später nach Hause schwankte, fühlte er sich elend. Ihm war übel. Verdammt übel. Und schwindelig war ihm auch. Die Knie schienen plötzlich nachzugeben. Beinahe wäre er lang hingeschlagen, konnte sich im letzten Moment aber gerade noch fangen. »Komisch. Das letzte Glas muss wohl schlecht gewesen sein«, murmelte er. Dass er das Einmachglas mit der kostbaren Leuchtmaterie in der Bar hatte stehen lassen, fiel ihm nicht auf.
In den frühen Morgenstunden trieb ihn ein Durchfall aufs Plumpsklo.
* * *
Theresa Santes wunderte sich. Erst war der Hund mit blutigem Schaum vor dem Maul verendet. Dann erkrankte das Vieh ihres Bruders und starb. José mochte seit Tagen nicht mehr richtig essen und hatte starke Durchfälle, ebenso Rosanna, und ihr selbst war auch nicht gerade wohl. Von ihrem Bruder hörte sie, er sei ebenfalls krank.
Und nun hatte man Josés Gehilfen Pépe tot in seiner Hütte aufgefunden. Anscheinend hatte er aus Mund und Nase geblutet, bevor er starb. Hinzu kamen seltsame Verbrennungen an den Händen.
Theresa dachte an die letzten Tage zurück. Hatten sie etwas gegessen, das diese Beschwerden hätte hervorrufen können? Pépe aß schließlich öfter bei ihnen, und der Hund bekam die Reste des Essens unter das Futter gemischt. Aber was hatte das mit dem Vieh ihres Bruders zu tun? Eine Epidemie vielleicht? Ein unbekanntes Virus? Eine Strafe Gottes? Sie bekreuzigte sich. Aber, heilige Muttergottes, was hatten sie getan, dass sie so bestraft wurden? Sie betete doch jeden Morgen ihren Rosenkranz, und ihrer alten Nachbarin half sie auch immer. Hatte José etwas ausgefressen?
Plötzlich musste sie an das blaue Pulver denken. Hatte das Ganze nicht an dem Tag begonnen, an dem José überall dieses leuchtende Salzkristall verteilt hatte?
Sie ging hinüber in seine Werkstatt. Dort im Regal, da fand sie es schließlich. Sie zögerte. José hatte große Hoffnungen darauf gesetzt, das wusste sie von Fernandez. Er wird bestimmt sauer, wenn ich es wegbringe. Aber Fernandez ging es ebenfalls schlecht.
Heilige Muttergottes, dachte Theresa erneut. Das muss ein Ende haben. Wenn dieses Pulver des Teufels ist, dann muss es fort. Und wenn nicht, dann bringe ich es einfach wieder zurück. José wird es gar nicht bemerken.
Sie nahm eine Plastiktüte, umwickelte den Zylinder mit alten Lappen und ließ ihn vorsichtig in die Tüte hinab, damit er nur ja nichts von der blauen Substanz verlieren konnte. Dann ging sie zur Hauptstraße und wartete auf den Bus, der sie in die Innenstadt brachte.
Eine Dreiviertelstunde später saß sie in der Aufnahme des Hospital Säo Francisco de Assis und wartete darauf, dass sie endlich aufgerufen wurde. Der leicht metallische Geschmack im Mund verriet ihr, dass sie blutete.
Dr. Paolo Alcatar betrachtete nachdenklich den seltsamen Behälter vor sich auf dem Tisch, in dem es immer noch bläulich leuchtete. Er wusste nicht, was es war. Dennoch war ihm unbehaglich zumute.
»Ich werde das hier«, er wies auf den Zylinder, »erst mal zur Analyse bringen lassen. Bis es abgeholt wird, stelle ich es nach draußen.« Dabei machte er ein Gesicht, als wäre dieses Es eine giftige Schlange.
Theresa Santes beobachtete, wie er sich erst dünne Gummihandschuhe überstreifte, bevor er das Gefäß mit spitzen Fingern wieder zurück in die Plastiktüte stellte und es vor der Verandatür auf eine Bank setzte.
Dr. Alcantar streifte die Handschuhe ab und warf sie in einen geschlossenen Abfallbehälter. Dann wandte er sich wieder Theresa zu. »Es war vollkommen richtig, dass Sie damit zu mir gekommen sind«, sagte er freundlich. »Und nun erzählen Sie mir bitte alles der Reihe nach.«
* * *
»Und dann hat sie den Behälter mit dem Bus quer durch die Stadt gebracht?«
»Ja, das hat sie«, bestätigte Dr. Alcantar.
