KAPITEL 9

Essen, 5. April

Ein Platzregen ergoss sich lautstark gegen das Bürofenster. Manni zuckte zusammen, stand auf und starrte auf die Straße hinunter. »Wie das schon wieder schüttet …«, brummelte er.

»Was heißt hier ›schon wieder‹? Hat es überhaupt mal irgendwann aufgehört in der letzten Woche? Das ist doch am Regnen, seit die Cassandra hier so rumgewütet hat. Zehn Tage, ununterbrochen.«

»Echt? So lange schon?«

»Ja klar. Oder wann hast du zuletzt die Sonne gesehen?« Edda Martinez knüllte ihr Butterbrotpapier zusammen und beförderte es mit gezieltem Schwung in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. »Kannst du dich erinnern?«

»Gefühlte drei Monate«, gab Manni mit leiser Theatralik in der Stimme zu. Aber eigentlich störte ihn das nicht. Manni war sogar ganz froh darüber, denn an den Abenden pendelten sie zwischen Ruths Sofa, Ruths Küche und Ruths Schlafzimmer hin und her, sehr zum Ärger von Schimanski, der sich in seiner gewohnten Katzenroutine aufs Empfindlichste gestört fühlte. Schönes Wetter würde diese Romanze vielleicht schnell in gemäßigte Bahnen lenken. Ihr die kuschelige Intimität rauben. Obwohl Manni das eigentlich nicht glaubte. Vermutlich würden sie auch in Ruths verwildertem Garten die Finger nicht voneinander lassen können. Wie die Teenager, dachte er und musste grinsen.

»Du siehst aus wie mein Hund, wenn er die Wurst vom Tisch stibitzt hat. Worüber freust du dich denn so?«

»Och, nichts Besonderes.«

»Glaub ich dir nicht. Seit bestimmt anderthalb Wochen bist du schon so impertinent guter Laune.«

»Stimmt doch gar nicht«, protestierte Manni lahm. Clouds in the sky …, summte es in seinem inneren Ohr. … like a time machine in space … Manni bemerkte gar nicht, dass er die Melodie leise mitpfiff.

»Und ob das stimmt«, mischte sich Kollege Kalle Pohl ein, der in der Tür zum Nachbarbüro lehnte und der Unterhaltung gefolgt war. »Dauernd pfeifst du vor dich hin.«

»Na wenigstens einer, der bei dem verregneten Frühjahr nicht trübselig wird.« Manni grinste erneut. »Wenn das weiter so schüttet, wird’s auf jeden Fall problematisch. Wo, meint ihr, wird die Scheiße wohl zuerst hochschießen?«

»Wetten, irgendwo im Süden?«, sprang Kalle augenblicklich auf das Thema an. »Wie 2008, als der Mist in Kupferdreh, Heidhausen und Kettwig hochgekommen ist.«

»Warst du dabei?«, fragte Edda neugierig.

»Jau«, bestätigte Kollege Kalle knapp.

»Ich war da gerade frisch in der Ausbildung«, sagte Edda. »Aber ich habe davon gehört. Muss ziemlich heftig gewesen sein.«

»Das kannst du wohl laut sagen. Die Gullydeckel hat es richtig in die Höhe katapultiert. Einer ist mit Schmackes in einen Van geknallt. Die Seite war völlig eingedellt, so viel Kawumm war dahinter.«

»Hihi. Damit hat es ja wohl keinen Falschen getroffen.«

»Da saß das Geld«, bestätigte Manni. »Zumindest in Heidhausen und in Kettwig. Obwohl – in Kettwig ist das auch eher gemischt. Aber so was würde ich niemandem an den Hals wünschen, echt nicht.«

»Das sah vielleicht aus da«, fiel ihm der Kollege ins Wort. »Also, als das Wasser wieder abgeflossen war.« Er feixte breit. »In den feinen Gärten war die Kacke buchstäblich am Dampfen. Keller voll, Autos und Garagen … selbst ins Erdgeschoss ist die Suppe gelaufen.« Er begann zu lachen. »Ich meine, das Beste war diese E-Klasse, die hatte cremefarbene Ledersitze … und dann dieser Pinkel, wie der da in seinen Gummistiefeln zu seinem Auto stapfte und die Tür öffnete und die stinkende braune Suppe … das Gesicht hättest du mal sehen sollen …«

»Gab es denn irgendwo eine Blockade?«, fragte Edda Martinez. »Irgendeine Stauung in der Kanalisation? Oder warum kam es ausgerechnet dort hoch, wo es doch schon Richtung Bergisches geht?«

»Nix Blockade. Da war einfach zu viel Wasser unterwegs«, sagte Manni. »Die Bäche aus dem Bergischen waren voll bis zum Kragen, eine Starkregenfront aus dem Süden kam angerollt, und dann haben sie noch irgendeine der Talsperren im Osten kontrolliert abgelassen, damit da nichts überschwappt. Auf jeden Fall war Holland in Not. Hat eine ganze Weile gebraucht, bis der ganze Mist wieder gereinigt war. Ich tippe allerdings auf Steele, wenn du mich fragst.«

»Warum ausgerechnet da?«

»Mensch, Edda, das ist doch wohl logisch. Weil da Regenwasser und Abwasser zusammen abgeleitet werden. Das vervielfacht das Volumen in den Kanälen. Ich setz ’nen Zehner auf Steele.«

»Und ich einen auf Heidhausen, Fischlaken, da unten die Ecke. Und du, Edda?«

»Altenessen«, sagte sie. »Das gleiche Prinzip wie in Steele. Nur dass die Kanalisation dort älter ist.«

»Was nicht unbedingt schlechter sein muss«, wandte Manni ein. »Auf jeden Fall glaube ich, es kommt südlich der Wasserscheide hoch. Wartet, ich schick’s mal auf den Drucker.«

Kurz darauf legte er die grobe Skizze des Abwassernetzes auf den Schreibtisch. Das Essener Abwassernetz war unterteilt in zwei Blöcke. Nördlich der A 40 wurde es in Richtung Emscher geleitet, südlich dieser Autobahn, die sich wie eine Schneise quer durch die Stadt pflügte, in Richtung Ruhr, was in etwa mit dem natürlichen Gefälle zusammenhing. Natürlich gab es Ausnahmen, die diese grobe Regel durchbrachen. Die Margaretenhöhe zählte trotz ihrer Lage südlich der A 40 zum nördlichen Abwassernetz der Stadt.

»Also gut, lassen wir uns überraschen«, fasste Manni zusammen. »Du Nord, ich Süd, aber nördlich der Ruhr, Kalle südlich der Ruhr. Ich mach jetzt die Runde, mal sehen, was die anderen so tippen.« Mit dem Bleistift malte er Kringel an die entsprechende Stelle des Ausdrucks und schrieb den jeweiligen Namen hinein. »Wie viel setzt ihr?«

Manni wusste, dass diese Wette half, die Anspannung zu kanalisieren, mit der sie alle auf das Unvermeidliche warteten. Denn dass es passieren würde, war so klar wie das Amen in der Kirche. Und wenn die Kanalisation aus allen Nähten platzte, war das alles andere als komisch. Es war einfach eine riesige Schweinerei, auf die nun wirklich niemand scharf war.

* * *

Es regnete immer noch. Ein steter, unaufhaltsamer Niederschlag, mal fein sprühend, mal Bindfäden, mal Wolkenbruch. Seit Tagen war es nicht mehr richtig hell geworden. Schwere Wolken verdunkelten den Himmel, bleigrau mit einem Stich ins Grünliche hinein.

