KAPITEL 13

Essen, 9. April

Von Weitem konnte man sie glatt mit einer Gruppe von Trauergästen an einem Grab verwechseln. Schweigend, mit düsteren Mienen, standen sie auf dem Fußweg unterhalb der Kurt-Schumacher-Brücke und beobachteten das Geschehen. Manni erkannte einen der Ingenieure der Essener Wasser-Verwertungs-AG, mit dem er gelegentlich zu tun gehabt hatte. Karl-Heinz hieß der, sie hatten auch schon mal Doppelkopf miteinander gespielt, aber der Nachname wollte Manni nicht mehr einfallen. Meininger war ebenfalls anwesend. Und Ruth, klein und zierlich zwischen den Männern. Ihre braunen Haare flatterten im Wind. Sie sah zornig aus. Den Mund hatte sie so fest zusammengekniffen, dass er blutleer wirkte. Neben Ruth stand ein grauhaariger Mann, den Manni nicht kannte. Ruth stellte ihn als Dr. Grothe vor, Leiter des Gesundheitsamtes. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und presste die Lippen erneut zu einer festen Linie zusammen.

Manni nickte den Herren zu und schob sich so dicht neben Ruth, dass er sie fast berührte. Auch er schwieg, während er in sich aufnahm, was dort unten vor sich ging.

Unwirklich. Das war es. Gespenstisch. Es sah nach Raumfahrt aus, nach Raumschiff Enterprise, nach Mondlandung und nach Krimi, alles in einem. Eine Gruppe von Menschen, mindestens zehn an der Zahl, bewegten sich langsam und seltsam gleichförmig über die Wiesen des Trinkwasser-Gewinnungsgebietes. Sie gingen gebückt und hielten kleine, kastenförmige Geräte vor sich, mit denen sie den Boden abzutasten schienen. Schutzanzüge mit Kopfhelmen, die schwer nach modernen Gasmasken aussahen, vollendeten das surreale Bild.

Am Rande des Areals war eine zweite Gruppe identisch gekleideter Menschen damit beschäftigt, ein Fass auf einen Einsatzwagen der Feuerwehr zu hieven. Es war ein gelbes Fass, und es schien unversehrt.

Manni legte Ruth die Hand auf den Arm. »Kannst du mir mal verraten, was das da unten soll?«

»Sechs solcher Fässer wurden bisher allein hier auf dem Gelände gefunden, vier davon stark beschädigt, zwei völlig zertrümmert. Sie hatten irgendetwas in sich, das radioaktiv hochgradig verseucht ist. Die Wiesen da unten strahlen. Wie stark und wie flächendeckend, wird gerade geprüft«, informierte sie ihn sachlich.

»Wie kommen die denn da hin? Da ist doch der Zaun davor.«

Der Mitarbeiter der Essener Wasser-Verwertungs-AG erwachte aus seiner Erstarrung und räusperte sich. »Tja, also, der Zaun, der wird bei Hochwasser umgeklappt.« Ihm war sichtlich unbehaglich zumute. »Damit da nicht alles drin hängen bleibt …« Seine Augen wanderten unruhig hin und her.

»Die liegen seit dem Hochwasser hier?«, fragte Manni in ungläubigem Ton.

»Davon ist auszugehen. Durch die Wucht des Wassers wurden sie hin und her geschleudert und sind zerschellt.« Ruths Stimme klang belegt. »Manni, oben in Steele sind auch Reste solcher Fässer gefunden worden. Und Nora …«

Manni brauchte einen Moment, um die losen Enden zusammenzubringen. »Aber es geht ihr besser«, stammelte er. Dann griff die Angst mit eisigen Zangen nach ihm.

»Das kann wieder kippen«, hörte er Ruth neben sich flüstern. »Sie hat die Strahlung im Körper.«

Manni starrte sie an. Er sah es in ihren Augen glitzern.

»Diese Phase der Erholung ist typisch. Man nennt sie auch Walking Ghost … sie ist meistens nicht von langer Dauer, Manni …« Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann ihr übers Gesicht.

