KAPITEL 4
Ruhrgebiet, Witten, 20. März
Nicht nur im Münsterland war die Jagd nach dem begehrten Rohstoff in vollem Gang. Auch an der Ruhr fanden bereits Aufsuchungsbohrungen nach Erdgas statt. Schon lange war festgesteckt worden, welcher Konzern an welcher Stelle die Berechtigung dazu hatte. Ganz Nordrhein-Westfalen war in bergrechtliche Claims aufgeteilt, und den Claims waren Namen zugeordnet. Namen wie European Oil and Gas, Netherland Gas Company, Rapid Erdgas und Erdöl, wohinter eigentlich Sussex Holding steckte.
An der Ruhr hatte die Sussex Holding GmbH den Zuschlag, nach Erdgas zu suchen. Das Nutzungsrecht an Grund und Boden, vielmehr an dem, was sich darin befand. Sie durfte noch nicht fördern, aber aufsuchen durfte sie, was bedeutete, dass sie Probebohrungen machen durfte. Und so wanderte sie mit den Aufsuchungsbohrungen langsam, aber sicher von Osten aus in Richtung Ruhrgebiet.
Es war vier Uhr fünfundvierzig in der Frühe, als die Sussex Holding begann, einen weiteren Quertrieb in dreitausend Metern Tiefe durch die Kohlenschichten im Muttental bei Witten zu treiben, ganz ohne den Einsatz von Chemikalien. Und während der Bohrer sich kontinuierlich durch die Schichten von Barrieregestein bis hin zum gashaltigen Muttergestein fräste, wurde unter Hochdruck Wasser in die Schichten gejagt.
Der Wasserdruck erzeugte Bruchzonen im Gestein, Risse, die sich durch die permanente Druckzufuhr fortsetzten. Durch den Prozess entstanden Schwingungen, die zu kleinen Beben führten. Der Bohrer trieb nach, ebenso wie das Wasser nachdrängte, und die Schwingungen dieses gewaltsamen Prozesses erzeugten weitere Gesteinsbrüche, die sich in Form von neuen Schwingungen fortpflanzten.
* * *
Essen, 20. März
Ruth van Haag wurde unsanft durch einen Tritt in die Magengrube geweckt.
»Schimanski, was zum Teufel …«, schimpfte sie los. Gleichzeitig wunderte sie sich. Denn der Kater war sonst ein stiller, friedlicher Bettgenosse, und seine leisen Schnorchellaute gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit, wenn sie nicht schlafen konnte, was leider öfter vorkam, als ihr lieb war. Schimanskis Nähe beruhigte sie, das gleichförmige Schnurren ebenso wie die Schwere auf ihrer Brust, wenn er mal wieder auf ihr eingeschlafen war, so wie heute. Nun aber dieser rüde Tritt, mit beiden Hinterhaxen gleichzeitig ausgeführt. Sie hörte, wie er davonraste, und fragte sich, was plötzlich in ihn gefahren war. Dann spürte sie es selbst.
Um sie herum vibrierte es. Ein Zittern kroch die Mauern hinauf, rollte über die alten Holzdielen und versetzte ihr Bett in Schwingungen. Das Haus wurde von einem leisen Grollen erfasst. Sie hörte die Gläser im Wohnzimmerschrank klirren, und irgendetwas polterte heftig.
Die Stille, die nun folgte, wirkte ebenso unwirklich wie das Poltern zuvor. Nur Ruths Herz pumpte laut in einem fast schmerzhaft schnellen Rhythmus, wie so oft, seit sie allein lebte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, und während sie auf dem Nachttisch nach ihrer Brille tastete und angestrengt in die Dunkelheit lauschte, fragte sie sich erneut, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, dieses kleine Zechenhäuschen zu mieten.
Ruth suchte nach dem Kippschalter der Lampe und knipste das Licht an. Sie schwang die Beine über die Bettkante, angelte nach ihren Filzpantoffeln und schlappte hinunter ins kleine Wohnzimmer. Etliche Bücher waren aus dem Regal gestürzt und lagen auf den Holzdielen durcheinander. Daher also das Gepolter.
Schimmi, dachte sie. Er wird sich dort oben hinter die Bücher geflüchtet haben. Aber der Kater war nicht da.
Sie stellte die Bücher zurück und machte sich auf die Suche nach dem Tier. »Schimmi«, flötete sie. »Wo steckst du denn?«
In diesem Moment grummelte es wieder. Stärker als das Mal davor. Näher. Bedrohlicher.
Ein Erdbeben? Hier? Ruth stand reglos und presste die Hand vor den Mund. Dann hörte sie ein irrsinniges Krachen. Etwas ging mit brachialer Gewalt zu Boden, Glas zerschellte. Ruth fing an zu zittern. Eine ganze Weile stand sie erstarrt, lauschte und wartete. Aber es kam nichts mehr.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und spähte vorsichtig in die Küche, wo sie die Quelle des infernalischen Lärms vermutete. »Das ist jetzt nicht wahr!«, murmelte sie bestürzt.
Erdbeben? Explosion? Hastig warf sie sich einen Mantel über und lief vor die Tür, wo sie unentschlossen stehen blieb.
Auf der Straße war es still. Ein paar Autos säumten wie üblich den Straßenrand und spiegelten sich im gelblichen Licht der Laternen. In den umliegenden Häusern waren vereinzelt Lichter zu sehen. Keiner in Panik, alles war ruhig.
Ruth ging ins Haus zurück und inspizierte jeden Raum. Auch hier war alles in Ordnung. Nur die Küche … Auf den Fliesen des Bodens herrschte Chaos. Zerborstenes Geschirr, Lebensmittel, Kochbücher, zerbrochenes Porzellan, zersplittertes Glas. Viel Glas. Darauf Holzkästen und Bretter. Die Wand über der Küchenzeile nackt. Alle Oberschränke waren runtergekommen, bis auf einen, der merkwürdig schief an der Wand hing, als wäre er nur noch an einer Seite fixiert. Am seidenen Faden, dachte Ruth, öffnete vorsichtig die Tür und begann, die Teller und Becher herauszuheben, die in die Ecke gerutscht waren. Schließlich war der Schrank leer, und sie hob ihn langsam an, bis sie ihn von der Schraube abgehebelt hatte und auf die Arbeitsplatte sinken ließ.
Geschafft. Sie atmete tief durch. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf einen Küchenstuhl sinken und starrte auf das Chaos zu ihren Füßen. Ich hätt gern einen Kaffee, dachte sie. Aber sie blieb einfach sitzen.
* * *
Wie üblich war Peter Mooren der Erste, der das Firmengelände betrat, denn er kam mit dem Bus und war zwanzig Minuten vor Dienstbeginn da. Er öffnete das Tor und betrat den Hof. Er wollte sich nach rechts wenden, um die gläserne Tür des Hauptgebäudes aufzuschließen. Aber irgendwas war anders. Irritiert sah er sich um.
Mit der Werkshalle dahinten auf dem Gelände, da stimmte was nicht. Ein wirrer Haufen lag dort, wo gestern noch Paletten gestapelt gewesen waren. Und Fässer.
Er ging über den Hof auf die Halle zu und entdeckte einen Krater im Boden unmittelbar neben der Seitenmauer, die selbst einen diagonal verlaufenden Riss aufwies.