Peter Mooren starrte von der Kurt-Schumacher-Brücke auf die Ruhr hinunter, diesen Fluss, den er kannte, solange er denken konnte. Er war mit der Ruhr aufgewachsen, schon als Kind mit seinem Vater auf dem zum Baldeneysee aufgestauten Fluss gerudert und noch im Freibad Baldeney schwimmen gegangen, das schon seit Langem stillgelegt war. Er war durch die Wälder rund um den Stausee gestreunt, hatte sich die Nase an den Toren der Krupp’schen Villa Hügel platt gedrückt und auf der Isenburg die ersten Küsse mit Irene ausgetauscht. Dort hatte er es auch zum ersten Mal gewagt, ihr die Hand unter den Pullover zu schieben, und sich vorsichtig herangetastet an die runden Hügel, die sich so verheißungsvoll unter der Wolle abzeichneten. Sie hatte ihn gewähren lassen, und er hatte sein Gesicht in ihrem weichen braunen Haar vergraben und den Duft in sich hineingeatmet. Später dann hatten sie dicht beieinander an der Mauer gestanden, Hand in Hand, und auf den See hinabgeschaut, auf dem vereinzelt ein paar Segelboote friedlich ihre Zickzack-Bahnen zogen.

Die Ruhr war ihm so vertraut wie sein Irenchen. Er kannte jede ihrer Biegungen von der Kemnade bis nach Mülheim, wusste, an welchen Stellen die Karpfen standen, und hatte sogar schon mal einen Hecht im See gefangen. Er kannte die Ruhr bei Niedrigwasser und bei Hochwasser. Und dass die Kurt-Schumacher-Brücke gesperrt werden musste, wenn das Wasser kam, das war eigentlich in jedem Jahr der Fall. Die gewundene Landstraße, die von der Brücke hin nach Überruhr und weiter durch Burgaltendorf ins Bergische Land hineinführte, wurde regelmäßig geflutet, manchmal sogar mehrfach im Jahr.

So aber hatte er seinen Fluss noch nie erlebt. Der war völlig außer Rand und Band. Das Wasser hatte weite Teile des Ruhrtals überflutet und riss alles mit sich, was sich ihm in den Weg stellte. Bäume, Verkehrsschilder, jede Menge Plastik, ein paar der Mülleimer aus Metall, die sich an den Uferwegen befanden, ein Kahn, all das wirbelte durch das schäumende Wasser und prallte gegen die Bäume, die den Fluten noch standhielten, um dann unter dem Druck des Wassers weitergetrieben zu werden.

Das Bootshaus mit seinem schönen Biergarten stand, von der Hauptstraße vollständig abgeschnitten, auf einer Insel, vom Wasser umtost, die Flut gurgelte über den Parkplatz des Bootshauses, schäumte bereits über die letzte Stufe zur hoch gelegenen, kiesbedeckten Terrasse und züngelte in Richtung des Ausflugslokals.

»Oberkante Unterlippe«, murmelte Peter Mooren. Nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser auch diese Hürde nahm und das Bootshaus absoff. Es machte ihm Angst.

Dauerregen und Orkan, und ein insgesamt viel zu warmer Winter. Ob das dieser Klimawandel war, über den so viel geredet wurde? Musste man nun jedes Jahr damit rechnen? Mit völlig verregneten Sommern oder Wintern, mit Orkanen und Tornados, die das Land verwüsteten? Er hatte mal einen Bericht im Fernsehen gesehen, wo sie sagten, dass die Menschen das alles selbst zu verantworten hätten. Dass sie mit ihrem Hunger nach Energie und ihrer Maßlosigkeit Raubbau an der Natur trieben und die Natur nun zurückschlagen würde. Peter Mooren war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er war nur ein alter Mann. Aber eines wusste er genau: Der Mensch war das schlimmste aller Raubtiere. Und wenn es mit der Menschheit mal vorbei sein sollte, wäre das kein allzu großer Verlust.

Was trieb denn da vorne im Wasser? Irgendwas Gelbes. Eine Plastiktüte? Nein. Sah eher aus wie ein … Peter Mooren kniff die Augen zusammen. Sie tränten vom Wind und von der Anstrengung.

Eine Windbö griff unter den Schirm seiner Mütze und fegte sie vom Kopf. Es war seine Lieblingsmütze, fast wie die Kappe eines Kapitäns, mit blauem Schirm. Irene hatte sie ihm mal an der Ostsee gekauft. In Travemünde. Du siehst damit genauso fesch aus wie der Schmidt, hatte sie liebevoll gesagt und damit den ehemaligen Bundeskanzler gemeint, den sie immer verehrt hatte, fast so wie Willy Brandt.

Peter Mooren hastete der Kappe hinterher und rettete das geliebte Stück gerade noch rechtzeitig, bevor es durch das Geländer hindurch in die reißende Flut geweht wurde. Erleichtert presste er die Kappe an die Brust. Sie war zu nass, um sie wieder aufzusetzen, und ohne seine Mütze mochte er hier im Regen nicht länger stehen, sonst würde er sich noch verkühlen. »Füße und Kopp müssen trocken bleiben, dann bleibste gesund«, hatte Irene immer gesagt, und daran hatte er sich stets gehalten. Er sollte zusehen, dass er schnell nach Hause kam.

* * *

Essen, 6. April

Manni reckte sich und gähnte ungeniert. Zeit, Pause zu machen. Er brauchte nicht erst aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen, dass es draußen ziemlich unwirtlich war. Stürmischer Wind trieb den Regen hart gegen die Scheiben. Er warf trotzdem einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Der Himmel war bleigrau, und schwere Wolken schienen die Dächer der gegenüberliegenden Häuser gen Boden zu drücken. Egal. Er brauchte frische Luft. Manni griff nach seiner Jacke, verließ das Büro und ging die geschwungene Steintreppe hinunter in die Eingangshalle. Im Laufen zog er den Reißverschluss seiner wasserdichten Arbeitsjacke bis zum Kinn hinauf.

»Na, Manni, auch bei diesem Wetter raus?«

»Weißt du doch«, grinste Manni.

»Pass auf, dass es dir nicht die Haare vom Kopf reißt«, rief ihm der Pförtner hinterher.

»Witzbold.« Manni lachte und stülpte sich seine Wollmütze mit dem Inlay aus Goretex über den blanken Schädel.

Er verließ das Gebäude der Stadtwerke und kämpfte sich gegen den Wind die Rüttenscheider Straße hinauf bis zum Stern. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, und beinahe hätte er sich in einer Plastiktüte verheddert, die ihm zwischen die Beine trieb. Die Rüttenscheider Straße, neben der Innenstadt das zweite Einkaufsparadies von Essen, war erstaunlich leer für diese Uhrzeit.

Ich hätte doch besser noch die Hose anziehen sollen, dachte Manni. Aber in den orangefarbenen Arbeitsklamotten der Stadtwerke schwitzte er immer wie Tier. Schon deshalb war er froh, dass er nicht mehr dauernd auf dem Bock durch die Stadt kutschen musste, von den Rückenschmerzen mal abgesehen, die der unbequeme Sitz dieses Gefährts mit sich gebracht hatte. Seitdem protestierten Nacken- und Schulterpartie gegen die permanente Sitzerei im Büro. Der Lack war nun mal ab, das konnte man drehen und wenden, wie man wollte.

Obwohl Markttag war, lag der Rüttenscheider Markt unbelebt und grau vor ihm. Viel weniger Stände als sonst, keine ausladenden Vordächer aus buntem Zeltstoff. Etliche Händler hatten offenbar darauf verzichtet, bei dem Wetter zu kommen, und die wenigen, die da waren, hatten die Aufbauten auf ein Minimum reduziert. Aber der Fischmann war dort, wo er immer stand, und Manni beschloss, sich zwei Matjesbrötchen zu gönnen.

Zehn Minuten später war er wieder zurück auf dem Weg ins Büro. Es schüttete immer noch, und die Straße war komplett von Wasser bedeckt. Ein Passat preschte zügig an ihm vorbei und schickte einen ordentlichen Schwall in Mannis Richtung. »He, du Pfeife, kannst du nicht aufpassen?«, meckerte Manni dem Auto hinterher, um dann wütend seine durchnässten Jeans zu begutachten.