Sie weint ja, dachte Manni erstaunt. Er verstand das alles nicht. Nora ging es doch besser. Trotzdem schnürte es ihm das Herz ab. Warum zum Teufel weinte Ruth denn?

»Aber es geht ihr besser«, brüllte er los und packte sie an beiden Schultern. Er rüttelte sie, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Besser, verstehst du!«

»Wir wissen nicht, wie viel sie abbekommen hat. Es hängt von der Dosis ab. Sie hat vielleicht noch eine Chance.«

Manni starrte sie immer noch an. Dann schüttelte er den Kopf. »Du spinnst ja … ich war bei ihr … es geht ihr besser«, stammelte er. Abrupt drehte er sich um und rannte los. Dass er Ruth dabei so heftig von sich stieß, dass sie stürzte, merkte er nicht.

* * *

Chefrunde. Grothe hatte die Eskalationsstufe eingeleitet. Wasserwirtschaft, Klärwerke, Teile des Krisenstabs, technische Ingenieure, Meininger als Bereichsleiter Wasser und Abwasser sowie Meiningers Chef, Richard Brommel. Und immer noch Grothe, der mit seinen mittlerweile völlig zerrupften Haaren und dem zerknitterten Sakko dem Bild eines zerstreuten Professors glich, schusselig, fahrig und wenig praktisch veranlagt. Dennoch war Ruth dankbar für die Anwesenheit ihres Chefs. Soeben hastete Breuer, der persönliche Referent des Oberbürgermeisters, in den Raum, den dieser so überraschend zum Leiter des Krisenstabes ernannt hatte.

»NORM-Schlämme! In meinem Trinkwassergewinnungsgebiet!«, rief Dr. Zohns nun zum wiederholten Male und wrang die Hände. Sein rundes Gesicht war rot angelaufen.

Ein Choleriker, dachte Ruth. Das machte die Sache nicht gerade leichter.

»Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!«

»Leider …« Ruth führte die Hände in einer bedauernden Geste vom Körper nach oben. »Wir wissen nicht, wie viele Fässer, aber dass es sich um NORM-Schlämme handelt, daran gibt es keinen Zweifel.«

»Haben wir nicht frühzeitig gewarnt? Haben wir nicht eine offizielle Stellungnahme abgegeben zur Gefahr der Trinkwasserverseuchung, die das Fracking hier im Ruhrgebiet mit sich bringt? Und jetzt so was. Konrad, so sag doch auch mal was!«

Konrad Steiger schüttelte nur stumm den Kopf.

»Was soll man denn noch tun?«, empörte sich Zohns weiter. »Wir haben uns wirklich weit aus dem Fenster gelehnt damals mit unserer Stellungnahme im Jahr 2011. Aber niemand wollte auf uns hören. Wie um Himmels willen kommen Fässer mit Abfallschlämmen der Öl- und Gasindustrie hier in unser Trinkwassergewinnungsgebiet? Wie?« Anklagend richtete er seinen Zeigefinger auf Ruth.

Ruth räusperte sich. »Recycling«, sagte sie knapp. »Die Schlämme werden hier in Essen aufbereitet. Man entzieht ihnen das Quecksilber. Wussten Sie das nicht?«

Diese Auskunft verschlug Zohns die Sprache.

»Zurzeit vermuten wir, dass die Fässer von dieser Recyclingfirma stammen. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Warum sie an unterschiedlichen Stellen der Stadt in Erscheinung getreten sind, wissen wir nicht. Außerdem handelt es sich hierbei nicht um Fässer mit Schlämmen, sondern um Fässer mit dehydrierten Schlämmen, was die Sache nicht gerade besser macht. Das bedeutet nämlich, dass wir es hier durch die Komprimierung mit einer noch viel höheren Radioaktivität zu tun haben als im Ausgangsmaterial. Der Verlauf der Erkrankungen und die eingetretenen Todesfälle weisen auf einen hohen Grad an Strahlung hin. Leider.« Erneut hob Ruth ihre Hände zu einer bedauernden Geste.