Es war ein Loch mit länglichem Durchmesser, eher ein klaffender Spalt von ungefähr einem Meter Breite und einer Länge von bestimmt fünf Metern.
Tagebruch, dachte Peter Mooren. Er kannte sich aus. Schließlich kam er selbst vom Bergbau. Solche Erdrutsche waren durchaus typisch im Ruhrgebiet, wo der Boden unter den Städten zerlöchert war wie eine Wiese voller Maulwurfsgänge.
Und hier – das wusste er genau – war die Zeche Katharina gewesen, auf der er früher gearbeitet hatte. Der Förderturm hatte in etwa da gestanden, wo sich heute das kleine Bürogebäude seines Arbeitgebers befand. Der Tagebruch musste durch einen eingestürzten Seitenstollen verursacht worden sein.
Peter Mooren spähte in den Spalt hinunter. Nach hinten hin wurde er breiter. Schutt und Erde lagen darin, dazwischen Brocken von dem Asphalt, mit dem der Hof zubetoniert war. Und noch etwas. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Alarmiert hastete er zurück zur Pförtnerloge und rief seinen Chef an.
* * *
Ein Klopfen an der Küchentür zum Garten ließ Ruth erneut zusammenfahren.
»Hallo«, hörte sie es rufen.
Ihr war jetzt kalt, und trübes Morgenlicht bahnte sich den Weg durch das Küchenfenster. Sie musste eine ganze Weile hier gesessen haben.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
Ruth stand auf, schlang den Mantel um ihren Körper und öffnete die Tür.
Der Mann vor der Tür war groß und kräftig. Die dunkle Wollmütze hatte er so tief in die Stirn gezogen, wie es Jugendliche gerne tun. Sein Lächeln war freundlich, und die braunen Augen strahlten sanftmütig. Sie hatte ihn schon ein paarmal auf der Straße gesehen.
»Manni Neumann.« Er reichte ihr die Hand. »Ich bin Ihr Nachbar – also, vom Garten aus betrachtet …«
»Ruth van Haag. Ich bin noch ganz durcheinander … das war doch ein Erdbeben vorhin, oder?«
»Ja. Das kam eben schon durch die Nachrichten.« Er ließ seinen Blick durch die Küche wandern. »Hier hat’s aber ordentlich gescheppert!«
»Kann man so sagen. Bei Ihnen etwa nicht?«
»Nö. Ein paar Bücher sind aus dem Regal gepurzelt, mehr nicht.«
»Sie Glückspilz«, sagte Ruth etwas spitz. Sie starrte auf den Trümmerhaufen, der sich auf dem Boden türmte. Keiner da, der ihr die Küchenschränke wieder anbringen würde. Erich, dieser Mistkerl … Mit resigniertem Seufzer ließ Ruth sich auf den Küchenstuhl fallen.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Ruth schüttelte abwehrend den Kopf. »Geht schon«, sagte sie schroff.
»Ihr Kater ist bei mir in der Garage. Der ist eben an mir vorbei wie ’ne Rakete und hat sich da verkrochen. Ich möchte ihn jetzt nicht einsperren, müsste allerdings langsam mal los.«
Das brachte sie wieder auf die Beine. »Schimmi? Gott sei Dank. Warten Sie, ich zieh mir nur fix Schuhe an.«
Kurz darauf quetschte sie sich hinter ihrem Nachbarn durch eine Lücke in der Hecke, die die Grundstücke trennte. Sie folgte ihm durch einen weiteren lang gestreckten Garten bis zur Garage.
»Dahinten unter den Regalen muss er irgendwo stecken.« Ihr Nachbar machte eine vage Bewegung mit der Hand. »Falls er sich nicht schon wieder davongemacht hat.«
»Mulle, Mulle, Mulle«, flötete Ruth.
Leises Rascheln und Schaben.
Sie ging in die Hocke. »Schimmi. Katerle …«
Es raschelte erneut.
»He, Schimanski, bist doch ein großer Junge. Nun komm schon.«
Der Kater antwortete mit einem leisen Maunzen, kroch aus seinem Versteck und schubberte seinen Kopf an ihrer Hand.
»Na also.« Ruth hob das Tier auf ihren Arm und drehte sich zu ihrem Nachbarn um. »Danke.« Sie lächelte ihn an und vergrub ihr Gesicht im weichen Fell.
»Hören Sie. Schaffen Sie das mit der Küche denn so allein? Sie sind doch –«
»Irgendwie kriege ich das schon hin«, unterbrach sie ihn und fragte sich gleichzeitig, warum sie so abweisend war. Aber das schien ihn nicht weiter abzuschrecken.
»Klar, hab ich ja auch gar nicht bezweifelt.« Er grinste sie an und sah dabei wie ein kleiner Junge aus. »Aber zu zweit geht’s nun mal besser, oder?«
Misstrauisch musterte sie ihn. Er war ihr entschieden zu gut aussehend. Obwohl »gut aussehend« der falsche Begriff war, vor allem jetzt, wo er die Mütze abgenommen hatte. Sein Schädel war kahl, und unter seinem Hemd wölbten sich deutlich mehr als nur Muskeln. Dennoch hatte er etwas ungemein Gewinnendes. Vielleicht lag es an den braunen Augen, die dreinschauten, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Warum setzte man braune Augen bloß so gern mit Hundeaugen gleich? Und mit Treue?
»Ich bin gut beim Werkeln, wirklich. Ich helfe Ihnen gern.« Hartnäckig war er auch noch.
Ruth kapitulierte und senkte verlegen den Blick. »Klingt gut. Ich hab’s nämlich nicht so mit dem Handwerklichen.«
»Ja dann, abgemacht. Heute gegen siebzehn Uhr?«
»Einverstanden«, sagte Ruth leise. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«
»Ich bin übrigens der Manni … ich meine, wir sind doch schließlich Nachbarn …«
»Ruth«, sagte sie. Der Kater auf ihrem Arm begann zu zappeln. Sie presste ihn an sich. »Ich geh jetzt lieber, also, bevor Schimmi sich wieder losstrampelt, adele.«
»Schwäbisch oder bayrisch?«, fragte er neugierig.
»Oh. Ist das so deutlich zu hören? Ich nix Deutsch, ich Schwab, ellaweil, wenn i mi eschoffier.« Sie lachte, als sie Mannis verständnisloses Gesicht sah. »Keine Bange. Schwäbisch red ich eigentlich nur, wenn ich bei meinen Eltern im Dorf bin. Bis heut Abend dann.«
* * *
Münsterland, Nottuln, 20. März
Idgie schlief einen unruhigen Schlaf. Er war von Träumen durchzogen, in denen Affen eine zentrale Rolle spielten. Es waren Zeichentrickaffen à la Disney, die, einen Rock aus klappernden Kokosnüssen um die Taille geschlungen, mit wilden Gesängen um ein metallenes Gebilde tanzten, aus dem eine Fontäne ölig-schwarzer, stinkender Brühe schoss. Idgie wusste sofort, dass es ein Bohrturm war.
