KAPITEL 11

Essen, 8. April

Starke Bauchschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Temperatur über vierzig Grad Celsius … Ruths Gedanken rotierten, während sie auf die Atemzüge neben sich lauschte, die endlich tief und ruhig geworden waren, ein Hinweis darauf, dass Manni nun doch eingeschlafen war.

Die Bilder des Abends huschten in ungeordneten Sequenzen durch Ruths Kopf. Das Blut, das Nora auf den Fußboden gespuckt hatte, war frisch und rot … innere Blutungen vom Sturz? Der Flur im Klinikum, wo sie mit Manni gesessen und gewartet hatte … ein gehetzt wirkender Arzt mit einem Gesicht, grau vor Erschöpfung. Er wisse nicht genau … Jan, der unruhig den Gang hinauf- und hinuntertigerte, hin und her … auf jeden Fall nicht ganz typisch bei einer Magen-Darm-Grippe … ob sie im Ausland gewesen sei in letzter Zeit … Ebola vielleicht oder Cholera … oder eine Abart des Norovirus … Manni, nicht minder grau im Gesicht …

Die ersten Untersuchungen hatten nichts ergeben. Natürlich war sie sofort auf Gehirnerschütterung oder Schlimmeres hin untersucht worden, schließlich war Nora ziemlich heftig gestürzt. Und natürlich hatten sie in der Nacht auch gleich noch eine Magen- und eine Darmspiegelung durchgeführt, aber es war nichts Konkretes gefunden worden. Nichts, was diese Blutungen erklärt hätte. Auf jeden Fall keine normale Grippe, zumindest hatte sie so was noch nie dabei erlebt. Es erinnerte eher an eine Cholera – aber doch nicht hier, und schon gar nicht um diese Jahreszeit –, an Morbus Crohn oder ein geplatztes Magengeschwür. Oder an Noro, aggressiv und schnell mutierend … das Virus musste zwangsläufig noch in der Kanalisation hausen, nachdem es hier so gewütet hatte. Und Nora war mit dem Abwasserschlamm auf der Straße in Berührung gekommen. Der Schlamm konnte aber auch noch alle möglichen anderen Bakterien und Viren enthalten. Hochinfektiös, das war der auf jeden Fall. Aber auf die Blutanalysen mussten sie noch warten.

Ruth fühlte sich beschissen. Warum hatte sie das Mädchen bloß nicht sofort nach dem Unfall in die Klinik gebracht?, fragte sie sich selbstquälerisch. Aber es hatte doch gar nicht so gefährlich ausgesehen. Ein paar Schürfwunden, ja, aber doch nicht richtig arg. Hatte Nora innere Verletzungen bei dem Sturz davongetragen? Und zusätzlich ein Virus? Warum hatte sie bloß noch eine Weile in der Küche gesessen und mit den anderen die Ergebnisse des Tages besprochen, anstatt sofort zu Nora hinaufzugehen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte?

Sie rieb sich die müden Augen, fuhr sich durchs Gesicht und lauschte den Atemzügen neben sich. Er hatte geweint, als sie die Tür des Zimmers leise hinter sich zugemacht hatten, das Zimmer, in dem Nora lag, klein und zart und weiß wie das Laken des Bettes. Manni hatte nicht gehen wollen, aber die Stationsärztin hatte darauf bestanden. Denn Nora schlief, und genau das würde ihr am besten helfen. Der Schlaf.

Der Anblick von Nora war schlimm genug gewesen. Aber es war dieses Weinen, das Ruth dann richtig fertiggemacht hatte. Dass dieser Koloss von Mann mit dem kahlen Schädel und dem wilden Drachentattoo auf dem Rücken völlig in sich zusammengesackt war und geflennt hatte wie ein kleiner Junge, das war ihr schwer an die Nieren gegangen. Er hatte sie angesehen wie ein angefahrenes Tier, das nicht versteht, was mit ihm passiert, und sie gebeten, ihn jetzt nicht allein zu lassen. Beschimpfungen, Verfluchen, Wegstoßen, all das hätte sie besser ertragen können als dieses stumme Flehen in seinen Augen.

Ich bin unfähig, dachte Ruth wütend. Ich habe sie nach dem Sturz untersucht. Ich war heute früh noch bei ihr. Ich hätte doch was merken müssen. An innere Blutungen denken, an Noro und Co und all die schönen Abarten von Viren und Bakterien, wie sie in Abwässern zuhauf vertreten sind. Ich hätte darauf bestehen müssen, sie gleich ins Krankenhaus zu schaffen. Ich hab das völlig unterschätzt.

Aber genau das war der springende Punkt. An die Abwässer hatte sie nicht gedacht – und bei Noras wirrem Geplapper nach dem Unfall hatte sie überhaupt nicht geschaltet. Im Gegenteil. Sie hatte abgeschaltet, anstatt hinzuhören.

Der Kater sprang auf ihren Bauch. Ruth drückte ihn an sich und lauschte dem beruhigenden Schnurren des Tieres. Ach Schimmi, dachte Ruth gerührt, als sie die raue Zunge des Katers an ihrer Wange spürte.

* * *

Ein schriller Klingelton zerriss die frühmorgendliche Stille und zerrte sie aus einem unruhigen Schlaf. Nora, zuckte es durch ihren Kopf. Es ist was mit Nora. Neben ihr schoss Manni in die Höhe und starrte sie mir weit aufgerissenen Augen an.

»Dein Handy«, flüstere sie heiser. »Soll ich drangehen?«

»Das ist nicht meins«, würgte Manni heraus.

»Meins ist es aber auch nicht«, sagte Ruth, verwirrt und erleichtert gleichzeitig. Denn wenn es nicht Mannis Handy war, dann war es auch nicht das Krankenhaus.

Der Klingelton schrillte weiter und legte damit eine bösartige Beharrlichkeit an den Tag.

Manni, dessen schlafumnebeltes Denkzentrum langsam wieder zu funktionieren begann, gab ihr einen leichten Stoß in die Rippen. »Das kommt aus deiner Tasche«, stellte er fest. »Hör doch mal!« Er angelte nach dem kleinen Lederrucksack auf dem Boden vor dem Schrank und reichte ihn Ruth.

Es war ihr Diensthandy.

Viereinhalb Stunden nachdem ihr Diensthandy sie geweckt hatte, saß Ruth im zehnten Stock des Essener Rathauses im kleinen Konferenzraum 3 und wartete ungeduldig darauf, dass man sie endlich loslegen ließ.

An dem ovalen Tisch schien fast alles versammelt zu sein, was Rang und Namen hatte bei der Stadt und auch nur annähernd involviert war in ein Thema wie dieses. Mit von der Partie war auch ihr eigener Dienstherr, Dr. Hubert Grothe, Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Essen.

Zuletzt rauschte ein Mann in den Raum hinein, der deutlich jünger war als die Übrigen und dennoch nach viel Wind aussah, noch wichtiger als der Rest der Runde. Der persönliche Referent des Oberbürgermeisters, flüsterte ihr Grothe zu, und damit der Leiter der so kurzfristig einberufenen Krisensitzung. Der Oberbürgermeister selbst war nicht anwesend.

Grothe wartete, bis auch der Windmacher sich mit einem Kaffee versorgt hatte. Dann ließ er mit dem Löffel das Porzellan seiner Tasse erklingen. Bing, bing, bing. Das Gemurmel verstummte, und man blickte erwartungsvoll in ihre Richtung.

Ruth war nervös, nicht nur angesichts der um sie herum versammelten Größen der Stadt. Sie hatte viel zu tun. Eigentlich viel Wichtigeres, als hier in dieser Runde einen Vortrag über etwas zu halten, dessen Ausmaße sie selbst noch nicht beurteilen konnte. Es war eher eine Vorahnung, dass hier etwas sehr Ungutes auf sie zuwalzte, etwas, das bedrohlich war, gefährlich für die Menschen in dieser Stadt. Die Zeit lief. Sie spürte es instinktiv. Aber es half nichts. Die vorgeschriebenen Wege mussten nun mal eingehalten werden.