Zohns verdaute diese Information mit leicht geöffnetem Mund.

Wie ein Karpfen, fuhr es Ruth durch den Kopf. An anderen Tagen hätte sie diese ungewollte Assoziation belustigt. Heute schob sie das Bild so schnell wieder beiseite, wie es aufgekommen war.

»Also, meine Herren«, fuhr sie fort. »Ob und in welchem Ausmaß das Trinkwasser bereits in Mitleidenschaft gezogen wurde, können wir zurzeit noch nicht sagen. Erste Proben werden gerade von den Brunnen der Stadt genommen, das Landesamt für Umweltschutz ist bereits vor Ort. Unsere Aufgabe ist es nun, zu verhindern, dass kontaminiertes Wasser in den Trinkwasserkreislauf der Stadt gelangt. Wir müssen den Nachschub abklemmen, bis wir wissen, wovon wir genau reden. Weitere Wortmeldungen bitte kurz und knapp. Es gibt noch viel zu tun.«

»Sie wollen den Leuten das Wasser absperren?«, fragte Breuer entgeistert.

»Wo wohnen Sie?«, wandte sich Ruth mit eiskalter Stimme direkt an den Fragesteller. »Hier in Essen? Na, dann viel Spaß beim Zähneputzen.« Sie wandte sich den anderen zu. »Vor ein paar Tagen erst habe ich gelernt, dass das Trinkwassergewinnungsgebiet Essen-Süd weite Teile der Stadt mit Frischwasser versorgt. Was anderes als Absperren ist ja wohl kaum möglich. Allemal besser, als die Menschen mit kontaminiertem Wasser zu vergiften. Oder haben Sie eine andere Idee?«

Breuer kapitulierte und senkte den Blick.

»Ein Vorschlag zur Güte«, mischte sich einer der beiden Ingenieure ein, die Dr. Zohns mitgebracht hatte. »Wir haben doch sicher Internet hier?« Er stand auf und ging zu Ruth hinüber.

Ruth nickte und machte ihm Platz.

»Karl-Heinz Koberg mein Name. Wenn Sie erlauben«, er tippte einen Link im Browser ein, »hier ist eine schematische Skizze von der Wassergewinnung Essen. Vielleicht, wenn man den Beamer einschalten könnte …«

Kurz darauf wurde eine Querschnittzeichnung großformatig an die Wand geworfen.

»Das hier ist natürlich nur eine vereinfachte Form der Darstellung. Es gibt mehrere Möglichkeiten der Sperrung. Am Anfang der Wassergewinnungskette wird das Oberflächenwasser der Ruhr über eine Pumpstation in einen Bereich gepumpt, in dem das Ozon aus dem Wasser herausgeholt wird.« Der Ingenieur bewegte den Cursor zu der mit einem Dreieck gekennzeichneten Pumpstation in der Grafik. Dann führte er die Maus auf zwei Tanks, über denen der Begriff »Flockung« stand. »Das hier sind Vorratstanks, in denen das Wasser aufbereitet wird. Dort werden Kleinstpartikel und Schwebstoffe erst gebunden, dann abgesondert. Von hier wird das Wasser durch die Aktivkohlebecken geleitet. Es durchläuft eine Schicht von Filterkohle, Sand und Stützkies, bevor es als sogenanntes Reinwasser in einem Zwischenspeicherbecken landet. Dann kommt noch der Langsam-Sandfilterbereich, von wo aus das Wasser über eine Sammelleitung in den ersten Brunnen gepumpt wird. So weit klar?«

Ruth nickte.