Ab und zu reckten die Affen ihre Köpfe in die Höhe und spitzten die Lippen zu einer runden Öffnung, was ihnen das Aussehen von Loriots sprechendem Hund gab. Nichts ist unmööööööglich …
Der Affe, der das Schlusslicht dieses absurden Reigens bildete, hatte beide Hände vor die Augen gelegt und linste schnatternd durch die langgliedrigen Finger. Dann raste er plötzlich los und schwang sich auf einen Laster, auf dem Rohre mit dem Durchmesser von mindestens einem Meter zu einer Pyramide gestapelt waren. Die anderen Affen folgten ihm und setzten sich rittlings hintereinander auf das oberste Rohr, und Idgie wunderte sich, dass das ging. Die Affen mussten wahre Riesen sein.
Alles ist mööööööglich, sangen sie und fingen an zu kläffen.
Dieses Kläffen zog Idgie endgültig aus ihrem Traum in die Realität zurück. Filou hatte die Pfoten auf die Bettkante gestemmt und bellte sie an. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Schon zehn. Der arme Kerl musste wahrscheinlich dringend raus.
»Ich komm ja schon«, brummte sie, schüttelte die Bilder von sich ab und schwang die Beine aus dem Bett.
Filou raste vor ihr die Treppen hinunter und auf die Eingangstür zu.
Als Idgie die Tür öffnete, schoss er nach draußen. Sie blieb in der offenen Tür stehen und sah ihm zu, wie er ans Ende des Gartens flitzte und sich an einem Busch erleichterte. Dann fiel ihr Blick auf die Holzbank rechts neben der Haustür, auf der eine Tupperdose stand. Sie lächelte. Das war bereits die dritte in dieser Woche. Darauf ein Zettel. Lass es dir schmecken. Gruß, Stella.
Kurze Zeit später saß Idgie mit einem Becher Kaffee und dem opulenten Stück Kuchen aus der Tupperdose am Netbook und rekapitulierte ihre Recherchen vom Vortag.
Erdöl- und Ergasförderung in Deutschland, dachte sie. Höchste Zeit, sich mit den Riesen selbst zu beschäftigen. Sie knöpfte sich einen Artikel aus der neutralen Internet-Informationsplattform Infomedia vor, den sie bislang nur überflogen hatte, und las ihn nun gründlich durch.
European Oil and Gas GmbH ist ein europäischer Mineralölkonzern, der im Jahr 2002 ins Leben gerufen wurde. Aufgegangen in dieser GmbH sind die Unternehmen Norwegean Oil sowie die DÖG, die Deutsche Öl- und Gas-Gesellschaft.
European Oil and Gas erzielt seit Jahren gute Gewinne, wobei der Umsatz des Unternehmens in Abhängigkeit vom Ölpreis schwankt. Neben der NEdZ (Neue Energie der Zukunft), die mit einem Anteil von fünfundvierzig Prozent der größte Anteilnehmer des Unternehmens ist, sind primär Fonds und institutionelle Investoren an dem Unternehmen beteiligt. Die E.O.A.G steht in globaler Konkurrenz zu Mineralölkonzernen wie dem britischen BP, der französischen Kette Total oder dem russischen Gazprom.
Beteiligt ist die E.O.A.G an den Gesellschaften European Oil and Gas Transport, European Chemical Trust, European Pipeline Building and Management sowie diversen Recycling- und Industrie-Reinigungsfirmen.
Idgie pfiff tonlos durch die Zähne, während sie weiterlas. Die European Oil and Gas war mächtig unter Beschuss geraten, weil seit über zehn Jahren aus einigen fehlgeschlagenen Bohrungen in der Ostsee ungehindert Methan ins Meer entwich. Und die Stadt Rijeka hatte eine Klage gegen das Unternehmen laufen. Es ging um undichte Rohrleitungen und Öltanks sowie fehlenden Grundwasserschutz. Dadurch war ein ganzes Wohngebiet über Jahre hinweg mit einem giftigen Gemisch aus Kerosin, Blei und Benzol verwüstet worden, dessen giftige Dämpfe zu erheblichen Gesundheitsbeschwerden bei der Bevölkerung geführt hatten.
Dem Unternehmen wurde außerdem nachgesagt, dass es mit hohem finanziellem Einsatz Skeptiker des Klimawandels gefördert und Medien eingekauft hätte. Genannt wurde die stattliche Summe von knapp dreißig Millionen Euro, die allein für solche Zwecke eingesetzt worden sei.
Ein nettes Früchtchen, diese Oil and Gas, dachte Idgie. Nicht zimperlich im Einsatz von Geldern, wenn es um das Durchsetzen eigener Interessen ging. Aber gewiss kein schwarzes Schaf der Branche, sondern durchaus stellvertretend für andere Unternehmen dieser Größenordnung.
* * *
Essen, 20. März
»War ja echt ein ordentlicher Rums heute früh. Bei meiner Nachbarin hat’s glatt die Küchenzeile von der Wand gehebelt!« Für einen kurzen Moment tauchte Ruth vor Mannis innerem Auge auf. War keine Schlechte, die Ruth, wirklich nicht. Eigentlich sogar ’ne richtig Hübsche mit ihren großen Augen hinter der runden Hornbrille. Aber glücklich kam die ihm nicht vor.
Sein Chef Meininger schien auf eine Antwort von ihm zu warten.
»Äh – Entschuldigung«, sagte Manni. »Was hast du gleich noch mal gefragt?«
»Ob so was öfter vorkommt in dieser Region, wollte ich wissen. Und was du vorschlägst, Manfred Neumann. Ich würde mich freuen, wenn du uns jetzt deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken würdest.«
Manni schabte sich verlegen am Kinn. »’tschuldigung. Bin jetzt voll angekommen. Also, Erdbebenexperte bin ich nicht gerade. War halt ein mächtiger Big Bang, der irgendwo aus Richtung Bochum kam, hab ich im Radio gehört. Es hat ganz schön gerappelt hier. Risse in einigen Häusern soll es gegeben haben, Menschen wurden glücklicherweise keine verletzt. So was ist mir bislang auf jeden Fall noch nicht untergekommen.«
Meininger seufzte. »Die Seismologen sagen, dass in Deutschland theoretisch durchaus mit noch stärkeren Erdbeben zu rechnen ist.«
»Mal bloß den Teufel nicht an die Wand«, sagte Manni. »Mir hat das heute Nacht völlig gereicht.«
»Und was bedeutet das für die Kanalisation?« An Meiningers Tonfall konnte man hören, dass er das selbst bereits genau wusste.
»Du wirst es uns gleich sagen.« Manni grinste Meininger an.
»Das Beben hatte sein Epizentrum im Muttental bei Witten. Es kam hier in Essen immerhin noch mit einer Stärke von vier Komma neun an. Nur mal so zum Vergleich: Das Beben, das die Katastrophe in Fukushima ausgelöst hat, hatte eine Stärke von über acht Magnitüden.«
»Und ab wann wird es richtig gefährlich?«, fragte Edda Martinez.