»Und vorher hat ihr Mann das Material in der ganzen Nachbarschaft herumgereicht?«, fragte der Experte von der nationalen Atomenergiebehörde, der NUCLEBRAS, ungläubig.
Dr. Alcantar räusperte sich. »Es klang so«, sagte er schließlich steif.
»Dann Gnade uns Gott!« Der Experte griff zum Telefon.
Da kann Gott auch nicht mehr helfen, dachte Dr. Alcantar bitter.
* * *
José Santes fühlte sich immer noch krank. In seinem Darm rumorte es mächtig, und er hatte wieder angefangen, aus der Nase zu bluten. Neben ihm dämmerte Rosanna in ihrem Kinderbettchen vor sich hin. José stemmte sich vorsichtig von seinem Lager und schleppte sich mühsam hinüber. Er blinzelte, als er an Rosannas Bett trat. Arme Kleine. Das hatte sie nicht verdient. Zärtlich streichelte er ihr über das Haar. Sie wimmerte, und er blinzelte erneut. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel. Das kommt von dem hellen Licht, das ihn im Auge quälte, sagte er sich. Er versuchte, seine Tochter aus dem Bett zu heben. Es gelang ihm nicht. Zu schwach fühlte er sich. Und keiner konnte helfen. Wenn man nicht mit dem Kopf unter dem Arm irgendwo aufkreuzte, dachte José erbost, nahm einen einfach keiner ernst. In der Apotheke hatten sie bloß groß geguckt und ihm Kohletabletten gegeben. Wenn es in ein paar Tagen nicht besser sei, solle er zum Arzt gehen. Wo er schließlich auch gewesen war. Dr. Lopez, dieser alte Quacksalber. Natürlich hatte er ihm nicht geholfen. Aber was noch viel schlimmer war: Rosanna hatte er auch nicht helfen können. Na ja. Würde schon vorbeigehen. Besser, er legte sich wieder hin und wartete auf Theresa. Wo steckte die überhaupt?
Mühsam tastete er sich zum Bett zurück und kroch unter die Decke. Dann dämmerte er weg, bis ihn ein Geräusch hochschrecken ließ.
Ich glaub, ich spinne, fuhr es ihm durch den Kopf. Er blinzelte gegen das helle Licht. Aber die Gestalten vor ihm lösten sich nicht in Luft auf. Weiße Anzüge, wie Raumfahrer. Komische Masken vor dem Gesicht. Stimmen, die unwirklich und fern klangen. Krieg der Sterne, so was in der Art. Jetzt holten sie auch noch ihre Knarren aus den weißen Anzügen hervor. Mussten neumodische Waffen sein. Was da jetzt auf ihn gerichtet wurde, war eher eine Art langer, metallener Stab. Es klackte hektisch, und er schloss die Augen, gottergeben und voller Furcht. Denn dass ihn da jetzt jemand holen kam, das war unmissverständlich. Gott hatte seine Aliens zu ihm geschickt.
»Wir wollen Ihnen helfen, Herr Santes«, schnarrte es, blechern, wie die Stimmen aus Theresas Radio. »Ihnen und Ihrer Tochter. Keine Angst. Haben Sie keine Angst! Wir müssen Sie und Ihre Tochter mitnehmen.«
»Nicht Rosanna«, wollte er rufen. Aber es kam nur ein krächzender Laut aus ihm heraus.
»Sie sind stark kontaminiert. Alles hier ist stark kontaminiert«, schnarrte die Stimme weiter. »Wir nehmen Sie jetzt mit. Haben Sie bitte keine Angst …«
»Haha. Wirklich sehr komisch!« Das war das Letzte, das José dachte. Dann verlor er das Bewusstsein.
* * *
Theresa Santes starb knapp drei Stunden nach dem Tod ihrer Tochter Rosanna, anderthalb Wochen, nachdem sie den Behälter mit dem Cäsium-137 ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihr Freund und Nachbar, der Glasbläser Fernandez, überlebte Theresa Santes um zwanzig Stunden. Ebenso wie die Leiche von Rosanna war er so stark verstrahlt, dass er in einem Bleisarg mit Zementmantel begraben wurde. Theresas Bruder und dessen Frau sowie ein paar Gäste und der Wirt der Bar, in der sich José am Tage des Fundes aufgehalten hatte, erkrankten schwer, kamen aber mit dem Leben davon. José Santes erkrankte ebenfalls schwer, überlebte seine Familie jedoch um knappe fünf Jahre.