»Mit Hilfe eines flexiblen Rohrsystems, das sich je nach Füllstand heben und senken kann, gelangt das Wasser unter der Ruhr hindurch zum zweiten Brunnen der Anlage. Von hier aus geht es ins Pumpwerk, wo das Wasser neutralisiert und desinfiziert wird. Im letzten Schritt läuft das Wasser in den Wasserbehälter und wird in das Trinkwassernetz der Stadt eingespeist. Unterbrechen können wir an fast jeder Stelle. Die Frage ist, wo genau die Verunreinigung entsteht, wo also genau die Radioaktivität freigesetzt wurde, und ob es noch mehr bislang unentdeckte Quellen geben kann. Es sollten Proben aus allen Zwischenstationen der Wasseraufbereitung genommen werden. Um ganz sicherzugehen, würde ich erst einmal jeden Riegel vorschieben, den wir nur vorschieben können, sonst haben wir unsere ganze schöne neue Anlage versaut.«

»Großer Gott«, murmelte Zohns. »Das wäre ja kaum auszudenken. Die Dükeranlage haben wir doch gerade erst neu gebaut! Eine riesige Investition, ich darf gar nicht darüber nachdenken …«

»Dann veranlassen Sie es bitte, Herr Dr. Zohns. Jetzt. Und Sie, Herr Breuer, informieren bitte den Krisenstab und leiten die notwendigen Schritte ein.«

»Die da wären?«, fragte Breuer.

Wie kann man diesen Schnösel bloß zum Leiter des Krisenstabs ernennen, dachte Ruth zum wiederholten Mal. Sie holte Luft, um zu antworten.

»Herrgott noch mal, Sie sind doch Leiter des Krisenstabs«, ging Grothe jedoch bereits dazwischen. »Arbeiten Sie nicht schon seit gestern an dem Notfallplan? Trommeln Sie Ihre Leute zusammen und gehen Sie die notwendigen Schritte durch. Das Technische Hilfswerk muss ran und die Feuerwehr. Die Bevölkerung muss mit Trinkwasser versorgt und so gewarnt werden, dass keine Panik entsteht. Um die Probeentnahmen im Trinkwassernetz kümmern wir uns. Vielleicht könnte Herr Koberg, der uns gerade freundlicherweise diesen Prozess erläutert hat, das LANUV bei dieser Aufgabe unterstützen. Wäre das möglich, Herr Dr. Zohns? Sie leihen uns doch Ihren Mitarbeiter. Und am besten noch zwei, drei weitere fähige Ingenieure dazu.«

Grothe wartete gar nicht erst Zohns Reaktion ab, sondern schoss weiter in Richtung von Breuer. »Außerdem brauchen Sie Suchtrupps, um das Gelände flussabwärts systematisch abzusuchen. Der ganze Baldeneysee bis hin zur Staumauer in Werden, beidseitig! Nehmen Sie Experten zu Hilfe, die Ihnen erklären, wo weitere Anlandungen am wahrscheinlichsten sind, auch unter Berücksichtigung des Hochwassers. Da müssen Sie mit der Suche beginnen. Weiter können die Dinger eigentlich nicht getrieben sein, es sei denn, das Hochwasser ist über die Mauern des Wehres hinausgeschossen. Auch das müssen Sie klären, Herr Breuer. Und jetzt dalli!« Grothe klatschte in die Hände. »Ich komme später nach. Den Oberbürgermeister informiere ich selbst.«

Ruth beobachtete mit Staunen die Wandlung ihres Chefs vom freundlichen, etwas schusselig wirkenden Professor zu einem dynamischen Energiebündel. Sie hatte ihn völlig unterschätzt. »Und was soll ich machen?«, fragte sie kleinlaut.

»Sie bleiben erst mal aus der Schusslinie raus«, kommandierte Grothe. »Das hier ist ab sofort Chefsache. Mit dem Krisenstab schlage ich mich rum, nicht weil Sie Ihre Arbeit nicht gut gemacht haben, sondern weil ich Sie woanders brauche. Sie halten im Amt die Stellung und koordinieren die Kommunikation mit dem LANUV. Die müssen heute noch die Wasserproben nehmen, damit wir morgen, spätestens übermorgen, die Ergebnisse auf dem Tisch haben. Außerdem will ich, dass Sie die Koordination mit den Krankenhäusern übernehmen. Je besser die Bescheid wissen, desto besser können die Erkrankten behandelt werden. Und dann sehen Sie zu, dass Sie heute Abend Land gewinnen. Sie brauchen Schlaf. Ich weiß, dass das schwer ist in einer solchen Situation, aber Sie sehen furchtbar aus. Ich will nicht, dass Sie mir zusammenklappen!«

Damit war sie entlassen.