»Es gibt ein grobes Raster, die sogenannte JMA-Skala. Die wurde in Japan entwickelt. Ich will euch jetzt nicht mit einer exakten Aufzählung langweilen, aber«, Meininger sah in die Runde, »ab Stärke fünf kann schon eine ganze Menge kaputtgehen, ab Stärke sieben kann es zu dauerhaften topografischen Veränderungen kommen. Die Wasser- und Gasversorgung bricht schon bei starken Beben der Kategorie sechs zusammen.«
»Dann ist hier wohl nichts Ernsthaftes passiert«, sagte Manni. »War ja nur ’ne knappe Fünf, also nichts richtig Schlimmes.«
»Abwarten. Ich bin noch nicht fertig.« Meininger warf ihm einen bohrenden Blick zu. »In Neuseeland gab es im Jahr 2011 ein Erdbeben, das von der Stärke her mit sechs Komma drei auf der Richterskala deutlich geringer war als ein Beben im Jahr 2010 in der gleichen Region, das mit sieben Komma eins gemessen wurde. Dennoch« – Meininger ließ seinen Blick erneut über seine Mitarbeiter wandern –, »dennoch entstand bei dem zweiten, deutlich schwächeren Beben ein weitaus größerer Schaden. Etliche Gebäude wurden zerstört, Brände sind in Folge entstanden, und in den Trümmern starben viel mehr Menschen als bei dem stärkeren Beben.«
»Und wie wurde das erklärt?« Edda beugte sich gespannt nach vorne.
»Es gibt zwei weitere Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Die Bodenbeschleunigung, die bei einem Beben entsteht, hängt nicht allein von der Stärke des Bebens ab, sondern von der horizontalen und vertikalen Verformung des Bodens. Und die wiederum hängt von der Frequenz der Erdbebenwellen ab. Dabei nehmen die Wellen mit der Distanz zum Epizentrum ab.«
»Hm«, grunzte Manni. Bei der Bodenbeschleunigung hatte er den Faden verloren. »Und was genau heißt das nun, mal so für Nichtakademiker?«
»Die Tiefe, in der ein Erdbeben entsteht, spielt eine wesentliche Rolle. Das eigentlich schwächere Beben in Neuseeland fand in einer sehr viel geringeren Tiefe statt, nämlich nur wenige Kilometer unter der Erdoberfläche. Außerdem – und das ist bislang eine nicht bestätigte Annahme – gehen Experten davon aus, dass bei einer Häufung von Erdbeben in einer Region ein Kluft- und Bruchsystem unter der Erde entsteht, das späteren Beben eine weitreichende Fortpflanzung und Zerstörungskraft ermöglicht, auch wenn die Beben schwächer sind.«
Spalten und Risse unter der Erde, wie Straßen, übersetzte Manni stumm für sich. Auf diesen Straßen können schwächere Beben sich schneller und stärker fortbewegen. Das Bild gefiel ihm.
Meiningers Blick blieb an Manni hängen, während er weitersprach. »Wisst ihr, wie viele Beben es in den letzten zehn Jahren allein in Nordrhein-Westfalen gegeben hat?«
Stumm schüttelte Manni den Kopf.
»Über hundert. Und, grob gesprochen, ungefähr alle zehn Jahre eines mit über fünf Magnitüden. Das sind nicht wenige. Experten warnen davor, dieses Thema hier in Deutschland zu unterschätzen. Das, was Mitte 2012 in Norditalien bei Modena passiert ist, kann hier jederzeit auch passieren. Welche Auswirkungen also kann ein Beben dieser Stärke auf das Ruhrgebiet haben, speziell auf die Kanalisation?«
»Bergbau«, warf Manni in den Raum. Er hatte jetzt ein ungefähres Gefühl dafür, worauf Meininger hinauswollte. Im Ruhrgebiet gab es unter der Erde jede Menge solcher Straßen, über die sich Beben fortpflanzen konnten. »Das Ruhrgebiet ist zerlöchert wie ein Schweizer Käse, und die alten Stollen sind größtenteils nicht zugeschüttet worden. Wenn also ein Beben relativ dicht unter der Erdoberfläche stattfindet, schwingt es stärker, und die Hohlräume machen die Sache völlig unberechenbar, richtig?«
»So in etwa«, sagte Meininger. »Wir können uns also nicht auf der messbaren Magnitüdenstärke ausruhen. Leider. Aus Essen-Katernberg wurde vor einer Stunde zum Beispiel ein Tagebruch gemeldet. Er ist erst etliche Stunden nach dem Erdbeben entstanden. Welche Möglichkeiten haben wir, die Kanalisation zu überprüfen? Gibt es Streckenabschnitte, die besonders gefährdet sein könnten? Darum geht es mir.«
»Dann sollten wir die Protokolle von den Videoüberwachungen und Kanalbegehungen durchgehen und gucken, wo es Schwachstellen gegeben hat, die in die Mängelliste mit aufgenommen wurden«, sagte Manni. »Eventuell müssen ein paar Sanierungsarbeiten vorangetrieben werden, oder?«
Meininger nickte. »Und wir müssen vielleicht ein paar Begehungen vorziehen. Wenn es nötig ist, müssen wir auch am Wochenende ran. Ich gebe grünes Licht wegen der Überstunden. Von euch erwarte ich, dass ihr Gas gebt, alle. Um fünf will ich die Ergebnisse auf dem Tisch haben.«
* * *
Duisburg, 20. März
»Wissen Sie was, Hoelscher?«
Diese Frage verlangte nicht nach einer Antwort, das war Hoelscher klar. Also schüttelte er stumm den Kopf und wartete.
»Sie bringen das Ding schön wieder da an, wo Sie es hergeholt haben.«
Hoelscher starrte ihn an. »Ich soll da noch mal rein? Aber …«
»Die Sache ist mir zu heiß, um sie schleifen zu lassen.«
»Aber das ist doch nur ’ne harmlose Tussi«, protestierte Hoelscher schwach.
»Harmlos?« Da war es wieder, dieses Lächeln. Aber dieses Mal zog sich eine Augenbraue zusätzlich in die Höhe, was dem Lächeln etwas Gemeines gab. »Unterschätzen Sie die Frauen mal nicht, mein lieber Hoelscher.«
Oha. Wenn der Boss mit »mein lieber« anfing, dann war Gefahr im Verzug. Hoelscher blickte auf seine Hände herunter, während er überlegte.
»Und was soll ich den Kollegen sagen? Die wundern sich doch eh schon, warum ich dauernd nur unterwegs bin.« Das war noch untertrieben. Er wurde schon »Big Boss’ Darling« genannt. Peinlich war das. Das würde er dem Chef aber besser nicht unter die Nase reiben.
Der Boss überlegte einen Moment.
»Sie melden sich krank«, sagte er schließlich. »So lange, bis ich die Sache abblase. Ich regele das mit dem Junior. Und zweitausend extra.«
Hoelscher schluckte und räusperte den Frosch weg, der plötzlich in seiner Kehle saß. »Okay«, sagte er heiser. »Und eine Scheinwerferleiste für den Ranger.«
* * *
Essen, 20. März
Akademische Viertelstunde, dachte Ruth zunächst und musste lachen, weil Manni ebenso wenig Akademisches an sich hatte wie das Sauerland alpinen Charakter. Aber eigentlich, und das überraschte sie selbst, gefiel ihr genau das gut: dieses Nicht-Akademische, das sie bei Manni intuitiv mit Menschlichkeit in Verbindung brachte, auch wenn sie wusste, dass diese Assoziation Quatsch war.