Die Bewegung nahm er mehr aus den Augenwinkeln wahr. Zwei Meter seitlich von ihm schoss plötzlich eine Fontäne in die Höhe, hell und anmutig wie ein Geysir, und katapultierte den Gullydeckel gut einen halben Meter weit auf die Straße.

Ach du Scheiße, dachte Manni. Hier in Rüttenscheid! Das hat uns noch gefehlt. Er begann zu rennen.

* * *

Münster, 6. April

»Du bist pensioniert«, insistierte sein Freund und Expartner Karl Rotermund.

»Weiß ich. Ich dachte, du würdest mich trotzdem mal kurz …« Kamforski grinste frech. »Sag mal, wolltest du nicht aufs Klo?«

»Kamforski, du nervst!«

»Dann mach doch selbst. Fünf Wanzen in der kleinen Hütte, das musst du dir mal überlegen. Und zwar Hightech vom Feinsten, keine Billigware. Da war jemand ganz schön in der Bredouille und hat sich das einiges kosten lassen. Außerdem habe ich oben im Wald einen ganzen Berg von ausgetretenen Kippen gefunden. Da hat jemand tagelang friedlich vor sich hin gequalmt, immer an der gleichen Stelle.« Kamforski knallte einen durchsichtigen Plastikbeutel vor seinem Freund auf den Tisch, prall gefüllt mit ausgetretenen Stummeln. »Die sollte mal jemand ins Labor schicken. Der Einbruch ist ja wohl Grund genug, das zu untersuchen. Da oben liegen noch mehr davon rum.«

»Vielleicht hat jemand seinen Autoaschenbecher dort entleert?«

»Vergiss es. Nur ein schmaler Fußweg rauf von Schapdetten. Von dem Platz aus hat man einen super Blick genau auf die Scheune von Hannes Schindler.«

»Der Fall ist abgeschlossen. Das weißt du doch.«

»Aber wenn sich eine andere Sachlage ergibt, muss das nicht so bleiben. Ich bin mir sicher, dass die Wanzen nicht erst vor Kurzem dort in Schindlers Scheune eingebaut wurden. Ich kann es …«

»Jetzt komm mir bloß nicht wieder mit deinem verdammten Zinken!«, unterbrach Rotermund ihn rüde. »Ich dachte, diesen Spruch wäre ich endlich los.«

»Mensch, Karl. Die Wanzen dümpeln dort schon eine geraume Weile vor sich hin. Und sie werden nach wie vor abgehört. Die Frage ist doch, warum? Warum hielt es jemand für nötig, Schindler auf diese Art und Weise zu bespitzeln? Und warum hält es jemand für nötig, diese Bespitzelung sogar nach seinem Tod fortzuführen? Was ist mit dem Laptop von Schindler? Und was mit dem Einbruch bei Idgie?«

»Idgie?«

Kamforski hörte den spöttischen Unterton in der Stimme seines Freundes. Natürlich war dem die vertrauliche Anrede nicht entgangen. »Ja, Idgie«, sagte Kamforski herausfordernd. »Die Callahan hat eine Festplatte von Schindler geerbt mit ziemlich interessantem Material. Ich finde die Überlegung mittlerweile vollkommen korrekt, dass Schindler auf etwas Brisantes gestoßen ist.«

»Du stellst lauter Fragen, ohne auch nur eine einzige fundierte Antwort geben zu können«, murrte sein Freund.

»Weiß ich. Deswegen bin ich hier. Ich habe mich gestern mit dem Inhalt auf Schindlers Festplatte beschäftigt. Ich will einfach nur ein paar Anfragen durch unser System jagen, mehr nicht.«

»›Nur‹ ist gut. Du weißt genau, dass ich das nicht darf.«

»Nun komm schon, Karl. Wegen der guten alten Zeiten. Außerdem will ich nicht warten, bis Idgie was passiert. Ich halte sie für gefährdet.«

»Wo ist die eigentlich jetzt, die Lady?«

»Sie ist nach Essen gefahren. Da ist sie wenigstens erst mal aus der Schusslinie.« Für einen flüchtigen Moment überlegte Kamforski, ob er sich da wirklich so sicher sein konnte. Aber niemand war dem Motorrad gefolgt, das hatte er selbst überprüft. Er war in gebührendem Abstand hinter ihr hergezockelt, die Augen wie ein Chamäleon aufmerksam in alle Richtungen peilend. Da war niemand gewesen, dafür würde er seine Hand ins Feuer legen. Also konnte auch keiner wissen, wo sie hingefahren war. Und auf dieser Konferenz war sie zwischen den ganzen Leuten erst mal in Sicherheit, zumindest war das ihre Argumentation gewesen, als er seine Bedenken vor ihr ausgebreitet hatte.

Stimmte das wirklich? Der Gedanke an diese Energiekonferenz bereitete ihm Unbehagen. Nun werd mal nicht paranoid, mein Junge.

»Ist was?« Sein Freund schien ihn genau beobachtet zu haben.

»Jetzt geh schon endlich pinkeln!«, brummte Kamforski unwirsch.

Rotermund seufzte. »Ich habe gleich Schießtraining«, sagte er. »Dann bin ich in einer Besprechung, schätzungsweise an die zwei Stunden, und danach mache ich Feierabend, sofern sich nicht wieder irgendwelche Leute gegenseitig die Schädel einschlagen. Hier ist mein Büroschlüssel. Schließ dich ein, solange du am Computer fahndest, und bring mir den Schlüssel heute Abend nach Hause. Wenn dich hier jemand erwischt: Ich weiß von nichts. Und fahr den PC runter, wenn du gehst. Und lass bloß das Licht aus.«

»Danke Karl. Du bist ein echter Freund. Und bitte – gib die ausgetretenen Kippen zur Analyse ins Labor.«

Rotermund verdrehte die Augen, nahm dann aber doch die Tüte in Empfang, die Kamforski ihm beharrlich hinhielt.

* * *

Essen, 6. April

»Ausgerechnet hier in Rüttenscheid.« Mannis Stimme war düster, während er aus seiner sicheren Position von oben aus zusah, wie eine braune Brühe über die Rüttenscheider Straße suppte. Ein paar Martinshörner näherten sich und kündigten die Feuerwehr an.

»Weiß man schon Genaueres?«

»Ich tippe auf eine Stauung in einem der größeren Kanäle irgendwo Richtung Bredeney«, sagte Meininger. »Wenn es hier hochkommt … Außerdem haben wir Meldungen aus Altendorf und Katernberg, dass dort die Köttelbecken außer Rand und Band sind.«

Ein Handy, unterlegt mit dem obligatorischen Brummton, plärrte blechern Strangers In The Night in den Raum. Etwas verzögert begann Meininger in seiner Jackentasche zu kramen.

Neuer Klingelton oder neues Handy, dachte Manni amüsiert. Den hatte man jedenfalls noch nicht bei Meininger gehört.

»Ja?«, knurrte Meininger in das Mobiltelefon. Sein Gesicht verdüsterte sich, während er zuhörte. »Alles klar«, sagte er schließlich. »Nimm dir die Azubine zu Hilfe, die Tina, das Mädel ist fix, und halte uns auf dem Laufenden.« Er klappte das Telefon zusammen. »Land unter«, informierte er Manni knapp. »Ich könnte jetzt gut einen Kaffee gebrauchen. Sei so nett und hol uns einen. Ich trommele inzwischen die anderen zusammen.«

Edda Martinez hastete als Letzte ins Büro ihres Chefs und quetschte sich neben dem Gummibaum in die Ecke. »Sorry, ich hab grade telefoniert«, entschuldigte sie sich.

»Dann können wir ja loslegen«, sagte Meininger. »Wie ihr vermutlich alle schon mitbekommen habt: Aus dem Orkus kommt das Wasser hoch. Aber nicht nur hier. Auch in Altenberg, Katernberg, Kray, Huttrop und Steele und jetzt auch noch eine Meldung aus Heisingen. Überall das Gleiche. Das Telefon in der Zentrale steht nicht mehr still.«

Meininger trank einen Schluck Kaffee und verzog angewidert das Gesicht.