* * *

Gerade wollte Idgie die Maschine starten, da entdeckte sie den Cateringwagen. Drei Männer mit weißen doppelknopfreihigen Jacken, die sie als Mitarbeiter der kochenden Zunft auszeichneten, entluden den Transporter und trugen allerhand Gerätschaft ins Gebäude hinein. Warmhalteplatten, registrierte Idgie, und rechteckige Nirosta-Schalen, wie sie auch in Kantinen zu finden waren. Hier wurde eindeutig ein Büfett angekarrt und eindeutig nicht durch den Haupteingang.

Idgie handelte schnell. Sie hängte sich ihren Rucksack über die Schulter, setzte den Motorradhelm auf und klappte das Visier nach oben, so, wie sie es vor einiger Zeit mal bei einem der vielen privaten Kuriere gesehen hatte, der wichtige Briefe transportierte. Dann stiefelte sie durch die Tür des Nebeneingangs hinein.

»Kurierdienst, ich hab hier was für Doktor …«, murmelte sie, sobald sie jemandem begegnete. Aber es nahm ohnehin niemand Notiz von ihr, denn alle rannten emsig hin und her, ganz damit beschäftigt, schnellstmöglich ihren Job zu verrichten. Kurze Zeit später stand sie etwas unschlüssig in einem Treppenhaus, das in die Vorhalle zu führen schien. Jetzt bloß keine Schnellschussaktion, sonst war sie ruckzuck wieder draußen.

Sie nahm den Helm ab, setzte sich auf die Stufen, stützte den Kopf in die Hände und überlegte, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Instinktiv hatte sie die Chance genutzt, dort einzudringen, wo man ihr den Zutritt verweigerte. Wie eine Katze, die grundsätzlich gerade durch die Tür will, die verschlossen ist, so rein aus Prinzip. Aber was wollte sie hier überhaupt ausrichten? Was trieb sie jetzt an, und was bezweckte sie damit?

Ich bin wütend, dachte sie. Wütend über die Selbstverständlichkeit, mit der Verfahren eingesetzt werden, ohne ausschließen zu können, dass sie sicher sind. Über die Selbstverständlichkeit, mit der ganze Landstriche verwüstet werden, die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört, das Wasser versaut wird. Und hartnäckig werden die Folgeschäden geleugnet. Die Arschlöcher übernehmen einfach keine Verantwortung für das, was sie anrichten, so einfach ist das. Sie leugnen die Zusammenhänge und machen weiter, und Politiker nehmen die Folgen billigend in Kauf, solange nicht nachweislich ihre ganze Bevölkerung geschädigt oder ihr ganzes Land vergiftet wird.

Aber genau das war der Punkt, wo man eigentlich ansetzen musste. Deutschland war ein kleines Land mit einer hohen Bevölkerungsdichte. Wenn in den USA Landstriche industriell verseucht wurden, dann war das zwar auch nicht gerne gesehen, aber angesichts dieser riesigen geografischen Dimensionen war der Schaden letztendlich dann doch nicht so groß. Sollten die Menschen doch woanders hingehen. Natürlich, überlegte Idgie, war es auch in den USA nicht Zielsetzung, Landstriche unbewohnbar zu machen. Aber es war eben auch nicht ganz so schlimm. Ganz anders in einem kleinen Land, wo kaum Ausweichmöglichkeiten bestanden. Die Pläne des Abbaus von unkonventionellem Erdgas in Deutschland waren erschreckend flächendeckend. Zu verlockend war offensichtlich der Gedanke, im eigenen Land über diese Ressourcen verfügen zu können.