Als die akademische Viertelstunde mit dreißig Minuten deutlich überschritten war, wurde Ruth unruhig, und nach einem weiteren akademischen Viertel gestand sie sich enttäuscht ein, dass ihr Nachbar sie wohl versetzt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen begann sie, die Scherben auf ihrem Küchenfußboden zusammenzukehren und herauszuklauben, was noch zu retten war. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, dachte sie bitter. Oder war es umgekehrt gewesen?
Irgendwann aber klingelte es doch noch. Anderthalb Stunden später.
»Tut mir leid«, entschuldigte Manni sich. »Wir hatten heute wegen dem Erdbeben im Job eine ganze Menge zu tun, und ich hatte keine Telefonnummer, um Bescheid sagen zu können.«
»Macht nichts«, sagte Ruth hastig. »Ich habe schon mit dem Aufräumen angefangen. Was machen Sie denn beruflich?«, fragte sie, um die Freude zu überspielen.
»Ich bin bei den kleinen orangefarbenen Helferlein, die im Untergrund dafür sorgen, dass hier oben alles hübsch sauber bleibt.« Manni grinste. »Stadtwerke«, schob er nach, als er Ruths verständnislosen Blick bemerkte. »Bereich Wasser, Gas und Abwasser. Ich bin bei den Kanalratten, mittlerweile aber als Einsatzleiter, also nicht mehr dauernd bis zu den Knien im Dreck. Aber wir waren doch heute früh schon beim Du, oder?« Er zwinkerte sie freundlich an.
»Ach – stimmt ja.« Ruth lächelte schüchtern zurück. »Komm doch rein.«
Manni folgte ihr durch den engen Hausflur ins kleine Wohnzimmer. Es war von fröhlichen Farben dominiert, viel Gelb und Orange in unterschiedlichen Tönen.
Der Kater sprang vom Sessel und stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz auf den Besucher zu. Dort, wo er gelegen hatte, hinterließ er einen Kreis von dunklen Haaren.
»Schimanski«, stellte Ruth vor. »Ihr hattet ja schon das Vergnügen.«
»Ganz schön gut im Futter, der Kerl.«
»Quatsch. Das ist …«
»… alles nur Fell«, fiel er ihr ins Wort und grinste sie an. »Schon klar, ist es immer.«
Auch Ruth schmunzelte.
Er sah dem Kater hinterher, der durch die Katzenklappe in den Garten hinaus verschwand.
»Du solltest mal ab und zu den Rasen mähen«, stellte Manni fest, ganz ohne Tadel in der Stimme. »Und Bäume und Büsche könnten jetzt auch gut einen Rückschnitt vertragen.«
»Bei dem ewigen Regen?«, redete Ruth sich raus. Aber insgeheim wusste sie, dass das nicht der Grund für den Zustand ihres Gartens war. Sie hatte einfach nicht die Energie gehabt, am Wochenende den alten Rasenmäher durch die Gegend zu schieben, Sträucher zurückzuschneiden oder Unkraut zu jäten. Ebenso, wie sie die kleinen Zimmer in dem Zechenhäuschen eher schlecht als recht renoviert hatte. Die Textiltapeten hatte sie einfach überstrichen, und wenn man genau hinsah, schimmerten noch Blumenstrukturen, Streifen und oben in dem kleinen Kinderzimmer sogar Teddybären unter dem Anstrich hindurch. Plötzlich war es ihr peinlich, und am liebsten hätte sie ihn wieder zur Haustür hinausgeschoben.
Manni schien von ihrem Stimmungswandel nichts mitbekommen zu haben. »Dann wollen wir uns das Desaster mal ansehen«, sagte er und verschwand in der Küche.
Ruth folgte ihm und beobachtete schweigend, wie er die Wand abklopfte und kritisch die ausgebrochenen Haken inspizierte.
»Glück gehabt«, kommentierte Manni schließlich. »Die Wand selbst ist nicht der Grund dafür, warum das Zeug runtergekommen ist. Mit einer entsprechenden Unterkonstruktion halten hier auch wieder Oberschränke. Ich würde einfach Holzleisten anbringen, mit vielen ordentlichen Dübeln, und dann den Schank an den Leisten festmachen. Das verteilt die Last besser. Ich krieg das schon hin.«
* * *
Als er Feierabend machte, hatte Peter Mooren kein gutes Gefühl. Mit diesen Fässern stimmte etwas nicht. Sonst hätte Potelske wohl kaum angeordnet, dass sie aus der Lagerhalle verschwinden mussten und auf das kleine Gelände nach Horst gebracht werden sollten. Und zwar pronto, wie Potelske so gerne zu sagen pflegte.
Gewerbegebiet Steele-Horst. Mooren erinnerte sich gut daran. Das war ganz am Anfang gewesen, kurz nachdem er bei der AV&R GmbH angefangen hatte. Potelske hatte geglaubt, er könnte ein Schnäppchen damit machen. Aber er wurde es einfach nicht quitt. Lag zu sehr am Hang, das Gelände. Das wollte keiner haben, Gewerbegebiet hin oder her. Seitdem Potelske sich mit diesem Grundstück verspekuliert hatte, ließ er die Finger von vorschnellen Käufen dieser Art, immerhin. Nun hatte er die Fässer aus der Lagerhalle dorthin karren lassen. Die würden da jetzt bestimmt ewig und drei Tage rumstehen, und kein Mensch würde daran denken, sie abholen zu lassen. Na ja, ihm sollte es egal sein.
Peter Mooren seufzte. Dass Potelske den Tagebruch nicht bei den Behörden meldete, das war schon gar nicht in Ordnung. Dabei hatte er versucht, ihm klarzumachen, dass er sich hier auf einem ehemaligen Zechengelände befand, wo ein Tagebruch absolut nichts Ungewöhnliches war. Und wenn es einen gab, musste er fachgerecht aufgefüllt werden – so viel wusste Peter Mooren genau. Nicht ungewöhnlich hieß ja noch lange nicht ungefährlich, oder? Und genau das hatte später auch Völler zu Potelske gesagt.
Aber hatte der auf seinen Vorarbeiter gehört? Weit gefehlt. »Damit ich den TÜV wieder am Hals habe«, hatte Potelske gebrüllt. »Das wäre ja noch schöner. Die sperren uns doch glatt die Produktion. Nix da. Das Loch muss schnellstmöglich zugeschüttet werden.«
Und so wurde die Idee ausgeheckt, einen kleinen Bagger zu leihen und Erde vom Brachland hinter der Produktionshalle in den Spalt zu schaufeln. Damit war einer der Arbeiter den ganzen Tag lang beschäftigt gewesen. Noch in dieser Woche sollte eine Firma Beton über das Erdreich kippen – irgendein Schwager von Völler. Sah ziemlich nach Gemauschel aus.
Der Schaden des Vorarbeiters war es bestimmt nicht. Der ließ sich vermutlich gut für die diskrete Erledigung dieser Geschäfte bezahlen. Nee, nee, nee, irgendwas war da nicht koscher bei der Sache.
Aber was soll ich schon großartig machen, Irene?, ging er in den inneren Monolog mit seiner Frau, den er immer suchte, sobald ihn etwas in Aufruhr brachte. Eine Art Absolution, die er einholte, denn sie konnte ihm schließlich nicht mehr widersprechen. Was kann ich da schon machen?, erteilte er sich schließlich in bester Stammtischmanier selbst die gewünschte Bestätigung. Nichts. Gar nichts. Ich hab mir ohnehin schon viel zu oft die Schnauze verbrannt. Die da oben machen doch sowieso alle, was sie wollen!