»Heute früh habe ich einen Anruf vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz bekommen«, setzte sie an. »Das LANUV seinerseits wurde vorher vom Bund informiert.«

Ruth machte eine Pause. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und unweigerlich fragte sie sich, ob sie vielleicht den Fauxpas begangen hatte, nach der Bluse mit dem Fleck zu greifen, der sich nicht mehr herauswaschen ließ.

Grothe nickte ihr aufmunternd zu.

»Am Schuir im Essener Süden befindet sich eine ODL-Station, also eine der bundesweit aufgestellten Sonden, die in kontinuierlichen Abständen die Ortsdosisleistung messen, also von …«

Ruth bemerkte die Unruhe um sich herum, die von Ungeduld zeugte. Kurz fassen, dachte sie nervös. Nicht erklären. Auf den Punkt bringen.

»Ich will es kurz machen, meine Herren: Seit gestern früh sind kontinuierlich erhöhte Messwerte von Radon am Schuir gemessen worden.« Sie schwieg, um den Gehalt ihrer Worte einwirken zu lassen.

Nichts passierte. War das jetzt doch zu knapp gewesen?

»Was heißt das genau?«, fragte der Leiter des Ordnungsamtes schließlich vorsichtig. »Können Sie das bitte mit einfachen Worten erklären, so für Laien?«

Für Laien? Na gut. Ruth fixierte ihn über den Rand ihrer Hornbrille hinweg. »Radon ist ein Edelgas. Dieses Gas ist in der Atmosphäre, in der Luft, einfach überall. Es ist radioaktiv. Die Grenzwerte sind in den letzten Tagen kontinuierlich überschritten worden.«

Radioaktiv. Das war das Zauberwort.

»Und da schlagen die erst jetzt Alarm?«

»Wann die Messergebnisse ernst genommen werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Wetterverhältnisse, Dauer und Höhe der Überschreitung der Ortsdosisleistung sowie umliegende Messungen sind auf jeden Fall Faktoren, die die Beurteilung der Situation beeinflussen.«

Der persönliche Referent des Oberbürgermeisters runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz, worauf sie hinauswollen.«

»Im Regelfall weiß das Bundesamt für Strahlenschutz schon, von wo und vor allem wodurch eine solche radioaktive Wolke entsteht«, sagte Ruth langsam. »Meistens weiß man bereits im Vorfeld, dass da was zu erwarten ist. Der Reaktorunfall von Fukushima beispielsweise hat zu einer Reihe von Fallouts geführt, die durch Wind und Regen nachweisbar in die ganze Welt getragen wurden und weit weg von Japan messbar waren, auch hier in Deutschland. Eine radioaktive Wolke dieser Art hat es in letzter Zeit nicht gegeben.«

»Das Bundesamt für Strahlenschutz weiß also nicht, wo dieses – Radon, sagten Sie – herkommt?«

»Genau das ist der Punkt. Bei Radon liegt der Fall nämlich etwas anders. Radon ist ein natürlich vorkommendes Gas, entsteht also nicht bei solchen Atomunfällen. Und es ist flüchtig, das heißt, es baut seine Radioaktivität ziemlich schnell ab – im Vergleich zu anderen Radionukliden auf jeden Fall.«

»Das klingt doch gar nicht so schlimm.«

Ruth ignorierte den Einwand. »Die Strahlung ist je nach Bodenbeschaffenheit mal niedriger, mal höher und wird kontinuierlich aus dem Erdreich in die Atmosphäre abgegeben. Regen kann kurzfristig dafür sorgen, dass die Werte lokal steigen. Der Regen wäscht das Radon sozusagen aus der Atmosphäre aus.«

»Na also. Das erklärt es doch schon. Es hat hier in den letzten Monaten geschüttet wie aus Kübeln.« Schon wieder Breuer, der Adlatus des Oberbürgermeisters.

Ruth seufzte. Wieder mal so ein Schlaumeier, der meinte, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen, nur weil er mit einer raschen Auffassungsgabe gesegnet war. »So einfach ist es leider nicht. Das Radon ist mittlerweile südlich der Stadt bis hin nach Düsseldorf nachweisbar, wenn auch in abgeschwächter Form. Wir haben Nordostwind. Aber das Ausschlaggebende ist: Hier in Essen bleiben die Werte kontinuierlich hoch, an speziell dieser Sonde.«

»Ja, und was heißt das nun?«

»Das heißt, wir haben eine Strahlenquelle«, sagte Ruth knapp. »Und zwar hier. In dieser Stadt.«

* * *

Münster, 8. April

»Idgie, endlich! Wozu zum Teufel hast du ein Handy, wenn du nie drangehst?«

»Hi Kamforski, auch nett, dich zu hören«, konterte Idgie. »Weil ich nicht immer erreichbar sein will, vielleicht?«

Kamforski ärgerte sich über den Spott in Idgies Stimme.

»Hör zu, ich hab nicht vor, dir die Freiheit zu nehmen«, raunzte er sie an. »Aber ich dachte, es geht hier gerade um was. Und ich finde es nicht ganz unwichtig, was ich in den letzten zwei Tagen so alles in Erfahrung gebracht habe.«

»Sorry«, entschuldigte sich Idgie. »Ich habe mein Handy nicht besonders laut gestellt, und ich trage es auch nicht immer am Körper. Ich habe es einfach nicht gehört. Außerdem hatten wir hier gestern ein akutes Problem. Nora, dieses junge Mädchen, die Freundin von Schindlers Sohn, du erinnerst dich? Sie hat sich mit dem Fahrrad mächtig auf die Schnauze gelegt und ist jetzt im Krankenhaus.«

»Hoffentlich nichts Ernstes.«

»Man weiß es noch nicht so genau. Gut geht es ihr jedenfalls nicht. Vermutlich hat sie sich auch noch mit diesem Magen-Darm-Virus infiziert, diesem Novo-Dingsda.«

»Noro«, korrigierte Kamforski wie automatisch.

»Von mir aus auch Noro. Also, was gibt’s?«

»Erinnerst du dich noch an den Fall Möllhaus?«

»Möllhaus? Da klingelt rein gar nichts.«

»Umweltdezernent, Landtag NRW«, informierte Kamforski knapp.

»Du meine Güte, was erwartest du von mir? Ich kann mir doch nicht den Namen jedes dahergelaufenen Politikers merken.«

»Im Jahr 2010 gab es ein Verfahren gegen ihn wegen Bestechlichkeit, Geheimnisverrat und Amtsmissbrauch.«

»Ja und? Eine von vielen armseligen Politikerkarrieren.«

»Spannend allerdings ist, dass die Anklage sich bis hinein in die Vorstands- und Aufsichtsratsebene von European Oil and Gas und Neuer Energie erstreckte. Zum Vorwurf der Bestechung gehören ja bekanntermaßen immer zwei Seiten.«

»Worum ging es?«

»Um gewisse Großzügigkeiten beim Entsorgen von Schadstoffen. Das Land hatte damals eine neue Kategorisierung von Mülldeponien vornehmen lassen. Es hatte Gutachten in Auftrag gegeben, bei denen es erstens um die Eignung von Methoden zur Entsorgung ging, zweitens um die Bestimmung von Schadensklassen.«

»Jetzt wird es interessant. Das Thema ist hoch spannend für die Industrie.«

»So ist es. Das Verfahren wurde eingestellt, sowohl gegen Möllhaus als auch gegen European Oil and Gas. Möllhaus ist dann in der Versenkung verschwunden. Die Vorstände und Aufsichtsräte der Konzerne sind wie üblich auf die Füße gefallen. Sie haben ein wenig Bäumchen-wechsel-dich gespielt. Die beiden, die damals in der absoluten Schusslinie gestanden hatten, sind in andere Konzerne gewechselt und erfreuen sich nach wie vor hoch dotierter Positionen, und drei der damals nicht ganz so im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden Verantwortlichen sind immer noch in ihren alten Funktionen.«