Hannes war hartnäckig am Ball geblieben. Er hatte sich schon lange mit den Folgen der Atomindustrie auseinandergesetzt, die Schädigungen der Umwelt durch sie nachgewiesen und angeprangert, und war schließlich auf ein nicht minder gefährliches Abfallprodukt der Erdöl- und Erdgasindustrie gestoßen, das sich, obwohl hochgradig gefährlich, in einer juristischen Grauzone bewegte. Hier hatte er angesetzt. Er hatte die bestehenden Gesetze hinterfragt, und er hatte den Lobbyismus in Frage gestellt, durch den ein so brisantes Thema einfach willentlich zurechtgebogen und bagatellisiert wurde, und zwar mit Hilfe von Gutachten, die ganz so neutral nicht waren, wie sie sein sollten.

Wenn das aufgeflogen wäre, hätte sich das Land NRW nicht so leicht damit tun können, die gewünschten Genehmigungen zu erteilen. Die Gutachten waren der zentrale Dreh- und Angelpunkt, denn sie bildeten die Grundlage für die politische Argumentation.

Hannes ist tot, schoss es ihr durch den Kopf. Tot! Sie würde ihn nie wiedersehen. Dieser Gedanke traf sie mit Wucht. Idgie verbarg ihr Gesicht in den Händen, weil ihr plötzlich das Wasser in den Augen schwamm.

Dann dachte sie an den Brief, den Hannes ihr geschrieben hatte. Er hatte gewollt, dass sie das weiterführte, was er da begonnen hatte. Er hatte es gewollt, und er hatte es ihr zugetraut. Und deshalb, sie schniefte die Rührung weg, die ihr in der Kehle saß, würde sie da jetzt reingehen und versuchen, die Bagage da drin kräftig aufzumischen.

Sie stand auf, setzte den Helm wieder auf und marschierte mit hochgeklapptem Visier durch die Vorhalle auf die Tür zum Veranstaltungssaal zu. Dort stand ebenfalls ein Sicherheitsdienst.

»Kurierdienst, ich hab hier was für …«, sagte sie ihr Sprüchlein auf und wollte sich an ihm vorbeiquetschen.

Aber er hielt auffordernd die Hand auf. »Geben Sie es bitte mir. Ich leite es sofort weiter.«

Idgie schüttelte den Kopf mit dem schweren Helm. »Tut mir leid, ich muss es persönlich abgeben.«

Der Ordner zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, aber auch ich habe strikte Anweisungen«, sagte er und baute sich fett im Türrahmen auf.

Aus den Augenwinkeln sah Idgie, wie sich Dr. Taeschel der Tür näherte. Er schien schon wieder zu telefonieren. Als er sie sah, blieb er abrupt stehen und starrte sie an.

Shit happens, dachte sie resigniert. Sorry, Hannes. Ich hab’s vermasselt.

»Meine Empfehlung an die Herren Kaiser, Haberle, Reiff, Taeschel und Reimers.« Sie machte die Andeutung einer Verbeugung. »Ich wünsche weiterhin fröhliches Golfen. Danke, ich finde allein raus.«

Den Wagen, der ihr in einigem Abstand nach Alt-Rellinghausen zu Mannis Haus folgte, bemerkte sie nicht.

* * *

Ruth kam nicht mal ansatzweise dazu, sich etwas auszuruhen. Sie gab die Informationen an die mobilen Einsatzwagen des Landesamtes weiter und erläuterte den Vorschlag des Ingenieurs Koberg, Proben an den verschiedenen Stellen der Trinkwasseraufbereitung zur schnellstmöglichen Analyse zu entnehmen. Kaum hatte sie dieses Gespräch beendet, klingelte ihr Handy erneut. Die Polizei wollte das Gesundheitsamt offiziell von den Ergebnissen der Befragung von Hermann Potelske informieren.