* * *
Münsterland, Nottuln, 20. März
Es war bereits später Nachmittag, als Idgie von ihrer Einkaufstour zurückkehrte. Sie lud die Lebensmittel in Kammer und Kühlschrank und brühte sich einen Kaffee auf. Mit einem dampfenden Becher in der Hand streifte sie am Bücherregal entlang und studierte die Titel, die dort standen. Hannes hatte immer schon viel gelesen, mehr als sie selbst. Etliche Krimis und Thriller, viele Bestseller darunter. Eine Reihe von Romanen, darunter ein paar, die sie selbst gekauft hatte. Der Gott der kleinen Dinge von Arundhati Roy beispielsweise. Idgie nahm das Buch in die Hand und las den Klappentext. Sie erinnerte sich, wie sie die Rezension im Radio gehört und sofort an Hannes gedacht hatte. Sie wollte es ihm schenken, bevor er von selbst über den Titel stolperte. Deshalb hatte sie nicht lange gefackelt und viel Geld für die gebundene Ausgabe auf den Tisch gelegt.
Du und deine dicken Wälzer. Dafür lässt du glatt jede Frau stehen, hörte sie sich spöttisch sagen. Nicht jede, hatte Hannes mit diesem gewissen Timbre in der Stimme geantwortet und sie auf seinen Schoß gezogen.
Ihr Blick blieb an dem gerahmten Foto hängen, das im Regal stand. Idgie musste schlucken, denn ein junger Hannes blickte ihr entgegen. Rotblonde Haarsträhnen kippten ihm verwegen in die Stirn, und nicht nur diese leicht zerzauste Frisur erinnerte an Robert Redford, wie sie ihn aus dem Film Jenseits von Afrika kannte. Aber der Junge auf dem Foto sah in sich gekehrt aus, nicht verwegen, und die Augenfarbe stimmte auch nicht. Hannes’ Sohn. Der, den sie auf der Beerdigung gesehen hatte.
Idgie seufzte und ließ sich in den Ohrensessel fallen. Irgendwas Hartes bohrte sich in ihren Rücken, und sie fand eine Fernbedienung, die unter das Polster des Rückenkissens gerutscht war. Sie war zu klein für die des Fernsehers. Vielleicht die Stereoanlage? Idgie richtete den Sensor auf die Anlage und drückte auf »Play«.
Weiche, schwermütige Akkordeonklänge füllten den Raum. Dann eine Stimme, die nach dreißig Zigaretten am Tag klang, nach jeder Menge Alkohol und dem Charme einer durchliebten Nacht. Sie drang direkt in ihr Herz. N’oubliez jamais … Scheiße, verdammte … Idgie schoss das Wasser in die Augen. Vergessen? Nicht die kleine Minianlage mit den winzigen Boxen in seiner Kajüte. Nicht den Blues, den sie getanzt hatten, nicht Hannes’ Versuch, zu You Can Leave Your Hat On einen Strip hinzulegen, die dicke Fleecemütze auf dem Kopf, die ihm immer wieder ins Gesicht rutschte, und nicht die Liebe, die sie in der Kajüte miteinander geteilt hatten, mal ungestüm und wild, mal zärtlich und behutsam, als wären sie zerbrechlich, und erst recht nicht die Abende, wo sie zu müde für Sex waren, weil ihnen ein harter Arbeitstag in den Knochen steckte. Nur eng beieinanderliegen und ausruhen. Nur Nähe tanken, Haut an Haut. Night calls, naked …
»Jetzt reicht es aber mit der Heulerei«, schniefte sie, als die letzten Töne verklungen waren. Sie schnäuzte sich umständlich die Nase. »Ich bin doch sonst nicht so ein sentimentaler Hund.« Aber musste es denn auch ausgerechnet Cocker sein, den Hannes zuletzt gehört hatte?
Und jetzt? Vielleicht noch irgendwas anderes hören? Lieber nicht. Genug Hannes für heute. Besser was Neutrales machen. Am besten da weitermachen, wo sie am Morgen aufgehört hatte.
* * *
Essen, 20. März
»Magst noch ein Glas Wein?«, fragte Ruth, nachdem die Schränke wieder an ihrem Platz hingen.
»Ein Bier wäre mir lieber«, rutschte es Manni heraus, noch bevor er die leichte Unsicherheit in Ruths Stimme bemerkt hatte.
»Oh, tut mir leid, aber …« Ruth biss sich verlegen auf die Unterlippe und machte eine vage Geste mit den Händen.
Flüchtig überlegte Manni, ob er anbieten sollte, schnell eine Flasche aus seinem eigenen Kühlschrank holen zu gehen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er dann vermutlich gleich drüben bleiben könnte. Und er wollte noch nicht gehen. »Dann eben Wein«, entschied er schnell, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
»Und wie steht’s mit Hunger? Also, ich könnt jetzt gut was vertragen. Ich hab noch Flammkuchen eingefroren.«
Manni nickte und beobachtete sie, wie sie in der Küche hantierte. Wenig später standen zwei Holzbrettchen mit Flammkuchen und eine Flasche Wein vor ihnen auf dem Küchentisch. Schweigend begannen sie zu essen.
»Du bist also bei den Stadtwerken«, eröffnete Ruth so unvermittelt das Gespräch, dass es auf Manni wirkte, als wollte sie einfach nur etwas sagen, um dem Schweigen zu entkommen. »Dann werden wir vermutlich manchmal miteinander zu tun bekommen. Wobei ich hoffe, dass das nicht zu häufig der Fall sein wird.«
»Wieso?«, fragte Manni verwirrt.
»Ich denke, unsere Fachgebiete berühren sich.« Ruth lächelte ihn an und schenkte Wein nach. Sie schien seine Irritation bemerkt zu haben. »Ich bin beim Gesundheitsamt. Umweltmedizinerin. Ich werde also ab und an zum Kontrollieren kommen müssen. Hoffentlich finde ich nichts zum Meckern.«
Tolle Stimme, schoss es Manni durch den Kopf. Ein wenig rauchig wie guter Malt-Whisky. »Ich Abwasser, nix Trinkwasser«, witzelte er. »Du bist also die Neue, von der schon so viel erzählt wurde. Na sieh mal einer an.«
»Über mich wird geredet?«, fragte Ruth in verwundertem Ton.
»Ja, schon. Es wird erzählt, dass da ’ne hübsche Neue im Amt ist, die echt viel auf dem Kasten hat. Die neue Nachbarin. Ich fass es nicht!« Manni schüttelte den Kopf, hob sein Glas und prostete ihr zu. »Dann auf gute Zusammenarbeit. Und auf gute Nachbarschaft natürlich auch.«
Ruth prostete zurück, setzte das Glas ab und starrte auf das leere Brettchen vor sich.