Manni schob die Zuckerdose in sein Blickfeld.

»Danke. Wer weiß, was da noch alles kommt«, fuhr Meininger düster fort, während er Zucker in seinen Kaffee schaufelte. »Aber ist doch merkwürdig, dass das jetzt überall gleichzeitig passiert. Hat es so was schon mal gegeben?« Er warf einen auffordernden Blick in die Runde.

»So flächendeckend? Nicht, solange ich hier bin«, sagte Manni mit gerunzelter Stirn. Und das wollte was heißen, denn er war der Dienstälteste in der Runde. »Das Schlimmste war 2008 im Essener Süden, da haben wir gestern grad noch drüber geredet. Klar gab es schon mal ’ne Verstopfung. Aber nicht so gleichmäßig quer durch sämtliche Stadtteile. So was kann nicht durch eine einzige Stauung verursacht werden. Ich würde mal sagen, die Kanalisation ist einfach randvoll.«

»Hab ich’s nicht gesagt?«, tönte Kollege Kalle. »Hab ich’s nicht gesagt? Seit Jahren predige ich wie eine Gebetsmühle, dass das mal passieren wird. Aber auf mich wollte ja keiner hören. Jetzt haben wir den Salat!«

»Jaja«, versuchte Meininger ihn zu besänftigen. »Du hast ja recht.«

Aber Kalle war nicht zu bremsen. »Dauerregen«, schnaubte er. »Wenn nix mehr reinpasst, muss es irgendwann oben wieder rauskommen. So einfach ist das.«

»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.« Meininger ging zu dem großen Plan, der hinter seinem Schreibtisch an der Wand hing. »Jetzt mal systematisch: Bei den ganzen Ausleitungen in die Flüsse tippe ich trotzdem auf ein paar Blockaden, die für den Rückstau sorgen. Die müssen wir lokalisieren. Tina hilft unten in der Zentrale aus. Sie hat mir eben eine Mail geschickt, in der sie die bisher eingegangenen Meldungen zusammengefasst hat. Demnach ist der Mist überall hier hochgekommen.«

Mit gerunzelter Stirn studierte Meininger abwechselnd den Ausdruck in seiner Hand und den Plan an der Wand und markierte die Stellen mit roten Pinnwandsteckern. Schließlich war er fertig und trat einen Schritt zurück.

»Ich schicke die Mail von Tina rum. Für den Anfang muss das reichen. Ihr teilt euch jetzt auf. Jeder knöpft sich ein paar Stadtteile vor. Geht die letzten Berichte durch, Kanalbegehungen, Fernsehüberwachungen, Störfälle, das ganze Programm. Ich will wissen, wo Pumpen ausgetauscht wurden und wo Reparaturen ausstehen. Beeilt euch. In zweieinhalb Stunden alle wieder hier, okay? Und dich brauche ich hier, Manni. Ich denke, in ungefähr einer Stunde. Ich sage dir noch Bescheid.«

* * *

War wohl doch keine so gute Idee gewesen, mit der Karre nach Essen zu fahren, dachte Idgie, als sie sich durch den dichten Verkehr die Gladbecker hinunter stadteinwärts kämpfte. Das war der Nachteil an einem Gespann. Man konnte sich nicht einfach so durchmogeln wie mit einem Motorrad ohne Beiwagen. Staus und zähfließendem Verkehr war man genauso ausgeliefert wie in der vierrädrigen Blechkiste. Außerdem regnete es in einem fort. Seit sie ins Ruhrgebiet eingetaucht war, war es nass. Viel nasser, als es die letzten zwei Tage im Münsterland gewesen war. Eigentlich kein Problem mit ihren Motorradklamotten, aber die Sicht war einfach beschissen, und das machte das Fahren äußerst anstrengend.

Vielleicht hätte sie doch besser den Zug nehmen sollen. Damit wäre sie jedoch bei Weitem nicht so flexibel gewesen. Außerdem hasste sie es, dicht auf dicht mit irgendwelchen unbekannten Personen eingepfercht zu sein. Nicht einfach abhauen zu können, womöglich die ganze Fahrt über vollgequatscht oder mit einer Vielzahl von Telefonaten behelligt zu werden, eines belangloser als das nächste. Unglaublich, wie die Tendenz zunahm, Gott und die Welt an Gesprächen teilhaben zu lassen, bei denen sich Banalitäten, Wichtigtuerei und die Nichtachtung jeglicher Intimsphäre die Hand reichten. Und einen Wagen hatte sie nun mal nicht. Außerdem war sie schon lange nicht mehr Auto gefahren, und die Vorstellung, ihre verschütteten Kenntnisse ausgerechnet mit einem Leihwagen bei einer Fahrt in eine Großstadt wie Essen wieder aufzupolieren, war ebenso abschreckend gewesen wie der Gedanke an eine Fahrt mit den Öffentlichen. Also Motorrad, Regen hin, Regen her.

Autobahn vermeiden hatte Idgie im Navi eingegeben, nicht Schnellste Strecke. Und so hatte sie sich gemächlich über kleine Landstraßen durch das südliche Münsterland bis ins Ruhrgebiet vorgearbeitet. Nun fuhr sie im Schneckentempo durch den Essener Norden und bestaunte die aneinandergereihte Ansammlung von Gewerbegebieten, Tankstellen und Gyrosbuden, Sonnenstudios und Spielhallen nicht zu vergessen.

Eine knappe halbe Stunde später rollte sie in die Weststadt ein und wurde zu einer würfelförmigen Konstruktion aus Stahl und viel Glas geleitet, die ziemlich neu aussah. Ziel erreicht. Ankunft, blinkte das Navi. Die Westlandhalle. Hier sollte am nächsten Tag die Energiekonferenz beginnen.

Das Viertel westlich der Essener City wirkte, als wäre es gerade erst aus dem Boden gestampft worden. Die Grünflächen waren frisch angelegt und deshalb ohne nennenswerten Busch- und Baumbestand, jedenfalls ohne alten. Eine Reihe junger, noch unbelaubter Bäume ragte wie Zahnstocher aus dem Boden und zeugte zumindest vom guten Willen, diese seltsame Einöde dauerhaft zu verschönern. Am Rande des Neubauviertels reckte sich ein Glaspalast markant über die Fronten hinaus. Auf seinem Kopf trug er ein Logo, weithin sichtbar und einem Wappen nicht unähnlich. NEdZ, war in leuchtend roten kursiv geschwungenen Buchstaben in ein ebenso leuchtendes smaragdgrünes Oval eingelassen – Neue Energie der Zukunft.

Die Höhle des Löwen, dachte Idgie, als sie auf das Gebäude zufuhr.

Je näher sie kam, desto höher wirkte es. Zwei runde Türme, wie siamesische Zwillinge aneinandergeheftet, strahlten um die Wette. Vor dem Haupteingang fand sich ein ebensolches Oval wie das, das den Kopf der Türme krönte. Es war in den Boden eingelassen, lauter fluoreszierende Lampen, die aneinandergefügt das Logo abbildeten: intensives Smaragd und darin, kühn geschwungen und knallrot, die Buchstaben, die die Energie der Zukunft versprachen. NEdZ. Eine Verheißung, die nach Einfluss, Geld und Macht roch.

Idgie rollte mit ihrer Ural auf dem Platz vor dem Zwilling aus und ließ den Blick entlang der Türme gen Himmel wandern. Augenblicklich schoss ein Mann aus dem Eingang des Gebäudes, der schwer nach Sicherheitsdienst aussah. Höflich, aber bestimmt forderte er Idgie auf, sich unverzüglich aus dem Eingangsbereich zu entfernen.