»Also, das ist ja vielleicht ein Arschloch«, schimpfte der Beamte von der Dienststelle Stadtmitte. »Natürlich hat er geleugnet, dass er was mit den Fässern zu tun hat. Solche Fässer würden schließlich häufig benutzt, und sie hätten ihre Rückstände immer ordnungsgemäß gelagert. Die Fässer stünden wie immer in der Lagerhalle, und selbstverständlich wären sie gezählt. Es sei zu jeder Zeit klar ersichtlich, wie viele unaufbereitete Fässer mit Bohrschlämmen geliefert wurden und wie viele Fässer mit Mineralstaub nach der Destillation wieder gelagert seien.«

»Aha«, sagte Ruth. »Und weiter?«

»Außerdem seien die Fässer ordnungsgemäß mit dem Atomwarnzeichen gekennzeichnet, obwohl das eigentlich völlig übertrieben sei, denn es würde sich um natürliche radioaktive Substanzen handeln, wie sie überall in der Erde vorkommen, nicht um radioaktiven Müll. Die Gesetzeslage sei hier ganz eindeutig. Ob diese Fässer, um die es da ginge, ein solches Zeichen aufgewiesen hätten? Nein. Na also …«

»Pfff«, schnaubte Ruth.

»In diesem Tenor ging es weiter. Und dann ist er mit uns zum Firmengelände gefahren, hat uns die Halle gezeigt und die Produktionsstätte und schließlich mit ein paar Papieren vor unserer Nase herumgewedelt. Da war die Rede von fünfundzwanzig Fässern, die in der Destille behandelt worden wären. Destille! Klingt schrecklich harmlos, als wäre es eine Schnapsbrennerei. Zwanzig Fässer ergeben nach dem Trockenprozess ungefähr acht Fässer mit Mineralstaub, hat er gesagt. Und die würden – zusammen mit den restlichen Leerfässern – von den Betreiberfirmen wieder abgeholt.«

»Das klingt nicht sehr ergiebig«, sagte Ruth müde.

»Es kommt noch doller. Potelske hat versucht, dem Pförtner alles in die Schuhe zu schieben. Dem, der die Sache gemeldet hat. Der sei dafür zuständig, zu kontrollieren, dass da auch wirklich immer alles abgeholt würde. Wenn der auf seine eigenmächtige Art was verbockt hätte, dann sei das ja schließlich nicht Potelskes Problem. Kackfrech ist der, wirklich. Aber dann …«

Der Beamte machte eine Pause. Ein Schlürfen verriet, dass er etwas trank. Ruth trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen die Kante des Schreibtischs.

»Also, während wir noch mit Potelske beschäftigt waren, haben sich zwei weitere Beamte unauffällig auf dem Gelände umgesehen. Hinter der Lagerhalle sah es so aus, als wäre dort frisch betoniert worden. Als wir Potelske danach befragt haben, wurde er ein bisschen nervös. Wir haben dann noch mal bei dem Kollegen in Steele nachgefragt, was dieser Pförtner, der Mooren, ihnen genau erzählt hat, und die haben uns das Protokoll geschickt. Es klang ziemlich wirr, was der Alte da von sich gegeben hat. Aber die Sache mit dem Gewerbegebiet war ja nun goldrichtig. Und weil dann da der Unfall passiert ist, ist ihnen die andere Sache irgendwie durch die Lappen gegangen.«

»Welche andere Sache?«, drängte Ruth.

»Der Alte hat was von einem Tagebruch auf dem Betriebsgelände erzählt. Und dass Potelske den einfach hat zuschütten lassen. Einer der Mitarbeiter ist dabei verunglückt. Ein Pole, vermutlich ein Schwarzarbeiter. Es heißt, der ist gestorben.«

»Tagebruch?«, wiederholte Ruth fragend.