Du musst was sagen, dachte Manni. Bist doch sonst nicht so auf den Mund gefallen. »Und was machst du so in deiner Freizeit?« Dämliche Frage! Schnell versuchte er, mit einem Witz nachzulegen. »Ich meine, dass du nicht gerade viel mit Gartenarbeit am Hut hast, das hatten wir ja schon. Was machst du denn sonst so?«
Ruth suchte verlegen nach einer Antwort, die nicht so langweilig klang. Tja, was machte sie sonst? Lange Abende vor der Glotze oder mit Buch und Kater auf dem Schoß. »Nichts«, sagte sie dröge.
»Wie ›nichts‹? Nichts kann man nicht tun.« Manni grinste und legte den Kopf schräg, während er sie mit treuherzigem Blick fixierte.
»Schreiben«, sagte sie schließlich. Ein bisschen schroff, aber nicht unfreundlich.
»Du schreibst? Echt? Ein Fachbuch oder was?«
»Eher eine Art Roman. Aber einer, wo es um wahre Begebenheiten geht.«
* * *
Münsterland, Nottuln, 20. März
Idgie holte Netbook, Stift und Block vom Schreibtisch und öffnete eine weitere Datei auf der Festplatte. Dieses Mal ging es um die NEdZ, den Konzern, der sich so hochtrabend »Neue Energie der Zukunft« nannte.
Ursprünglich war die Gesellschaft ein Elektrizitätswerk gewesen, das seit dem neunzehnten Jahrhundert einige Ruhrgebietsstädte mit Energie versorgte, wobei einer der Stahlkonzerne der Region seine Finger dick mit drinhatte. Wen wundert’s, dachte Idgie spöttisch. Eine gute Möglichkeit, die Strompreise zu beeinflussen, die für die Stahlbranche nicht unerheblich waren. Durch Zusammenschlüsse – oder waren es Übernahmen? – mit anderen regionalen Energielieferanten wuchs in Essen schließlich ein Riese heran. Im Zuge des Wirtschaftswachstums beteiligte der Konzern sich an Verkehrsgesellschaften, Maschinen- und sonstigen Bauunternehmen und errichtete weltweit etliche Energie- und Wasserversorgungsgesellschaften.
Anfang des neuen Jahrtausends trennte er sich wieder von der Wasser- und Bauwirtschaft und richtete unter dem neuen Firmennamen NEdZ den Fokus erneut rein auf sein Kerngeschäft: die Energiegewinnung.
Nicht, dass er die je aus den Augen verloren hätte. Hier tummelte er sich ohnehin schon seit Langem in verschiedenen Bereichen, einer Palette, die von den traditionellen Kohlekraftwerken über Wind- und Wasserkraft bis hin zur Kernenergie reichte. Außerdem jedoch wurde er zu einem der größten Netzwerkbetreiber in ganz Europa.
Idgie überflog den letzten Artikel, der auf der Festplatte gespeichert war. Hier ging es um ein Missbrauchsverfahren gegen die NEdZ, eingeleitet durch die Europäische Union. Verdacht auf Monopolbildung.
Sie kaute auf dem Bleistift herum, während sie weiterlas. Durch eine ihrer Tochtergesellschaften, die European Oil and Gas, hatte die Neue Energie allen Konkurrenzunternehmen den Zugang zum Erdgasmarkt erschwert und so ein Monopol auf die Gasleitungen aufgebaut. Wenn schon, denn schon, dachte Idgie. Das Verfahren wurde erst eingestellt, als die NEdZ sich bereit erklärte, das Gasleitungsnetz an einen Dritten zu verkaufen.
Filou tauchte neben ihr auf und schmiegte sich an ihr Bein. Abwesend tätschelte Idgie den Kopf des Hundes.
Zwei Riesen, auf die Hannes sich da eingeschossen hatte, und auch noch verwandt miteinander. Trat man denen auf die Füße, waren das auf jeden Fall verdammt mächtige Gegner.
Bist du denen auf die Füße getreten, Hannes? Und wenn ja, womit?
* * *
Essen, 20. März
»Und das ist wirklich passiert?«
»Ist es«, sagte Ruth sachlich, fast unterkühlt. »1987 in Brasilien. Ein sogenannter ziviler Atomunfall.«
»Ich hab nie was davon gehört. Wie ist es ausgegangen?«
»Ein kleines Kind starb, weil es sich mit den radioaktiven Partikeln eingerieben und danach mit ungewaschenen Händen etwas gegessen hat. Drei Erwachsene starben kurz nach dem Kind.«
»Schlimm!«
»Wirklich schlimm. Insgesamt waren ungefähr zweihundertfünfzig Personen schwer kontaminiert.« Ruth benutzte jetzt die Hände, um einzelne Worte zu untermalen.
»Zweihundertfünfzig Menschen?«, fragte Manni entsetzt.
»Ja, knapp fünfzig von ihnen wurden in einer Art Quarantäne interniert. Die Behandlung dieser Menschen war ausgesprochen schwierig, da sie selbst starke Strahlenquellen waren.«
»Puh!« Manni schüttelte erneut den Kopf. »Echt beeindruckend.« Ob er damit Ruth oder die Geschichte meinte, die sie ihm da gerade präsentierte, war ihm selbst nicht so ganz klar. Vermutlich beides.
Mit Ruth war eine Wandlung vor sich gegangen. Sie war in ihrem Element, das war zu spüren. Ihre Augen blitzten, der angespannte Zug um ihren Mund hatte sich gänzlich davongestohlen, und die Wangen waren zart gerötet.
Mit ausladender Bewegung führte Ruth ihr Weinglas zum Mund. Etwas zu schwungvoll, denn ein kleines Bächlein rann aus dem Mundwinkel.
»Mist!« Ruth lachte gelöst und wischte das Rinnsal mit dem Handrücken weg. »Das passiert mir manchmal, wenn ich im Erzählen bin.«
Er schmunzelte. »Und wie ging es weiter?«, fragte er dann.
Augenblicklich wurde Ruth wieder ernst. »Mehr als hunderttausend Menschen wurden untersucht. Sie haben ein Zeltlager für die Evakuierten in einem Stadion errichtet. Wie viele Leute da zwischenzeitlich untergebracht werden mussten, habe ich jetzt nicht mehr im Kopf, das muss ich noch mal nachlesen. Aber das Stadion war gut gefüllt.«
»Evakuiert?«
»Ja. Evakuiert. Als die Frau des Schrotthändlers den Behälter ins Krankenhaus gebracht hat, waren bereits knapp neunzig Prozent der Radioaktivität entwichen. Ganze Straßenzüge und Plätze waren so verseucht, dass die oberen Erdschichten abgetragen werden mussten.«
»Komm, jetzt übertreibst du aber, das kann ja wohl nicht sein.« Manni hob in gespielt abwehrender Geste die Hände. »Ich hab dich durchschaut. Gib’s zu, du willst mich verarschen.« In seine Stimme schlich sich ein flirtender Unterton.
»Nein.« Ruths Ton blieb ernst. »Um die achtzig Häuser waren unbewohnbar, einige waren so bös verunreinigt, dass sie abgerissen werden mussten. Neben den schwer erkrankten Menschen gab es also auch noch einen erheblichen Sachschaden zu verzeichnen. Die Gebäude mussten gereinigt und ganze Erdschichten abgetragen werden. Das verstrahlte Material wurde auf einem Gelände außerhalb der Stadt vergraben und einbetoniert. Es ist jetzt eine Gedenkstätte. Eine Art Mahnmal.«
Manni starrte sie ungläubig an.