»Sollte mich das wundern?«, fragte Idgie böse. »Und womit wurde bestochen?«

»Das genau ist der Punkt. Gelder sind nachweislich nicht geflossen. Wohl aber Geschenke der etwas exklusiveren Art. Da war von einem noblen Landhaus mit Pool in der Toskana bei Lucca die Rede, wo ein mehrwöchiger Urlaub vom Feinsten für Möllhaus und seine Familie finanziert worden war, mit Erster-Klasse-Flug und Wagen samt Chauffeur vor Ort, versteht sich, ebenso von einem Chalet in der Schweiz, das gerne mal kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde. Außerdem existiert eine Jacht in der Karibik, die für solche Zwecke genutzt wird. Geschenke halt, aber eben keine direkten Geldzuwendungen. Es war wohl die charmante weibliche Begleitung auf der Jacht, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Zumindest fand Frau Möllhaus, die in der Karibik nicht mit von der Partie war, die Sache nur noch bedingt – ähm – in Ordnung. Sie hat dann ausgepackt.«

»Sag bloß, eine Edelhure à la VW? Wie sagt man so schön: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Vor allem unter Männern soll so was gut funktionieren.«

Kamforski hörte fast, wie Idgie die Zähne bleckte. »So ist es. Spricht da die reife Dame von Welt?«

Ein schulmädchenhaftes Kichern erreichte sein Ohr. »Lassen wir das. Und? Wie ging es aus?«

»Frau Möllhaus hat ihre Aussage zurückgezogen. Damit war die Beweispflicht wieder bei der Staatsanwaltschaft, und der Fall wurde irgendwann ad acta gelegt. Man munkelte, ein Nerz oder Zobel oder etwas ähnlich Perverses wäre ein überzeugendes Argument gewesen, die Dame wieder gnädig zu stimmen. Das war jedoch eine rein inoffizielle Aktennotiz am Rande, nachdem der Deckel bereits geschlossen war.«

Idgie lachte erneut. Es war ein böses Lachen.

»Spaß beiseite, Idgie. So was ist leider gängige Praxis. Solange man die Hand aufhält und brav einkassiert, kein Problem. Aber wehe dem, der sich weigert.« Kamforski erzählte von Björns Vermutung, dass Hannes gerade das eben nicht hatte tun wollen. »Die sind nicht zimperlich, und sie sind einflussreich. Halte dich bloß aus der Schusslinie.«

Bereits während er das aussprach, wusste er, dass sie sich einen Dreck drum scheren würde. Die Antwort folgte auch prompt.

»Ja, Kamforski. Ich verspreche dir, ein braves Mädchen zu sein und die Finger immer hübsch über dem Deckbett zu lassen.«

Kamforski seufzte.

* * *

Essen, 8. April

Als Ruth ihr kleines, nüchternes Bürozimmer im Gesundheitsamt erreichte, hockte ihr die Wut wie eine geballte Faust im Magen. Anderthalb Stunden hatte sie verloren. So ein Dreck. Anderthalb Stunden vergeudet, etwas zu diskutieren, das eigentlich ein völlig klarer Sachverhalt war. In der Stadt gab es eine Strahlenquelle, die Radon in einer Höhe freisetzte, die deutlich gesundheitsschädlich war. So einfach war das. Nichts, um das man sich herummogeln konnte, und erst recht kein Politikum. Das sagte ihr zumindest ihr gesunder Menschenverstand.

Aber weit gefehlt. Nach der Strahlenquelle suchen – schön und gut. Aber dabei doch bitte den Ball flach halten und keine vorschnellen Entscheidungen treffen. Und dass das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz ohne Amtshilfeantrag seinen Sondereinsatzdienst mobilisiert hatte, das schien richtig unangenehm aufgestoßen zu sein. Ein mobiler Messwagen war bereits unangefordert im Einsatz, zwei weitere von anderen Standorten aus unterwegs nach Essen.

Ruth hatte eine Viertelstunde benötigt, um zu erklären, dass nicht sie es gewesen war, die das veranlasst hatte – obwohl sie genau das vermutlich als Nächstes getan hätte. Bei regional messbarer Gammastrahlung in der Luft war nun mal das Land zuständig.

Wieso das Land?, hatte der Lackaffe, der sich persönlicher Referent schimpfte, empört gefragt. Wenn die Strahlenquelle hier lokal geortet werden könne, sei das doch wohl Sache der Kommune. Da erst hatte Ruth erkannt, dass das Thema sehr wohl ein Politikum war, bei dem sich die Stadt erst mal nicht gerne in die Suppe spucken lassen wollte.

Es war der Leiter des Ordnungsamtes, der die Situation klärte. Er sei froh um jede Unterstützung, die das Land hier geben würde. Und Strahlung, da hätte die geschätzte Frau Doktor – damit meinte er offenbar sie, dachte sie überrascht – vollkommen recht, sei nun mal Sache von Bund und Land, nicht der Kommune. Er selbst hätte jetzt unverzüglich um Amtshilfe gebeten, wäre das Land nicht von sich aus in Aktion getreten. Denn die Messwagen des LANUV wären nun mal hervorragend für einen solchen Fall ausgerüstet, besser allemal als die Wagen der örtlichen Feuerwehr. Eine scharfe Antwort zur rechten Zeit, die den Schnösel auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte.

Als es schließlich um die Organisation eines Notfallplanes gegangen war, nur vorbereitend, bis weitere Analysen vorlagen, hatte Grothe ihr signalisiert, dass er die Stellung dort im Rathaus halten würde, und Ruth war erleichtert aus dem Raum geflüchtet.

Nun goss sie sich einen Tee auf, den sie mit viel Zucker süßte, und nahm eine Tafel Vollmilchschokolade aus der Schreibtischschublade, ihre persönliche Notfallration für Tage wie diesen, wenn der Stress nach schneller Nahrungszufuhr schrie. Nach Zucker genau genommen.

Sie kippte mit der Lehne ihres Bürostuhls nach hinten und legte die Füße auf den Schreibtisch, nahm die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel, dort, wo die kleinen Hornauflagen der Brille den ganzen Tag einen leichten Druck ausübten. Sie musste nachdenken.

Radon-222 … Es gehörte zur Zerfallskette von Uran: Uran-238 … zerfällt in Radium-226 … und dabei wird Radon-222 freigesetzt …

Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.

»Dr. Brahms«, meldete sich eine männliche Stimme, die Ruth bekannt vorkam. »Ich bin Oberarzt der Intensivstation vom Krupp-Krankenhaus. Spreche ich mit der zuständigen Umweltmedizinerin?«

»Dr. van Haag, ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mit Ihnen über ein paar merkwürdige Fälle sprechen, die in den letzten Tagen bei mir eingegangen sind. Sie machen mir Sorgen. Und deshalb würde ich das gerne mit der Behörde besprechen.«

Ulrich Wickert, dachte Ruth und hatte plötzlich das Bild des ehemaligen »Tagesthemen«-Sprechers vor Augen. Er klingt wie Ulrich Wickert.

»Sind Sie sicher, dass Sie da bei mir richtig sind? Falls es um eine Seuche oder etwas in dieser Art geht, wäre das besser bei einem Kollegen aufgehoben«, sagte Ruth. Gleichzeitig ahnte sie, dass er sich nicht vertan hatte. Denn Dr. Brahms wirkte so, als würde er sich sehr wohl auskennen. Und er hatte gezielt nach der Umweltmedizin gefragt.

Sie hörte ihn seufzen. »Nein. Kein epidemiologischer Ursprung. Eher denke ich dabei an – äh – Umwelteinflüsse der besonderen Art.«

Das Hüsteln, das nun folgte, klang bedrückt.

* * *

»Heute kein Publikumsverkehr«, stoppte sie ein Schrank von einem Türsteher, der in seinem eleganten schwarzen Anzug aussah, als wäre er ein Totengräber.

»Presse.« Idgie fuchtelte mit Jans Ausweis vor seiner Nase herum und hielt den Zeigefinger dabei so, dass er den Namen verdeckte, der Schriftzug des WDR jedoch klar erkennbar war.

»Darf ich mal sehen?« Mit einer flinken Bewegung rupfte der Kerl ihr den Ausweis aus den Fingern.

»Interessanter Vorname für eine Frau«, grinste er süffisant und gab ihr den Ausweis zurück.

»Abkürzung von Janine.«

»Das lässt sich ja leicht klären«, sagte der Türsteher gelassen. »Kann ich bitte Ihren Personalausweis sehen?«

»Sorry, nicht dabei.«

Er machte eine bedauernde Geste mit den Händen.