Für einen flüchtigen Moment überlegte Idgie, den Motor abzustellen und es einfach drauf ankommen zu lassen. Dann siegte die Vernunft. Lass stecken, dachte sie und drehte ab. In gebührendem Abstand gab sie das neue Ziel ein. Schatzreich. Lustiger Name für eine Straße. Der Name des Stadtteils wurde in Klammern angezeigt. Alt-Rellinghausen.

Das Navi leitete Idgie in Richtung Rüttenscheid, wo sie auf eine Straßensperre durch Polizei und rote Feuerwehrwagen stieß.

»Überflutung«, informierte sie einer der Uniformierten knapp. Sie müsse zurück zum Hauptbahnhof, wenn sie nach Rellinghausen wolle. Hier könne sie nicht durch.

Idgie wendete das Gespann und fuhr zurück. Auch hier war ziemlich viel Wasser auf den Straßen unterwegs, eine schmuddelig trübe bräunliche Brühe, die ihr an Karre und Beine spritzte. Am Hauptbahnhof setzte sie mit dem Navi erneut an, um über eine alternative Route nach Alt-Rellinghausen zu gelangen. Sie wurde über eine breite, von alten Bäumen gesäumte Straße zur Ruhr hinuntergeleitet. Ruhrallee. Wie passend. Selbst der Mittelstreifen war baumbestanden.

Schön, diese großen Bäume, dachte Idgie und wunderte sich, dass eine solche Straße in einer Großstadt wie Essen überhaupt zu finden war. Aber in Gegenrichtung schienen einige der Bäume umgekippt zu sein. Sie waren notdürftig auf die breiten Bürgersteige gezogen worden, und die Spuren der Fahrbahn waren verengt, um den Verkehr weiterhin vierspurig leiten zu können. Ein paar Männer waren dabei, einen der Stämme zu zerlegen. Eine Kettensäge fräste sich mit quälendem Kreischen durch das Holz. Offensichtlich wurden hier immer noch Spuren von Cassandra beseitigt, die in dieser Stadt schwer gewütet zu haben schien.

Auch hier stand Wasser auf der Straße, nicht richtig viel, aber flächendeckend. Woher es kam, war unklar, denn obwohl es jetzt nicht mehr regnete, floss es gleichmäßig die Straße hinunter. Kam es aus der Kanalisation?

Idgie schob sich vorsichtig voran. Erst als sie in Alt-Rellinghausen ankam, änderte sich das Bild. Die schmale Straße, die den Hügel hinaufführte, war trocken.

Das Navi signalisierte, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Etwas steifbeinig von der langen Fahrt stieg Idgie ab, löste den Helm vom Kopf und sah sich dann neugierig um.

Hübsch war es hier. Die Straße war gesäumt von alten, sehr homogen wirkenden kleinen Häuschen und lag an einem Waldrand. Eine Zechensiedlung, vermutete Idgie. Viel alter Baumbestand, musste im Sommer sehr grün sein. Die Häuser waren im Doppelpack aneinandergebaut, und die Durchgänge zwischen diesen Päckchen gaben den Blick frei auf die Rasenflächen lang gestreckter Gärten.

So wie hier hatte sich Idgie eine Großstadt im Ruhrgebiet nicht vorgestellt. Eher wie die Weststadt, keinesfalls so hutzelig, so klein und vor allem so grün. Für einen flüchtigen Moment bedauerte sie, Filou in der Obhut von Stella zurückgelassen zu haben. Sie hatte ihrem Hund weder diese lange Fahrt noch eine Großstadt zumuten wollen. Nun war sie überrascht.

Von wegen Großstadt. Die Siedlung hier hatte etwas verschlafen Provinzielles an sich. Eine Stadt voller Gegensätze, dachte Idgie. Hier, in dieser kleinen Siedlung am Waldrand, ließe es sich entgegen allen sorgsam gepflegten Vorurteilen sicher gut aushalten.

* * *

Als Manni in das Eckzimmer seines Chefs zurückkehrte, stand Meininger vor dem großen Stadtplan an der Wand, der um weitere Markierungsfähnchen bereichert worden war, denn immer mehr Meldungen waren im Laufe der letzten Stunde eingetroffen.

»Guck mal hier.« Meininger tippte mit seinem manikürten Zeigefinger auf den Plan. »In Steele scheint es besonders dicke zu sein. Zu allem Überfluss ist dort der Eickenscheidter Bach außer Rand und Band geraten.«

»Diese verdammten Köttelbecken. Die werden uns noch ewig und drei Tage verfolgen. Scheiß Bergbau …«, sagte Manni düster.

Etliche Versuche in früheren Zeiten, die Kanalisation unterirdisch zu legen, waren fehlgeschlagen, da diese regelmäßig durch Bergschäden, Bergsenkungen und Erdrutsche beschädigt bis zerstört worden war. Also hatte man in den vom Bergbau stark betroffenen Gebieten des Ruhrgebietes die Kanalisation oberirdisch gelegt und teilweise sogar natürliche Gewässer zu diesem Zweck in betonierte Rinnen verwandelt, um für einen reibungslosen Abfluss zu sorgen. Köttelbecken eben, oberirdische Kanäle für die Fäkalien der Region.

Meininger seufzte. »Das wird noch Jahrzehnte dauern, bis wir das alles wieder renaturiert haben. Aber gerade in Steele kannst du den Bergbau nicht allein dafür verantwortlich machen. Das war definitiv dieses Stadtsanierungsprojekt, das den Bächen den Rest gegeben hat. Zumindest habe ich das gelesen. Stimmt doch, oder?«

»Da hast du recht«, gab Manni zu. »Das war in den Siebzigern. Da haben sie wirklich die ganzen Bäche einfach unter die Erde gepackt, als sie den Stadtteil plattgemacht haben. Weil die gestört haben, das musst du dir mal reintun! Ich hab da neulich so einen Film drüber gesehen, wie das in Steele früher ausgesehen hat, bevor die da mit dem Dampfhammer drübergebügelt sind. Ein Jammer, echt, das kann einem die Tränen in die Augen treiben.«

»Wie dem auch sei. Der Eickenscheidter Bach nimmt unterhalb der Kleingärten nicht mehr den vorgeschriebenen Weg durch die unterirdische Kanalisation. Er fließt zurzeit über den Holbecks Hof runter auf die Steeler Straße.« Meininger tippte energisch mit dem Finger auf den Punkt im Stadtplan. »Dort muss definitiv irgendwo mächtig was verstopft sein, sonst würde der Bach nicht so drüberschießen. Das muss sich jemand mal ansehen.«

»Klar müssen wir das. Aber erst mal müssen wir abpumpen, was das Zeug hält«, brummte Manni. »Solange so viel Wasser da unten ist, können wir eh nichts ausrichten. So können wir keine Kameras runterschicken.«

»Zumindest scheint das nördliche Kanalnetz nicht ganz so heftig betroffen zu sein. Dabei ist die Emscher ebenfalls voll bis zum Anschlag. Ist doch komisch.«

»Wieso soll das komisch sein? Zurzeit werden doch wegen dem Hochwasser mal wieder die Talsperren der Ruhr abgelassen.«

»Weiß ich«, sagte Meininger. »Aber im Norden ist der Grundwasserspiegel wegen dem Bergbau angehoben. Da gibt es doch auch schon mal Probleme. Auf jeden Fall müssen wir uns die Sache ansehen.«

»Ja«, stimmte Manni zu. »Sobald es geht. Im Moment geht es nicht. Erst muss das Wasser wieder weg sein. Alles andere ist –« Er brach abrupt ab, drehte Meininger den Rücken zu und starrte aus dem Fenster.

Betretenes Schweigen machte sich im Raum breit.

Schließlich räusperte Meininger sich verlegen. »Du warst damals selbst mit unten, oder?«

Manni atmete tief ein, hielt für einen kurzen Augenblick die Luft an und ließ sie stoßartig wieder ab. Es kam einem Seufzer gleich. »Ich hatte Glück. Bernd nicht. Ich konnte ihm nicht helfen.«

»Wie ist das eigentlich passiert? Habt ihr denn den Wetterbericht damals nicht …?«, fragte Meininger schüchtern. Bislang hatte er nicht gewagt, Manni darauf anzusprechen.