»Das Unglück ist gut belegt, glaub mir. Du kannst es gerne überprüfen, wenn du willst.« Leichte Enttäuschung schwang plötzlich in Ruths Stimme und legte sich um ihre Mundwinkel.
»Nee, lass mal.« Manni legte seine Hand auf ihre, um sie ganz schnell wieder wegzuziehen. »Du bist hier die Fachfrau. Was war das gleich noch für ein Zeug?«
»Cäsium-137. Cäsium selbst ist eigentlich nicht so gefährlich für den Menschen. Es ist ein weiches Metall mit einem recht niedrigen Schmelzpunkt.«
»Das versteh ich nicht. Die ganze Zeit über war doch die Rede davon, wie schlimm das ist. Wieso ist es dann nun plötzlich nicht gefährlich?«
»Cäsium ist nicht gefährlich, Cäsium-137 schon. Und das Cäsiumchlorid in dem Röntgengerät war hochgradig damit verseucht.«
Manni spielte an seinem Weinglas herum. Irgendwie fing die Geschichte an, in ihn hineinzukriechen. Es fühlte sich unbehaglich an.
»Cäsium-137 ist ein Isotop«, fuhr Ruth fort, »und zwar ein künstliches, das – vereinfacht ausgedrückt – durch einen Kernspaltungsprozess entsteht.«
»Sorry, ich komm jetzt nicht mehr mit. Tut mir leid. Ist wirklich nicht ganz mein Fach. Auf jeden Fall gefährlich«, fasste Manni zusammen, ein Fragezeichen in der Stimme.
»Sehr gefährlich«, bestätigte Ruth nachdrücklich.
Sie stand auf und räumte Brettchen und Besteck in die Spülmaschine. Manni hörte sie hinter sich hantieren. Es hatte etwas Heimeliges, dieses Klappern, und setzte tief verschüttete Erinnerungen an die Zeiten in ihm frei, als er und Marion noch gemeinsam in seinem Zechenhäuschen gewohnt hatten. Ich kann sie gut um mich haben, gestand er sich ein. Sogar wenn sie so gruselige Storys erzählt. Plötzlich musste Manni an seine Tochter denken. In seinem Kopf formte sich eine Idee.
»Magst du nicht Samstag zum Essen zu uns kommen? Meine Nora studiert Medizinische Biologie, und ich könnte mir vorstellen … also, ich meine, sie ist noch ein bisschen unsortiert irgendwie, was ihr Studium betrifft. Scheint das auch noch nicht so richtig ernst zu nehmen, außerdem geht’s in ihrem Kopf manchmal drunter und drüber … schrecklich sprunghaft. Findet es plötzlich wichtiger, gegen irgendeinen Castor-Transport zu demonstrieren, als zur Uni zu gehen …«
»Wie kommt sie gerade auf die Castor-Transporte?«, fragte Ruth neugierig.
»Ahaus … also, Rheine ist da nicht weit von weg … sie wohnt dort in der Nähe – äh – Marion, ihre Mutter – also Nora … jetzt wohnt sie ja bei mir, zum Studium …« Manni hatte sich nun vollständig verheddert und brach ab.
»Ist doch gut, wenn sich junge Menschen Gedanken machen über das, was um sie herum vorgeht. Ich hab das Gefühl, dass das leider viel zu wenige tun heutzutage.«
»Ja, stimmt natürlich. Dennoch sollte sie sich mehr um ihr Studium kümmern. Also … vielleicht …« Manni ließ den Satz in der Schwebe.
»Soll ich was mitbringen? Salat vielleicht?«
»Lass mal. Ich koche sehr gerne. Neunzehn Uhr?«
»Neunzehn Uhr passt gut. Und noch mal vielen Dank. Das war total nett von dir, mir so unter die Arme zu greifen.«
Als Manni durch den Garten auf die Lücke in den Büschen zusteuerte, spürte er ihren Blick in seinem Nacken. Samstagabend … Er schob die Hände in die Hosentaschen und begann, vor sich hin zu pfeifen.
* * *
Münsterland, 21. März
Mit großem Respekt vor der Mächtigkeit ihres Gegenübers machte Idgie sich am nächsten Tag daran, im Umkreis von Münster Lkws der European Oil and Gas aufzuspüren, die sie im Laufe des Tages die »blaue Flotte« nannte. Sie legte sich buchstäblich auf die Lauer und wurde belohnt. Neben den normalen, mit Plane verhüllten Lastfahrzeugen gab es auch Tanklastzüge, die den markanten Schriftzug der E.O.A.G trugen.
Sie alle fuhren relativ regelmäßig unterschiedliche Ziele an. Einige Fuhren gingen südwärts, und Idgie verfolgte eine Lieferung über die B 224 und die A 52 bis tief ins Ruhrgebiet hinein, drehte dann jedoch ab, als sie die Ausdünstungen der Industriegebiete bei Gelsenkirchen-Scholven erreichte.
Chemische Industrie? Ölraffinerien? Was auch immer sich hier befand: Es stank bestialisch nach einem Gemisch von faulen Eiern und weiß der Teufel was! Sie hatte keine Lust, sich mit Gerüchen dieser Art näher zu beschäftigen.
Zwei andere Trucks der blauen Flotte kehrten aus dem Ruhrgebiet zurück. Einer fuhr auf dieses kleine, merkwürdige Betriebsgelände ohne Bohrturm, das sie kürzlich entdeckt hatte. Dort lud er seine gelbe Fracht ab. Der andere steuerte ein ähnliches Gelände im Kreis Warendorf an.
Ein weiterer Laster, den sie aufspürte, fuhr zu einer Müllkippe, und bei Altenberge konnte Idgie von einem Hügel aus den Weg des Lkws über die Wüstenei der Deponie verfolgen, bis er schließlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Die Schadensklasse auf dem Schild an der Auffahrt wies sie als normale Hausmülldeponie aus.
Auf dem Weg zurück von der Müllkippe kam sie an dem Bohrturm vorbei. Sie hielt auf dem gleichen Hügel an, auf dem sie bereits am Vortag gestanden hatte. Am Rande des Geländes befanden sich mehrere große Tanks. Ein Tanklastzug schien einen der Tanks zu befüllen. Oder zu entladen, so genau konnte man das nicht erkennen.
Zwei Arbeiter in grünen Overalls mit neongelben Schutzwesten und hellen Baustellenhelmen beaufsichtigten den Vorgang. Nach einiger Zeit wurde der Schlauch, der den Tank mit dem Tanklastzug verbunden hatte, gelöst. Einer der Arbeiter kletterte ins Führerhaus, und kurz darauf schloss sich das Ventil in dem mächtigen Zylinder des Lkws, und der Koloss setzte sich langsam in Bewegung.
War der Tanker be- oder entladen worden?, fragte Idgie sich, während sie ihm folgte. Sie brauchte nicht lange hinterherzufahren. Das schwere Vehikel rumpelte keine zehn Kilometer weiter auf ein weiteres Gelände mit mehreren riesigen Tanks, wo derselbe Mann, den sie bereits am Bohrturm gesehen hatte, einen dunklen Schlauch an einem der Tanks andockte.
Idgie konnte nicht erkennen, was genau da vor sich ging. Zeit, der Sache nachzugehen.