»Na, dann eben nicht«, motzte sie.

Sie spürte die Blicke des Schrankes in ihrem Rücken, während sie zügig zurück über den Vorplatz lief und sich auf eine Bank neben einem spirrigen Bäumchen fallen ließ. Mit finster zusammengezogenen Augenbrauen starrte sie zu dem Türsteher hinüber. Er machte eine unmissverständliche Geste mit dem Zeigefinger, die sie unverzüglich adäquat beantwortete.

Und nun? Mit solchen Kindereien kam sie nicht weiter. Sie konnte warten, bis sich einer der Herren hier draußen blicken ließ. Aber das würde dauern, und wenn sie fertig waren, würden sie im Pulk hier aufkreuzen, und Idgie sah im Geiste schon eine Reihe von schicken schwarzen Limousinen mit Chauffeur vor den Stufen der Westlandhalle aufmarschieren, in denen die Würdenträger der Veranstaltung blitzschnell verschwunden waren. Außerdem hatte die Konferenz gerade eben erst begonnen. Vertane Zeit, entschied sie. Nach dem, was sie gestern Abend herausgefunden hatten, könnte sie genauso gut erst mal nach Duisburg fahren.

* * *

Münster, 8. April

Die Idee kam ihm, als er den Frühstückstisch abräumte. Er hatte das Geschirr in die Spülmaschine gestellt, Wurst und Käse in den Kühlschrank zurückbefördert und die Tageszeitung zusammengefaltet. Dabei fiel etwas zu Boden. Es war das Knöllchen, das er sich am Vortag in Nottuln eingefangen hatte.

Er riss das Plastiktütchen auf und holte das gefaltete Papier aus der Umhüllung. Mit gleichmäßigem Druck strich er die Verwarnung glatt, so, wie er als Kind immer die Alupapierchen der Pralinen geglättet hatte. Wenn die so eifrig waren wie die blauen Mädels in Münster, dann …

Eine knappe Stunde später betrat er die Wache in Nottuln.

»Tag, Kollegen«, sagte er. »Kamforski, Kripo Münster. Meinen Ausweis habe ich leider in meiner anderen Jacke zu Hause vergessen, zugegeben, da steckt er gut, aber im Internet auf unserer Homepage könnt ihr mich finden.«

Auf der Fahrt nach Nottuln hatte sich Kamforski überlegt, ob er lieber mit offenen Karten spielen und seinen gerade frisch gewonnenen Pensionärsstatus offen hinlegen oder zu jener Variante greifen sollte, die er da grade frech vorgetragen hatte. Er hatte sich für Plan B entschieden. Schließlich war er sich sicher, dass sein Foto noch nicht von der Website der Münsteraner Polizei verschwunden war. Bei einem Kollegen, der vor einem halben Jahr ausgeschieden war, hatte es ganze vier Monate gebraucht, bis die Seite endlich aktualisiert worden war.

Ein gelangweilt wirkender Streifenpolizist, dessen Uniform so aussah, als wäre sie mindestens eine Nummer zu klein, hackte auf der Tastatur seines PCs herum, nickte bestätigend, hievte sich aus seinem Bürostuhl und stellte sich neben seinen Kumpel hinter den halbhohen Tresen, der den Empfangsbereich der Wache präsentierte.

»Was können wir für dich tun, Kollege?«

Kamforski schob das Knöllchen über den Tisch. »Wie oft sind eure Mädels denn so im Einsatz?«, fragte er jovial.

»Warst du etwa im Dienst? Kein Problem.«

»Nein, nein, ich zahl das schon.« Eilig streckte Kamforski die Hand nach dem Strafzettel aus. »Ich möchte nur wissen, ob ihr hier genauso schräg drauf seid wie wir in Münster. Sind eure Blaustrümpfe täglich unterwegs?«

»Ich denke schon. Wenn wir das nicht machen würden, wäre die Altstadt bald nicht mehr so idyllisch.«

»Wem sagst du das?« Kamforski verdrehte die Augen. »In Münster haben wir das gleiche Theater. Mich würde konkret der 20. Februar interessieren, eine Mercedes E-Klasse mit Essener Kennzeichen. E-A, mehr weiß ich nicht. Wir haben einen Zeugen, der sie am fraglichen Tag in Nottuln gesehen hat, aber wir bräuchten das genaue Kennzeichen für eine Halterabfrage. Vielleicht haben wir ja Glück. Am frühen Nachmittag, die Limousine soll irgendwo am Ring geparkt haben.«

»Kein Problem. Worum geht es denn?«, fragte der Beamte mit der spack sitzenden Uniform.

»Um einen Mordfall hier in der Gegend.« Und das war ja nicht mal gelogen, dachte Kamforski.

Zwanzig Minuten später hatte er, was er brauchte.

* * *

Duisburg, 8. April

Das Firmengelände war nicht auf Anhieb zu finden. Nachdem sie die A 59 in Duisburg-Hochfeld verlassen und über die Rheinbrücke in Rheinhausen eingefallen war, führte das Navi sie ordentlich an der Nase herum und ließ sie mitten in einer Fußgängerzone stranden, deren Name auf einen der gestrengen Herrscher des Krupp-Imperiums verwies. Augenblicklich stellte sich ihr ein älteres Ehepaar in den Weg, das sie mit verkniffener Miene darauf hinwies, dass dies eine Fußgängerzone sei, auf der bestenfalls Fahrräder, keinesfalls jedoch Motorräder etwas zu suchen hätten.

Idgie betrachtete die trostlose Ansammlung von Fast-Food-Schuppen, Billigklamotten-Läden, Sonnenstudios und Internetcafés und fragte sich, was für ein seltsamer Stolz diese Herrschaften hier antrieb, sich so aufzublasen. Dennoch bemühte sie sich um eine höfliche Antwort und ließ sich einen alternativen Weg zurück Richtung Rhein erklären. Nach einigen Mühen fand sie schließlich das gesuchte Gewerbegebiet, in dem ein undurchschaubares Geflecht von Sackgassen und ringförmig angelegten Straßen, die von der nordsüdlich verlaufenden Hauptpiste abgingen, ihr Navi erneut zum Scheitern brachte.

Das Gewerbegebiet war groß und unübersichtlich und schien mehr zu bieten als die obligatorischen Autohäuser und Baumärkte. Hier befand sich offenbar noch richtiges Industriegewerbe, und an jeder Straßenkreuzung wiesen Tafeln aus gebürstetem Stahl darauf hin, welche Hausnummern in der jeweiligen Stichstraße zu finden waren.

Als Idgie zum dritten Mal den Helm ab- und die Lesebrille aufsetzen musste, wünschte sie dem Idioten, der auf die Idee gekommen war, die Ziffern in dezentem Dunkelgrau auf die Tafeln tätowieren zu lassen, eine gewaschene Hornhautverkrümmung samt Altersweitsichtigkeit an den Hals.

Endlich fand sie, wonach sie suchte: PoIF GmbH, Preparing of Industriel Facilities. Ihr Blick wanderte die matt schimmernde Tafel weiter nach oben und stolperte. Denn auch dieser Name war ihr nicht unbekannt. Atomic Removal AG.

Das Werksgelände, das sich hinter der schlichten Nummer 65 verbarg, schien groß zu sein und war von hohen, undurchsichtigen Metallzäunen umsäumt. Idgie fuhr näher an das Werkstor heran und stieg ab. Sie ging auf die Schranke zu, die die Einfahrt versperrte, und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Viel konnte man nicht erkennen. Ein paar Leichtbau-Hallen, eine Straßenkreuzung, einige Lkws sowie etwas weiter hinten auf dem Gelände ein paar hohe, tankartige Gebilde.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und wendete den Kopf. Ein livrierter Mann älteren Jahrgangs verließ die Pförtnerloge neben der Schranke und hastete auf sie zu.

»Hier können Sie nicht stehen bleiben«, sagte der Livrierte und deutete vorwurfsvoll auf die Ural, die mitten in der Einfahrt stand.