»Natürlich hatten wir den gehört.« Manni drehte sich ruckartig wieder um, aggressiv wie ein Stier, der zum Angriff übergeht. »Machen wir nämlich immer, bevor wir runtergehen. Sogar damals schon, dazu haben wir keine Klugscheißer von der Uni gebraucht! Aber die hatten das nicht angekündigt, es gab oben noch keine Sicherheitsposten, und die Kanalabschnitte wurden damals auch nicht so schön trockengelegt, bevor man runter ist. Du hast ja echt keine Ahnung, wie das vor zwanzig Jahren war. Heute ist alles klar geregelt, sogar Atemschutzmasken haben wir da unten, falls mal so ’ne Gaswolke von weiß der Teufel woher kommt. Damals … andere Zeiten, andere Sicherheitsvorschriften. Basta.« Er schüttelte sich und atmete tief durch. »Entschuldige. Du kannst ja nun wirklich nichts dafür.«

»Ist schon gut«, sagte Meininger kleinlaut. »Tut mir leid, dass ich das überhaupt angesprochen habe.«

»Der Wind hatte ganz plötzlich gedreht und die Regenfront quer über Essen getrieben.« Mannis Stimme wurde tonlos, während er in die unschöne Erinnerung abtauchte. »So’n richtig fetter Starkregen. Auf der A 40 ging zwanzig Minuten lang gar nichts mehr. Das habe ich hinterher gehört. Die sind mit ihren Autos einfach mitten auf der Fahrbahn stehen geblieben, so schlimm war das. Und das kam dann mit einer Irrsinnsgeschwindigkeit durch die Kanalisation geschossen. Ich hab’s gehört, das Wasser, wie es angerauscht kam. Ich hab’s gehört und nach der Leiter über mir gegriffen … konnte mich gerade noch rechtzeitig hochziehen.« Manni verstummte.

»Du konntest nichts dafür«, sagte Meininger beschwichtigend.

»Das werd ich mein Leben lang nicht mehr los. Ich hab doch gewusst, dass der Bernd da vor mir auf der Strecke ist … ich hab das Wasser gehört und … mir hätt’s selbst fast die Füße weggezerrt, das hatte eine irre Kraft, das Wasser, da machst du dir echt keine Vorstellung! Ich hab gewusst, dass der das nicht überlebt, der Bernd. Ich wusste doch, wo der hingedrückt wird – direkt vor das T-Stück … und ich, ich hab nur daran gedacht, mich weiter hochzuziehen.« Manni sah Meininger an. In seinen Augen glitzerte es feucht. »Nachdem das passiert war, haben wir mit den Sicherheitsposten in anderen Stadtteilen angefangen, wenn jemand irgendwo runter ist, auch ohne gesetzliche Vorschrift. Die kam erst später. Für Bernd war das leider zu spät.«

»Aber für viele andere Kollegen nicht.«

»Da hast du recht.« Manni atmete tief durch.

Als das Telefon klingelte und der Pförtner den erwarteten Besuch anmeldete, hatte Manni sich wieder gefasst.

* * *

Mist, dachte Nora. Dann dachte sie nichts mehr. Ihr Körper vollzog eine Reihe von reflexartigen Bewegungen, an die sie sich später nur noch vage erinnern konnte. Das Nächste, was sie wieder bewusst wahrnahm, war, dass sie über die Straße schlidderte und auf dem Bauch liegen blieb. Sie hörte es scheppern, und etwas Hartes prallte ihr in die Seite. Das Fahrrad? Dann hörte sie das Quietschen von Bremsen und warf die Arme schützend über ihren Kopf.

Eine Autotür schlug.

»Um Himmels willen … sind Sie verletzt?«

Jemand zog das Fahrrad von ihr herunter, und Nora drehte sich vorsichtig erst auf die Seite, dann in die sitzende Position.

»Ich glaub nicht …« Sie bewegte erst das linke, dann das rechte Bein.

»Aber Sie bluten …«

Nora sah an sich hinunter. Sie hatte sich die linke Hand vom Ballen bis über den Puls hinweg aufgerissen. Ein Reflex ließ sie die Hand zum Mund führen und das Blut aufsaugen. Es schmeckte eklig.

Auch an der linken Wade blutete es aus einem tiefen Riss, der vom Gestänge ihres Schutzbleches herrühren musste, an dem die Kappe fehlte. Die Wunden begannen nun zu schmerzen, und sie wischte sich mehrfach verwirrt mit der Hand über den Mund, weil sie das Gefühl nicht loswurde, dass dort ein paar Spritzer feuchten Schlammes klebten. Dann merkte sie, dass sie sich auch den Handballen der rechten Hand aufgerissen hatte, und begann zu weinen.

»Soll ich einen Rettungswagen rufen?«, fragte ihr Helfer besorgt. Ein älterer Herr in Hemd und Schlips, der so aussah, als würde er gerade von der Arbeit kommen.

»Nein, ist nicht so schlimm, ist nur aufgerissen.« Nora wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. Sie drehte sich auf die Knie und stemmte sich von der Straße hoch. »Geht schon, wirklich, nichts gebrochen.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich will nach Hause«, sagte sie kläglich.

»Aber das muss versorgt werden. Ich bringe Sie ins Krupp-Krankenhaus.«

»Nicht nötig«, schniefte Nora. »Die Freundin meines Vaters ist Ärztin. Sie ist jetzt bestimmt schon da.«

»Dann bringe ich Sie wenigstens heim. Das Rad passt hinten ins Auto.«

Flüchtig überlegte Nora, ob sie wirklich zu einem fremden Mann ins Auto steigen sollte. Normalerweise würde sie so etwas nicht tun. Aber normal war hier gerade nichts, und der Mann sah vertrauenerweckend, freundlich und sehr besorgt aus.

»Nicht doch lieber ins Krankenhaus?«, fragte er erneut.

»Nach Hause«, entschied Nora mit piepsiger Stimme.

* * *

»Ich komme runter.« Meininger reckte sich um ein paar Zentimeter und rückte seine Krawatte gerade. Eine symbolische Geste. Er eilte aus dem Zimmer.

Manni hatte im Laufe seiner Dienstjahre nur zu genau beobachten können, dass es immer eine kleine Prestigefrage war, wer bei welchen Anlässen zu wem zu kommen hatte. Diesmal war die Entscheidung offensichtlich zugunsten der Stadtwerke gefallen.

Dabei war die Sachlage selbst doch eigentlich völlig klar, dachte Manni. Nichts, worüber man großartig reden musste. War die Kacke erst mal am Dampfen, musste gehandelt werden, was Gesundheitsamt und Wasserverwertung auf den Plan brachten. Normalerweise würden ein paar Scheißhausbakterien mehr im Essener Grundwasser nicht ausreichen, die führenden Köpfe der Essener Wasseraufbereitungskette aus ihren Büros zu locken. Ein paar erfahrene Ingenieure wären durchaus in der Lage gewesen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und eine solche Situation in den Griff zu kriegen. Denn das Problem konnte man ohnehin nur bei der Trinkwasseraufbereitung lösen. Das ablaufende Kanalwasser gelangte nun mal unweigerlich ins Grundwasser, in Flüsse, Seen und Bäche, ohne dabei den vorgeschriebenen Weg über die Klärwerke zu nehmen. Niemand konnte gegen dieses Naturgesetz an. Also ein bisschen mehr Aktivkohlepulver und kräftiges Nachchloren zur Desinfektion, ein paar verschärfte Analysen – mehr konnte man nicht machen.