»Will ich ja auch gar nicht.« Idgie machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich bin schon weg.« Dann entdeckte sie an dem knastgrünen Metallzaun neben der Schranke zwei ebenfalls dezente, diesmal in Weiß gehaltene Schilder, auf denen sich die Firmenlogos der Atomic Removal und der Preparing of Industrial Facilities befanden. AR und PoIF. Auch diese Schilder waren wie aus einem Guss. Und niemand schien ein Problem damit zu haben, dass hier jemand auf einen Blick erfassen konnte, was sich Idgie gerade spontan aufgedrängt hatte.

»Sagen Sie, gehören die beiden Unternehmen irgendwie zusammen?«

»Warum wollen Sie das denn wissen?« Der Pförtner musterte sie misstrauisch und presste den Mund zu einem Strich zusammen, einer verschlossenen Auster nicht unähnlich.

»Ach, nur so. Ich fahr dann mal die Karre weg.« Idgie schlenderte zur Ural, wendete die Maschine und fuhr den Zufahrtsweg zurück, den sie gekommen war. Als sie sich außer Sichtweite wähnte, stoppte sie erneut, quetschte die Ural an den Straßenrand und versuchte, das Werksgelände zu Fuß zu umrunden.

Überall derselbe abweisende Zaun. Sollte sie sich hochstemmen? Würde sie das überhaupt schaffen? Sie trat dicht an den Zaun heran, sah abschätzend nach oben und blickte genau in die glänzend schwarze Linse einer Videokamera. Ihr Blick schnellte den Zaun entlang. In regelmäßigen Abständen krönten kleine Überwachungsgeräte die metallenen Abzäunungen und verfolgten jede ihrer Bewegungen. Hier hatte sich aber jemand mächtig ins Zeug gelegt, um unbefugte Eindringlinge abzuschrecken.

Demonstrativ tippte sich Idgie an die Schläfe, nickte grüßend in die Kamera und drehte um. Tausend Augen schienen sich in ihr Kreuz zu bohren, und sie war froh, als sie die Ural wieder erreichte, ohne dass man ihr eine Horde geifernder Dobermänner hinterherhetzte.

Was nun? Ihr Jagdinstinkt meldete sich. Wenn sich jemand so nachdrücklich hinter hohen Zäunen verschanzte, hatte er eindeutig etwas zu verbergen. So schnell würde sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Die Ural erwachte blubbernd zum Leben. Idgie folgte einer der anderen Stichstraßen, die an einem Seitenarm des Rheins endete. Ob er natürlichen oder künstlichen Ursprungs war, ließ sich schwer sagen, aber er wurde offensichtlich als Kanal genutzt und schien in einem Winkel von ungefähr fünfzehn Grad vom Fluss weg direkt zu dem Firmengelände zu führen, dem ihr Interesse galt. Aber der Weg dorthin war durch andere Gewerbe versperrt.

Auf der anderen Seite des Kanals trennten Wiesen den Wasserarm vom Rhein, und in Idgie reifte ein Plan.

Sie fuhr ans südliche Ende des Gewerbegebietes und suchte nach einem Einstieg, von dem aus sie auf die Wiesen gelangen konnte. Schließlich fand sie einen Fußweg zwischen zwei Gebäuden, ließ die Maschine auf einem der Parkplätze zurück und ging zu Fuß weiter.

Vor ihr lag ein breiter Streifen grasbewachsenen Geländes, das zum Rhein hin nicht abgezäunt war. Sie betrat die Rheinwiesen und wandte sich wieder nordwestwärts, wo sie ebenfalls Wasser schimmern sah. Der Kanal, mit ziemlicher Sicherheit. Nach kurzem Fußmarsch hatte sie ihn erreicht und wanderte ihn in Richtung der Mündung hinauf, bis sie das Werksgelände wieder im Blick hatte, dieses Mal von der gegenüberliegenden Wasserseite aus. Es war größer, als sie vermutet hatte. Da war sogar ein Schiffsanleger, von dem aus gerade ein Frachtschiff entladen wurde.

Idgie war zu weit entfernt, um zu erkennen, was dort abgeseilt wurde. Aber eine Sache war auffällig. Sie hatte schon häufiger das Löschen von Fracht beobachtet. Dieser Entladevorgang schien mit Samthandschuhen vonstattenzugehen, so, als würde eine millionenschwere Tauchkapsel von Bord gehievt. Oder eine Bombe.

* * *

Essen, 8. April

Manni hockte auf dem unbequemen Sitz in dem weißen Sprinter und starrte auf die Monitore vor sich, die in eine Mittelkonsole im Innenraum des Transporters eingelassen waren. Um die Sache zu beschleunigen und den Kollegen das Gefühl zu geben, dass er selbst mit anpackte, wenn Not am Mann war, hatte er sich eines der Fernseh-Überwachungsfahrzeuge und den jungen Kollegen geschnappt, der gerade erst frisch seine Ausbildung abgeschlossen hatte, und war selbst auf Tour gegangen. Das hier war die vierte Stelle, die er überprüfen wollte. Sechs weitere lagen noch vor ihm.

Manni war froh über diese Ablenkung. Wenn er den ganzen Tag im Krankenhaus rumsaß, wurde er nur verrückt. Sie war so bleich in ihrem Bett … und immer noch nicht ansprechbar … sie würden anrufen, hatten sie versprochen … Er starrte auf seine Hände hinunter und merkte, dass er sie zu Fäusten geballt hatte. Du kannst nichts für sie tun, Manni Neumann. Aber hier, hier wirst du gebraucht. Er blinzelte die Tränen weg und konzentrierte sich wieder auf die Monitore.

»Weiter vor«, instruierte er durch das Funkgerät. Sein Kollege, der über einen weiteren Computer in der Frontkabine des Transporters die Vorwärtsbewegung der Kamera über den Schwenkarm steuerte, reagierte, und die Kamera rollte weiter.

Die nächste Muffe rückte verschwommen ins Bild. Dahinter Schwärze. Die kleinen Scheinwerfer der Kamera reichten nicht weit.

Während Manni die Aufnahmen auf dem Monitor verfolgte, steuerte sein Kollege die Kamera weiter in den Kanal hinein auf das T-Stück 421 zu.

»Stopp«, kommandierte Manni. »Ich übernehme.« Das Bild blieb stehen, und Manni begann langsam, über den Joystick den beweglichen Kamerakopf zu drehen und die Wände vor sich abzuleuchten. Untersuchungen dieser Art wurden seit 1994 gemacht, und in seiner Außendienstzeit war Manni häufig mit den Kanalzustandsuntersuchungen per Fernsehkamera betraut gewesen. Die Steuerung des Kamerakopfes war ebenso tricky wie die Steuerung der Kamera selbst, die immerhin einen knappen Meter lang war und auf Rädern fuhr wie ein Spielzeugauto. Man brauchte eine ruhige Hand dazu. Aber wenn man einmal den Bogen raushatte, verlernte man es so schnell nicht mehr.

Manni schwenkte den Kopf weiter und stellte das Bild scharf. Da war das T-Stück, und es war bis zur Hälfte angefüllt mit kleinen Ästen und allerhand undefinierbarem Schmodder. Bei den Wasserfluten, die hier vor ein paar Tagen durchgerauscht waren, war es hier garantiert zu einem ordentlichen Rückstau gekommen.

»Rückzug.« Manni hatte genug gesehen. »Hier muss ein Spüli ran.« Damit meinte er eines der Hochdruck-, Spül- und Saugfahrzeuge, die zur Reinigung der Kanäle eingesetzt wurden.

»Verstanden«, tönte es aus dem Funk zurück.

»Ich sag in der Zentrale Bescheid«, informierte Manni den jungen Kollegen. »Hast deine Sache gut gemacht, wirklich. Und dann machen wir erst mal Pause.«

Er fuhr sich mit den beiden Händen durchs Gesicht und gähnte. Es würde ein langer Tag werden.

* * *

»Drei Fälle in sechsunddreißig Stunden. Der Verlauf der Erkrankung unterscheidet sich nur durch die Geschwindigkeit, in dem er vonstattengeht«, sagte Dr. Brahms. »Die Symptome sind immer gleich. Starke Übelkeit, Erbrechen, Kreislaufkollaps, hohes Fieber. Natürlich haben wir auf diverse Magen-Darm-Erkrankungen hin untersucht. Nichts. Kein Geschwür, kein Krebs. Nur diese Blutungen aus Mund und Nase. Bei einem von ihnen, es war der Erste, der bei mir eingeliefert wurde, gab es vor einer Stunde heftige Darmblutungen. Sämtliche Körperfunktionen sind zusammengebrochen, und er fiel ins Koma. Er ist eben gestorben. Diese starken Blutungen … Nase, Mundhöhle, Magen, Darm … genau die machen mich stutzig.« Er zögerte.