Trotzdem war die Lage wesentlich ernster als sonst. Manni betrachtete den großen Plan an der Wand, auf dem unzählig viele Fähnchen die zahlreichen Austrittsstellen markierten. Erstmalig war das Problem mit den unerwünschten menschlichen Auswürfen so flächendeckend, so großräumig aufgetreten. So was hatte er in seinen dreißig Dienstjahren noch nicht erlebt, und aus diesem Grund war vermutlich auch das große Besteck im Anmarsch. Das Gesundheitsamt wäre in jedem Fall mit von der Partie gewesen. Früher, überlegte Manni, hatten die zu einem solchen Anlass aber immer auf einer Besprechung in ihren Räumen bestanden. Aber »die Neue«, wie Meininger sie nannte, hatte sich erstaunlich schnell bereit erklärt, ihren Amtssitz für die anstehende Besprechung zu verlassen.

Dabei war »die Neue« vermutlich aus ganz anderen Gründen so schnell bereit gewesen hierherzukommen. Dieser Gedanke holte Manni endgültig aus der düsteren Stimmung, die sich durch die Erinnerung an den Tod seines Kollegen Bernd in ihm eingenistet hatte, und zauberte ein selbstgefälliges Grinsen in sein Gesicht. Er dachte an die letzte Nacht und strich sich vom Nacken her über den Schädel, was ihm einen wohligen Schauder über den Rücken trieb. Wie viele Nächte lief das jetzt schon?

Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen und riss ihn aus den angenehmen Gedanken.

»Herr Dr. Zohns, bitte, kommen Sie herein. Wie schön, dass ich Sie hier in meinem Büro begrüßen darf«, sülzte Meininger und wieselte in den Raum.

Manni hätte am liebsten schallend gelacht, als er das hörte. »Hallo Dr. Zohns.« Er reichte dem Geschäftsführer der Essener Wasser-Verwertungs-AG die Hand. »Hi Karl«, begrüßte er dann den Ingenieur, den Dr. Zohns im Schlepptau hatte.

Kurz darauf traf Konrad Steiger ein, Geschäftsführer der Emscher-Aufbereitungs-Gesellschaft.

»Konrad! So ganz allein? Bei der wichtigen Situation?«, fragte Zohns nervös, leichte Missbilligung in der Stimme.

»Aber Harald«, sagte Steiger gelassen. »Du weißt doch, ich habe mein Geschäft von der Pike auf gelernt und kenne es gut genug, um ohne fachliche Unterstützung klarzukommen.«

Ein hübscher Konter direkt unter die Gürtellinie, dachte Manni und unterdrückte einen Lachreiz. Steiger gefiel ihm. Bodenständig, das war er. Einer, der im Notfall kräftig mitanpacken konnte, ohne gleich an Bluthochdruck zu krepieren so wie Zohns.

»Wo ist sie denn nun, unsere Frau Doktor?«, lenkte Zohns mit einem Blick auf die Fliegeruhr an seinem Handgelenk ab. »Frauen!« Er schnalzte mit der Zunge. »Typisch. Immer lassen sie einen warten.«

»Das kann doch jedem mal passieren.« Manni ärgerte sich über den süffisanten Ton und sprang augenblicklich in die Bresche. »Ich kenne Dr. van Haag recht gut, und bisher, also, sie wohnt bei mir nebenan, und sie ist wirklich zuverlässig … Wie wär’s mit Kaffee?«

Als Ruth eine Viertelstunde später endlich angemeldet wurde, ließ Manni es sich nicht nehmen, sie persönlich abzuholen. Im Fahrstuhl zog er sie an sich. »Manni Neumann, Stadtwerke Essen, angenehm«, murmelte er und küsste weiter. »Ich hab schon erzählt, dass wir Nachbarn sind. Die haben ganz schön Augen gemacht.«

»Nachbarn?« Ruths Stimme klang vielsagend.

»Ist doch nicht gelogen. Oder hätte ich ihnen gleich alles auf die Nase binden sollen?« Mit beiden Händen umfasste Manni ihre Pobacken, die sich verführerisch unter der schlichten Jeans wölbten, und presste sie fest an sich. Er hörte ihr leises Keuchen, und augenblicklich begann sein Blut zu rauschen. Dann zeigte das helle Klingeln an, dass der Fahrstuhl sein Ziel erreicht hatte, und die Aufzugtür öffnete sich mit leisem Zischen.

»Auf jeden Fall wissen die nachher gleich, warum wir uns duzen. Übrigens, nur so als Vorwarnung: Die sind sich nicht so ganz grün. Zwei Alphatierchen, die beiden Herren von und zu Wasser. Oder auch Ab- und Trinkwasser«, prustete er.

»Gut zu wissen. Also dann: auf in den Kampf.« Ruth zupfte sich in Form und folgte Manni den Flur hinunter.

Capo, Alphatierchen … Ruth bemühte sich, ein neutrales Gesicht beizubehalten. Das hier waren wirkliche Prachtexemplare, wie sie im Laufe der letzten halben Stunde hatte feststellen können. Aber du, mein lieber Manni, passt da eigentlich hervorragend mit in die Runde, finde ich. Nur dass du es als Antihaltung vorträgst.

Immerhin – sie war jetzt gut informiert, was den Wasserhaushalt betraf und das Zusammenspiel zwischen Abwasser, Klärwerken und Trinkwasser der Stadt Essen. Mit diesem Thema hatte sie sich bislang noch nicht intensiv auseinandergesetzt. Sie wusste nun, dass sich zwei Gesellschaften seit geraumer Zeit die Herrschaft über die Klärung der Abwässer teilten. Letztendlich orientierte sich die Aufteilung dieser Pfründe an den Flüssen des Ruhrgebiets, der südlich verlaufenden Ruhr und der nördlich verlaufenden Emscher, wobei nur die Ruhr den Ballungsraum Essen mit Trinkwasser versorgte.

All diese Informationen waren vor Ruth wechselweise bereitwillig referiert worden, teils in Form blumig wortreicher Ausschweifungen von Dr. Zohns, teils in sachlich knapper und sehr präziser Art von Konrad Steiger. Dann trug Meininger Wissenswertes zum Essener Abwassernetz bei, um schließlich auf die aktuelle Situation einzugehen.

Die spannende Frage nun am Ende dieses Exkurses war, wie viele Sonderprüfungen das Gesundheitsamt veranlassen würde und über welche Zeitspanne hinweg. Und noch viel spannender war die Frage, wer diese Analysen durchführen sollte. Die verantwortlichen Gesellschaften oder das Gesundheitsamt? Im Klartext: Wie viel von den Kosten würde davon an wem hängen bleiben?

»Bei einem so flächendeckenden Austritt von Fäkalien? Ich würde mal sagen, die Wasserwerke zweimal täglich, und wir kontrollieren zusätzlich ebenso häufig«, war Ruths klare Ansage zu diesem Thema. Dabei musterte sie die Herren streng über den Rand ihrer Hornbrille hinweg. »Die Betonung dabei liegt auf ›zusätzlich‹, und das Ganze so lange, bis kein Anlass mehr zur Besorgnis besteht.«

Sie registrierte die Blicke, die Zohns und Steiger miteinander tauschten. Sie zeugten von Überraschung, Besorgnis und leisem Unverständnis, und Ruth sah die Rechenmaschinchen in den Köpfen rotieren. Hatte sie etwa zu hoch gegriffen?

Sie stand auf, trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. Vielleicht. Aber das Gefahrenpotenzial war eindeutig da. Es schwamm dort unten auf der Straße. Natürlich sorgte das Regenwasser für eine gehörige Verdünnung. Aber angesichts des immer noch heftig grassierenden Norovirus erschien ihr die kostenintensive Maßnahme durchaus gerechtfertigt, und auch einer möglichen Verbreitung von Kolibakterien wollte sie keinen Vorschub geben. Sie hatte durchaus den Eindruck, dass ihre Gesprächspartner zur Bagatellisierung neigten und die Lage unterschätzten. Einige wenigstens.

»Liebe geschätzte Frau Doktor …«, hörte sie es hinter sich tönen. Ruth erkannte die Stimme von Dr. Zohns, die zu einem leichten Falsett neigte.

»Sie sind vermutlich auch durch den Hintereingang gekommen?«, unterbrach sie ihn und wendete sich wieder der Tischrunde zu. »Vom Parkplatz aus? Der liegt etwas erhöht. Werfen Sie von hier oben bitte noch mal einen Blick auf die Straße, bevor Sie gehen. So sieht es im Augenblick in vielen Stadtteilen aus. Dort unten schwimmt die Scheiße, meine Herren. Und weder Kolibakterien im Trinkwasser noch diese Noroviren, die sich hier im Moment zuhauf herumtreiben, sind witzig, von einem soliden Nährboden für Hepatitis mal ganz abgesehen. Wir werden hier absolut auf Nummer sicher gehen. Darüber lasse ich nicht mit mir diskutieren.«

* * *

Die Rüttenscheider Straße bot tatsächlich einen desolaten Anblick. Auf der ansonsten so munteren Einkaufsmeile herrschte gähnende Leere. Teile der Straße standen noch unter Wasser, und dort, wo es sich bereits mühsam in die überfüllte Kanalisation zurückgezogen hatte, war ein schlieriger Matsch zurückgeblieben.

Wo auch immer ein mutiger Autofahrer die Tür seines Wagens zu öffnen wagte, kam ihm ein Schwall dunkler Suppe entgegengeschossen, und die Betreiber von Szenerestaurants und Edelboutiquen auf der Meile blickten mit steinerner Miene auf die üble Brühe, die auf den Fußböden ihrer Läden zurückgeblieben war. Die Ersten hatten sich mit ebenso resigniertem wie todesmutigem Habitus mit Eimern, Schaufeln und Lappen darangemacht, das Desaster aus den Ladenlokalen wieder hinaus auf die Straße zu befördern, andere versuchten immer noch, telefonisch Beschwerde einzureichen und auf schnellere Abarbeitung ihres prekären Problems durch die Behörden zu insistieren. Die Charaktere waren eben unterschiedlicher Natur.

Inzwischen bahnten sich Fahrzeuge der Stadtwerke ihren Weg von Kanalloch zu Kanalloch und versuchten, den Schlamm dort abzupumpen, wo das Wasser am stärksten nach oben gedrängt war. Vermehrt schallten jetzt auch die Martinshörner der Feuerwehr durch die Straßenschluchten.

Aber wo anfangen, wenn die Kanalisation immer noch voll war bis zum Kragen und es aus dem Orkus gurgelte, als triebe ein bösartiger Wassergeist dort unten seinen Schabernack und würde nur darauf lauern, den Strom erneut ans Tageslicht schießen zu lassen?

Und dennoch: Knappe vier Stunden nach dem ersten Ausbruch schien sich das Wasser allmählich wieder dorthin zu verziehen, wo es hergekommen war, zumindest hier in Rüttenscheid.

Zurück blieb eine riesige, stinkende Sauerei.

* * *

Frisch verarztet und nach Duschgel duftend saß Nora an Mannis Küchentisch und redete wie ein Wasserfall.

»Ich hab mich einfach langgelegt«, erzählte sie zum wiederholten Mal. »Oben in Steele, die Steeler runter Richtung Stadt, da beim Holbecks Hof. Da war alles voller Matsch … wo ist eigentlich Paps, ist der etwa immer noch auf der Arbeit? Um die Zeit? … also, ich hab mich da echt voll reingelegt … diese blöden Schienen, ich hab die einfach nicht gesehen unter dem Matsch, da ging plötzlich gar nichts mehr, null Chance, echt … wann bist du eigentlich gekommen, Idgie, schön, dass du da bist … hast du Paps überhaupt schon kennengelernt? Wo steckt der denn, muss der etwa schon wieder Überstunden schieben? … ach, stimmt ja, ihr kennt euch ja noch gar nicht, also das hier ist Ruth, Paps Freundin, die ist Ärztin und wohnt gegenüber, also, gegenüber ist eigentlich nicht richtig, hinten durch die Gärten, Po an Po sozusagen … ich glaub, mein Rad ist ziemlich hin, so ein Mist … und das da ist Idgie, die Geliebte von Jans … ja echt, die hatten ganz lang eine …«

»Ich gebe dir noch eine Tetanusspritze, ist sicherer.« Ruth zog eine Spritze auf. »Und morgen früh gucke ich mir das noch mal an, bevor ich zur Arbeit fahre. Wenn sich da was entzünden sollte, müssen wir sofort mit Antibiotika dran.«

»… voll in die Schienen rein, nix mehr zu machen … Ich wollte über die Dinnendahl runter an die Ruhr und dann nach Hause. Voll krass, überall Wasser, und dann die Schienen, da hatte ich echt keine Chance … ganz schön Schwein hab ich gehabt, dass da nicht noch einer in mich reingefahren ist, ich meine, ich lag doch da mitten auf der Straße, also, da hätte ja wer weiß was passieren können …«, plapperte Nora weiter, während Ruth ihr den Ärmel des T-Shirts hochschob und am Oberarm die Spritze ansetzte.

»Mach mal Tee«, wies sie Jan an. »Nicht zu stark, aber sie braucht jetzt was Heißes. Und neulich gab es doch so einen Schnaps nach dem Essen, ein kleines Glas davon wär gut.«

»Schnaps?« Nora verzog das Gesicht. »Nee, bloß nicht.«

»Nur ein kleiner Schluck«, bestimmte Ruth. Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu.

»Der Typ da eben war echt total nett«, brabbelte Nora scheinbar zusammenhanglos weiter. »Der hat sich mehr erschreckt als ich, glaub ich. Also, das ist doch gar nicht so selbstverständlich, dass da einer anhält und einen dann auch noch nach Hause bringt. Ich hab ihm bestimmt den ganzen Sitz vollgeblutet und dann das Rad … ganz schön praktisch, so ein Berlingo, da geht das sogar aufrecht rein, so einen sollte sich Mama mal zulegen … dann muss die das Rad nicht immer aufs Dach hieven … also, das war doch echt voll nett, wie der mir da geholfen hat, der hat mir sogar ’ne Flasche Wasser gegeben, ist doch voll nett, so was, bei den ganzen Asis, die hier immer so rumrennen, da … keine Ahnung, wie das … die Räder, die sind einfach irgendwie weggeflutscht, und plötzlich, schwupp, lag ich da wie ein Käfer auf dem Rücken … das war echt …«

»Ich kümmere mich um den Tee«, erbot sich Idgie, die bis dahin schweigend am Tisch gesessen hatte. »Such du nach einer Wärmflasche, Jan, du kennst dich doch aus hier. Das wäre nicht verkehrt, oder?« Diese Frage richtete Idgie an Ruth.

Die nickte. »Wärmflasche ist gut.«

»Aber es ist doch gar nicht richtig kalt«, protestierte Nora. »Viel zu warm für April, echt. Ich will keine Wärmflasche.«

»Sie zittert am ganzen Körper.«

»Das ist der Schock.« Ruth legte Zeige- und Mittelfinger auf den Puls der rechten Hand und zählte leise. »Neunzig zu sechzig«, sagte sie nüchtern. »Viel Zucker in den Tee bitte. Dann packen wir sie ins Bett, und sie schläft erst mal eine Runde.«

»Hallo? Hier bin ich! Hört gefälligst auf, in der dritten Person über mich zu reden, als wäre ich plemplem. Ich geh doch nicht um sieben ins Bett, also hallo, das geht ja gar nicht!«, beschwerte sich Nora. »Wo bleibt Paps eigentlich? Hoffentlich ist er nicht sauer wegen dem Rad, das hat er mir erst zu Weihnachten geschenkt … aber ich konnte da echt nichts dafür … schien irgendwie von oben aus den Kleingärten zu kommen … weiß denn wirklich niemand, wo Paps steckt … vielleicht könnte ihn ja mal jemand auf dem Handy …«