»Es erinnert Sie an etwas, das Sie kennen«, stellte Ruth fest.

Brahms nickte bedrückt. »Als ich jung war, direkt nach der Ausbildung, da habe ich zwei Jahre im Ausland verbracht. Anfang der Neunziger war das. Eine Organisation, vergleichbar mit den heutigen Ärzte ohne Grenzen.« Er sah aus dem Fenster. »Ein Jahr davon war ich in Namibia. Mitten in der Wüste befindet sich die Rössing-Mine, der bislang größte Uran-Tagebau der Welt. Zumindest war das damals so. Vielleicht gibt es ja heute noch größere.« Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse.

Ruths Herzschlag geriet aus dem Tritt. »Bitte erzählen Sie«, drängte sie und bemühte sich um Ruhe.

»Ich hatte dort tatsächlich zwei Fälle, die mich schwer an diese hier erinnern. Ich meine, ich habe natürlich alle Arten von möglichen Spätfolgen zu sehen bekommen, die die harte Arbeit in den Minen mit sich bringt. Krebserkrankungen rauf und runter, Lungenkrebs, Knochenkrebs, Leukämie, die ganze Palette, mal ganz abgesehen von den rein toxischen Vergiftungen durch die Schwermetalle. Wussten Sie, dass ungefähr achtzig Prozent der Radioaktivität des abgebauten Urans im Abbaugebiet verbleiben? Nicht nur dort in Namibia natürlich. Das ist überall so, auch hier in Deutschland im ehemaligen Abbaugebiet Wismut. Seit der Wende versuchen sie, das Gebiet zu renaturieren. Die Radioaktivität ist im Staub, im Grundwasser, in der Luft, einfach überall. Aber entschuldigen Sie bitte, ich schweife ab.«

»Das ist echt zum Speien«, sagte Ruth leise. »Aber Sie sprechen nicht von den Spätfolgen beim Umgang mit Uran, nicht wahr?«

»Da haben Sie recht. Im Laufe dieses Jahres, das ich dort war, gab es zwei Fälle, die abgewichen sind. Einer davon war ein kleiner Junge, kein halbes Jahr alt. Der Kleine hat zusammen mit seiner Mutter auf den Vater gewartet, nahe den Minen. Als der Vater rauskam, hat er den Kleinen auf den Arm genommen und den ganzen Weg zurück nach Hause getragen. Er trug noch seinen Schutzoverall, den er während der Arbeit angehabt hatte. An diesem Tag war er mit der Verfüllung des Yellow Cake beschäftigt.«

»Der gelbe Kuchen. Die komprimierte Essenz des Uran.«

»Genau. Die Arbeiter waren damals nicht besonders aufgeklärt, was die Toxizität des Yellow Cake betrifft. Ich hoffe inständig, dass das heute anders ist.«

»Glauben Sie wirklich?« Ruth sah ihm direkt in die Augen.

Brahms schüttelte traurig den Kopf. »Hoffen, habe ich gesagt.« Dann seufzte er schwer. »Auf jeden Fall hat der Kleine den ganzen Weg an Papas Brust gelegen und an dem Stoff des Arbeitsanzugs genuckelt. Einen Tag später sind sie zu mir gekommen. Der Kleine ist ähnlich qualvoll gestorben wie der Patient heute.«

Ruth wartete. Die Angst krallte sich in ihr fest wie ein Fangeisen.

»Das sind Bilder, die sich einprägen«, fuhr Brahms fast flüsternd fort. »Die Augen dieses Kindes … und ich konnte nichts tun.«

Um Herrgottswillen, das ist doch nicht wahr, dachte Ruth. Bitte, lass es was anderes sein …

»Der andere Fall, das war ein Arbeiter. Er hatte einen schweren Unfall. Er lag dort erst mal längere Zeit mitten in dem Abraum-Dreck, bevor er weggebracht wurde. Der Staub hatte sich in den offenen Wunden festgesetzt, die zahlreich waren. Drei Tage später ging es los. Starke Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Blutungen aus Mund und Nase … Der Mann hat ganze sechs Wochen überlebt. Auch für ihn konnte ich letztlich nichts mehr tun, obwohl wir fast sein gesamtes Blut ausgetauscht haben. Er starb an Multiorganversagen.«

»Staub mit Uran angereichert – oder mit einem seiner Spaltprodukte.«

»Ja. Sie hatten die Strahlung direkt im Körper, verstehen Sie?«

Ruth schnaubte bestätigend durch die Nase. Sie nahm die Brille ab und begann sie zu putzen, eher um Zeit zu gewinnen, als dass sie unbedingt störende Schlieren tilgen wollte. Zeit gewinnen für was?, fragte sie sich unwillkürlich.

Dr. Brahms ließ sie nicht aus den Augen. »Verstehen Sie?«, wiederholte er eindringlich.

»Ja. Natürlich verstehe ich«, sagte sie bitter.

* * *

Mit zögernden Schritten näherte sich Peter Mooren dem Gelände am Rande des Gewerbegebietes Steele-Horst. Es war mit Holzbauelementen abgezäunt, diesen mannshohen Sichtschutzwänden, die man in jedem Baumarkt kaufen kann, und er erinnerte sich noch gut an das Getöse, das Potelske veranstaltet hatte, damit dieser Zaun schnell aufgebaut wurde. Die Polen hatten damals mal wieder rangemusst – wie immer, wenn es um irgendwelche Drecksarbeiten ging, um Schnellschnell und Eher-gestern-als-heute-fertig-Werden, und er, Peter Mooren, hatte den undankbaren Job gehabt, ihnen noch eine Rolle Draht hinterherzufahren.

Er hatte sich damals gefragt, warum Potelske da so hinterher gewesen war, ein Gelände gegen ungebetene Eindringlinge zu schützen, das er nicht quitt wurde und auf dem sich nichts anderes befand als eine Art großer Carport. Aber er hatte die Sache nicht weiterverfolgt.

An der rechten Seite, erinnerte sich Peter Mooren, war ein kleines Tor gewesen. Aber er musste feststellen, dass es mit einem Hängeschloss gesichert war. Also stapfte er weiter am Holzsichtschutz entlang, bemüht, auf dem matschigen Boden nicht auszurutschen. Dann erreichte er die südliche Ecke des Geländes und stutzte.

Das Grundstück lag oberhalb der Ruhr am Rande des Gewerbegebietes in einem dünnstämmigen Wäldchen, das nicht gerade nach Naturschutz und altem Baumbestand aussah und sich abwärts den Hang hinunter bis zu den Ruhrwiesen hin erstreckte. Das heißt, da war mal ein Wäldchen gewesen. Nun war da nur noch eine Abbruchkante, die eine breite, matschige Schneise bis zu den Wiesen hin bildete. Teile des Sichtschutzzaunes klebten im Matsch schräg am Hang und bildeten eine Art Rampe nach unten, und die wenigen Bäumchen, die dem Erdrutsch widerstanden hatten, steckten wie Zahnstocher im Erdreich. Hier hatte Cassandra ganze Arbeit geleistet, und der Regen hatte sein Übriges dazu beigetragen.

Vorsichtig, um nicht abzurutschen, schob Peter Mooren sich um die Kante des letzten Holzelementes herum und stand nun auf dem Grundstück. Das Gelände war ebenso matschig wie der abgerutschte Hang. Brackige Pfützen sammelten sich an einigen Stellen, und dort, wo sich der Carport befunden hatte, war ein mächtiger Baum von der anderen Seite auf das Gelände gekippt und hatte alles unter sich begraben, was dort gewesen war. Zwischen den Ästen schimmerte es gelb, und als Peter Mooren durch den glitschigen Schmodder hinüberwatete, stellte er fest, dass dort etliche Fässer unter dem Baum begraben waren.

Peter Mooren drehte sich um und entdeckte an der Abbruchkante rechts ebenfalls etwas Gelbes. Er watete hinüber, und bei jedem Schritt saugte der wassergeschwängerte Mutterboden an ihm wie ein Nikotinsüchtiger an seiner Zigarette. Schließlich hatte er die Ecke erreicht.

Dort lag ebenfalls ein Fass. Ein breites Stück Metall hatte sich durch seinen Leib gebohrt wie ein Schwert durch einen Körper. Es war regelrecht aufgeschlitzt worden. Teile der Plastikummantelung waren unter dem derben Streich weggebrochen, und heraus quoll ein dicker bräunlicher Brei, der sich mit dem dunkleren Graubraun der nassen Bodenschicht vermengte.

Großer Gott. Was auch immer dadrin gewesen war, hatte sich fast vollständig mit dem Erdreich vermischt. An der Seite des Fasses klebte etwas. Peter Mooren beugte sich weiter nach vorne, um besser sehen zu können, wollte noch einen Schritt tun, aber es ging nicht. Der Boden hatte sich an ihm festgesaugt, und er strampelte, um sich zu befreien. Für einen kurzen Moment ruderte er hilflos mit den Armen und schlug der Länge nach hin, kopfüber, das Gesicht vorweg, die Arme hoch erhoben, mitten hinein in die Pampe.

Immerhin hatte der Boden seine Füße wieder freigegeben. Peter Mooren rappelte sich hoch und spuckte angewidert den Matsch aus, den er in den Mund bekommen hatte. Pfui Deibel! Und die Handkante hatte er sich aufgeschlagen. Sie blutete, und ohne groß nachzudenken, rieb er sich die Hand an den Hosen ab, was keine gute Idee war, denn die Hosen waren total verschlammt.

Aufgeregt fummelte er sein Taschentuch aus der Hosentasche. Gut, dass er auch nach Irenes Tod die Sitte mit den Stofftaschentüchern beibehalten hatte, auch wenn sie nicht mehr so schön gebügelt waren wie früher, dachte er, während er sich den Stoff um die verletzte Hand wickelte und schließlich die Zähne zu Hilfe nahm, um den Knoten festzuziehen.

Dann suchte er nach seiner Schirmmütze, die ebenfalls im Dreck gelandet war. Missmutig hob er sie auf, klopfte sie ab und setzte sie sich auf den Kopf. Den blutenden Riss an der Stirn oberhalb des Haaransatzes bemerkte er nicht.

Eigentlich war ihm die Lust an dieser Erkundungstour vergangen. Trotzdem schritt er das Gelände weiter ab. Keine Fässer mehr zu sehen. Aber dort unter dem eingestürzten Carport stimmte was nicht. Zu viele Fässer, mehr auf jeden Fall, als in der vergangenen Woche weggebracht worden waren. Hieß das etwa, Potelske hatte bereits vorher die eine oder andere Fuhre hierher ausgelagert?

* * *

Ruth fühlte sich wie ausgewrungen. Im Laufe der letzten Stunden hatte sie starke Kopfschmerzen bekommen, und ihr war flau im Magen. Kam vermutlich von den Kopfschmerzen, dachte sie zornig und spülte eine Tablette mit einem Glas Mineralwasser hinunter.

Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die Schreibtischkante. Sie hatte die Abteilungssekretärin und zwei ihrer Leute darangesetzt, die Krankenhäuser abzutelefonieren und gezielt nach Fällen dieser Art zu fragen. Jetzt wartete sie auf die Ergebnisse. Und Warten, das lag ihr absolut nicht. Also befragte sie die medizinischen Datenbanken und vergewisserte sich über das, was sie zwar ahnte, aber eigentlich nicht wahrhaben wollte.

Die durchschnittliche radioaktive Strahlenbelastung eines Menschen in Deutschland lag derzeit zwischen eins und fünf Millisievert pro Jahr. Dieser Wert beinhaltete sowohl die Belastungen durch natürlich vorkommende Strahlung in Boden und Luft als auch die durch medizinische Untersuchungen und Flugreisen.

Ab einer akuten Belastung von mehr als tausend Millisievert, also einem Sievert, sprach man von der Strahlenkrankheit. Je länger und je höher die akute Strahlenbelastung, desto schwerwiegender waren die Erkrankungen. Denn die Strahlung führte zu einer Schädigung, im schlimmeren Fall zum Absterben von Zellen. Die DNA einer Zelle konnte so geschädigt werden, dass die Zelle zwar weiter lebensfähig war, aber letztendlich krank. In sich gestört, degeneriert und damit nur noch bedingt tauglich. Durch Zellteilung konnten solche Degenerationen an Tochterzellen weitergegeben werden, was langfristig zu Krebs führen konnte.

Bereits eine akute Dosis von unter null Komma fünf Sievert konnte zu einer solchen Veränderung des Erbguts führen, auch wenn der Bestrahlte kurzfristig keinerlei Symptome zeigte. Bei einer Dosis zwischen null Komma fünf und einem Sievert traten Kopfschmerzen, erhöhtes Infektionsrisiko und vorübergehende Sterilität bei Männern auf. In dieser Phase sprach man hübsch verniedlichend von einem Strahlenkater.

Eine akute Strahlendosis zwischen einem und zwei Sievert führte zu einer leichten Strahlenkrankheit. Zu den Symptomen kamen Übelkeit und Müdigkeit hinzu. Die Sterblichkeit bei der leichten Strahlenkrankheit lag immerhin schon bei zehn Prozent.

Die schwere Strahlenkrankheit trat zwischen zwei bis vier Sievert auf. Die Symptome erweiterten sich um Haarausfall am ganzen Körper, Erbrechen und Durchfall, Blutungen im Rachenraum, aber auch unter der Haut und in der Niere, sowie einen Verlust an weißen Blutkörperchen. Die Sterblichkeit lag zwischen dreißig und fünfzig Prozent.

Bei einer Dosis von über vier Sievert sprach man von der akuten Strahlenkrankheit. Überlebende Frauen blieben dauerhaft unfruchtbar. Je nach Höhe der Dosis sowie Schnelligkeit und Qualität der medizinischen Versorgung starben über sechzig Prozent. Bei einer Dosis von mehr als sechs Sievert wurde das Knochenmark fast vollständig zerstört. Innere Blutungen und Infektionen führten meist innerhalb der ersten zwei Wochen zum Tod. Ab einer Dosis von zehn Sievert hatte der Patient keinerlei Überlebenschancen. Der Zelltod führte zu massiven inneren Blutungen, Organversagen und Koma.

* * *

Immer mehr Krankenakten liefen jetzt per Mail oder per Fax bei ihr ein, während Ruth an ihrem Schreibtisch die Ergebnisse zu einem übersichtlichen Diagramm zusammenfasste.

Bis jetzt hatten fünf Essener Krankenhäuser gemeldet, dass bei ihnen in den letzten sechsunddreißig Stunden Patienten mit vergleichbaren Krankheitsbildern eingegangen waren. Insgesamt waren es vierzehn Menschen, die die gleichen Symptome aufwiesen, und zwei davon waren unter ähnlich qualvollen Umständen gestorben wie der Patient aus dem Krupp-Krankenhaus. Ein weiterer Patient lag im Koma, zwei hatten so hohes Fieber, dass sie nur wirres Zeug vor sich hin faselten. Der Rest war vernehmungsfähig gewesen und hatte dazu beitragen können, das Diagramm zu präzisieren.

Zuletzt spuckte der Drucker ein Fax vom Klinikum Essen aus. Es war die Krankenakte von Nora. Ruth schluckte schwer. Aber sie hatte es ja ohnehin schon gewusst. Die Symptome, die Nora aufwies, passten voll ins Schema. Schweren Herzens nahm sie Nora mit in ihr Diagramm auf.

Am liebsten hätte sie sich ins Bett verkrochen und wie ein Fötus eingerollt. Aber sie zwang sich weiterzumachen.

Der ODL-Alarm. Radon-222, ein Gammastrahler und nicht sehr langlebig im Vergleich mit anderen Nukliden. Wo zum Teufel kamen diese hohen Konzentrationen von Radon her?

Das herauszufinden war die Aufgabe der mobilen Einsatzkräfte des Landesamtes. Die arbeiteten sich vom Schuir aus quer durch den Essener Süden. Drei Wagen waren unterwegs, jeder in eine andere Richtung. Es würde dauern, bis sie die ganze Stadt abgefahren hatten. Und Ruth war sich eigentlich sicher, dass die Quelle, die Ursache der Strahlung, nicht quer durch die ganze Stadt verteilt war. Wo also waren die Erkrankten gewesen, räumlich betrachtet? Und was genau hatten sie dort gemacht?

Ruth setzte ihre Leute an diese Aufgabe, das zu erfragen. Eine Stunde später hatte sie die Antworten und markierte die Unglücksorte im Essener Stadtplan.

Die Gemeinsamkeiten waren verblüffend. Die Erkrankten hatten alle etwas mit dem Stadtteil Steele zu tun gehabt. Steele, ratterte es in ihrem Kopf. Aber wo kam der Mist her? Durchfall, Erbrechen, Blutungen …

Drei Reinigungskräfte der Stadtwerke, zwei Feuerwehrmänner, drei Bürger, die selbst tatkräftig in ihren verdreckten Kellern mitangepackt hatten. Eine junge Mutter, die ihrem Kind hinterhergelaufen und dabei gestürzt war. Sie alle hatten sich verletzt. Wie Nora. Nicht schlimm, aber dennoch so, dass es ordentlich geblutet hatte. Die städtischen Bediensteten waren verunglückt, als sie mit Aufräumarbeiten der überquellenden Kanalisation beschäftigt gewesen waren.

Auch Nora hatte vom Matsch auf den Straßen gesprochen. Und wo war Noras Unfall passiert? Steeler Straße, Holbecks Hof. Zusammen ergaben die Fälle ein stimmiges Bild. Die Kanalisation. Das Abwasser. Es musste was mit dem Abwasser zu tun haben!

Ruth griff zum Telefon und gab ihre Vermutung an die Kollegen vom LANUV weiter. Sie empfahl, eine der Sondereinsatzwagen direkt zur Analyse nach Steele zu schicken. Dann setzte sie ein amtliches Schreiben auf und veranlasste eine Sonderuntersuchung bei den Erkrankten. Verdacht auf radiotoxische Vergiftung, Inkorporation, Quelle unbekannt, schrieb sie. Die Zerfallskette des Uran. Bitte nehmen Sie dringend die entsprechenden Analysen vor und leiten sofort die erforderlichen Behandlungsschritte ein.

* * *

Duisburg, 8. April

Idgie betrat das erste der Internetcafés in der Fußgängerzone von Rheinhausen. Von außen sah das Ding aus wie eine schmuddelige Spelunke, in der fünfzig Jahre Pils, fetttriefende Pommes und Myriaden von gerauchten Zigaretten deutliche Spuren hinterlassen hatten. Innen herrschte ein seltsames Gemisch aus Spielhalle, Telefonzellen und Nischen, in denen PCs auf ihren Einsatz warteten. Aber die weißen Bodenfliesen waren blitzblank und die Tische sauber, und der Duft frisch gebrühten türkischen Mokkas hing in der Luft.

Idgie bestellte sich Mokka und Mineralwasser und ließ sich in einer der Nischen nieder. Kurz darauf stand ein kleines Kupferkännchen mit dem sämigen Kaffee vor ihr auf dem Tisch, stark und belebend. Idgie ging ins Netz und wollte loslegen, aber ihr launiges Wortspiel Atomic Rooster saß in ihrem Gehirn fest wie eine lästige Melodie, die man nicht wieder loswird, und verweigerte den Zugriff auf den richtigen Namen des Unternehmens, mit dem sie sich beschäftigen wollte. Resigniert probierte sie es nur mit Atomic R und scrollte sich durch die Ergebnisse. Schließlich hatte sie es: Atomic Removal AG.

Sie holte Notizbuch und Stift aus ihrem Rucksack, klickte sich durch das Webinterface des Unternehmens und machte sich Notizen. Dann verschränkte sie die Hände in ihrem Nacken, machte die Beine unter dem Tisch lang und dachte nach.

August der Schäfer hat Wölfe gehört, Wölfe mitten im Mai, summte es in ihrem Kopf. Sie mochte Degenhardt, seine Musik, seine bissigen Texte. Aber speziell bei diesem Song hatte sie immer schon den Vergleich von Wölfen mit dem braunen Gesocks unpassend und gemein gefunden. Und trotzdem schwebte er jetzt in ihrem Kopf. London Calling von The Clash würde besser passen, dachte sie, oder Hiroshima Mon Amour von Ultravox.

»Brauchen Sie noch etwas?«, erkundigte sich der junge Mann höflich. Ein Glutauge wie Omar Sharif.

»Noch einen Mokka bitte.«

Sie trank den zweiten Mokka in kleinen Schlucken, während sie noch einmal ihre Notizen durchging.

Die Atomic Removal AG gab es seit annähernd fünfundzwanzig Jahren. Ihre sogenannten Kernkompetenzen bestanden erstens in der Entwicklung sicherer Transportbehälter für Brennelemente, zweitens in der Durchführung solcher Transporte zu Zwischen- oder Endlagern, drittens in der Demontage von Kernkraftwerken und viertens in der Reinigung von Atommüll zwecks Zuführung in preiswertere Lagerstätten als ausgerechnet die Hochsicherheitstrakte für atomaren Abfall.

»Hochsicherheitstrakte« … falscher Begriff, dachte sie grimmig. Wenn die mal so sicher wären. Immer noch wurde händeringend nach Endlagern gesucht, in denen der ganze Müll in den nächsten Millionen Jahren keinen Schaden anrichten konnte.

Idgie drehte wütend ihren Bleistift in den Fingern. Eine wirklich tolle Energie. Beherrschbar, solange es keine Zwischenfälle gab, und preiswert, wenn man von den immensen Kosten absah, die dieses Müllproblem mit sich brachte. War es nicht genial, dass die Müllentsorgung Sache des Staates, nicht der Energieriesen war und deshalb auch in keiner ihrer Gewinn-und-Verlust-Rechnungen auftauchte? Jedes verdammte Milchmädchen konnte besser rechnen!

Der Bleistift zerbrach mit einem splitternden Geräusch, und das Gefühl der Wut wich einem Gefühl der Resignation. Idgie seufzte und las weiter.

Atomic Removal machte nicht viel Aufhebens um sich, obwohl die AG über eine Vielzahl von Betriebsstätten verfügte, darunter die, die Idgie eine Stunde zuvor im Gewerbegebiet entdeckt hatte. Weitere Betriebsstätten lagen in Mülheim, bei Hannover, Ahaus und Gorleben sowie in Greifswald. Der Firmensitz war erstaunlicherweise in Essen, als gäbe es nicht genügend andere Großstädte in Deutschland, und die Adresse kam Idgie bekannt vor. Denn die Straße, die den Hauptsitz dieses Platzhirschs der Atomindustrie beherbergte, lag in diesem neu aus dem Boden gestampften Viertel der Stadt Essen, auf Boden, der nach jahrhundertealter Verseuchung durch die Krupp’sche Stahlindustrie gereinigt und dann einer neuen Bestimmung zugeführt worden war: der Essener Weststadt.

Nur ein Zufall?

Aufschlussreich war auf jeden Fall, dass die Aktionäre von Atomic Removal fast ausschließlich aus den großen Energiekonzernen Deutschlands bestanden, allen voran der Neuen Energie der Zukunft. Aufschlussreich, aber dennoch nicht weiter verwunderlich, hatten diese Giganten doch alle auch ihre Pfoten bei der Kernenergie mit im Spiel.

Was Idgie aber noch bedeutsamer fand, war die Tatsache, dass Atomic Removal seinerseits mit hohen Anteilen an einigen kleineren Unternehmen beteiligt war. Idgie fletschte böse die Zähne, als sie den Namen PoIF unter den Beteiligungen fand, gefolgt von einem Wirtschaftsberatungsunternehmen für biochemische Technik. Beratung? Biochemische Technik? Da stimmt was nicht … Alarm, schrillte es in ihr los.

Sie hangelte sich weiter im Netz durch. Und schließlich wurde sie fündig.