»Sie kommen wohl nicht von hier?« Sie hörte ein leises Lachen. »So nennt man es, wenn ein alter Bergbaustollen einstürzt. Viele der Stollen sind nicht aufgeschüttet. Ist gar nicht so selten, dass so ein Ding zusammenkracht und einen Krater in den Boden reißt.«

Ruth spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie dachte an den Stadtplan, den sie noch vor Kurzem studiert hatte, als sie nach dem Standort der AV&R GmbH gesucht hatte. Zeche Katharina, hatte da gestanden. Zeche … Tagebruch … Nicht weit davon war Nora verunglückt … »Das muss sofort aufgemacht werden«, murmelte sie. »Brauchen Sie dafür eine Genehmigung?«

»Gefahr in Verzug?«, fragte der Beamte zögernd.

»Das kann man wahrhaftig so sagen. Aber Sie brauchen eine Spezialeinheit mit ABC-Ausrüstung. Da unten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Strahlenquelle.«

* * *

Auf ihr Klingeln hin öffnete niemand. Idgie wartete und drückte erneut auf die Schelle. Dann holte sie den Schlüssel unter dem Stein im Kübel neben dem Garagentor hervor, ein Versteck, das Nora ihr gezeigt hatte, und schloss auf.

»Hallo?«, rief sie laut. »Keiner zu Hause?« Keine Reaktion. Bei Manni war tatsächlich alles ausgeflogen. Aber vielleicht waren sie ja auch alle drüben bei Ruth. Idgie ging durch den Garten hinüber und klopfte an Ruths Küchentür. Aber auch dort rührte sich nichts. Schade. Sie hätte jetzt dringend jemanden zum Reden gebraucht.

Nervös tigerte sie auf und ab. Die Unruhe trieb sie vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche hinauf in Noras kleines Reich, wo Idgie auf der Koffermatratze in der kleinen Studierstube schlief, und wieder zurück in die Küche. Es half nichts. Die Gedanken verklumpten zu einem wirren, undurchdringlichen Gebilde, dem sie keine Struktur mehr abgewinnen konnte. Höchste Zeit, abzuschalten.

Kurze Zeit später spürte sie das beruhigende Vibrieren der Ural zwischen den Schenkeln. Sie warf einen bedauernden Blick zum Beiwagen hin. Überrascht stellte sie fest, dass sie an Filou denken musste. Er fehlt mir, gestand sie sich ein. Schön wär’s, wenn er jetzt dort im Beiwagen sitzen würde, mit flatternden Ohren, die Schnauze leicht geöffnet in den Wind gereckt, sodass es aussah, als würde er lachen. Er fehlte ihr wirklich. Aber einen Vorteil hatte es doch, dass er nicht da war. Sie konnte mal wieder richtig aufdrehen, mehr, als sie dem Hund im Beiwagen zugemutet hätte. Idgie stieß ein kleines Wolfsgeheul aus und gab Gas.

Direkt am Baldeneysee nahe einer bei Bikern beliebten kurvenreichen Landstraße gab es einen Motorradtreff, von dem Manni ihr erzählt hatte. Man musste nur der Schnellstraße längs der Ruhr stadtauswärts in Richtung Wuppertal folgen und dann den Abzweig nach Werden nehmen. Um diese Uhrzeit wird dort nicht mehr viel los sein, dachte Idgie. Nicht an diesem trüben Tag, obwohl es warm gewesen war, viel zu warm für diese Jahreszeit. Es dämmerte bereits, als Idgie den Kreisverkehr verließ und in die Landstraße einbog, die laut Beschilderung nach Werden führte.

Felder und Wiesen säumten nun den Weg, nur vereinzelt waren ein paar Häuser zu sehen. Seltsamerweise schienen es Wohnhäuser zu sein, keine Bauernhäuser. Ziemlich schnell mündete die Straße im Wald und schlängelte sich in engen Serpentinen zum Flusstal hinunter.

Idgie fuhr jetzt langsam. Sie kannte die Strecke nicht, die Kurven waren nicht ohne, und es war nun vollständig dunkel. Feiner Nieselregen setzte ein und perlte auf dem Sichtschutz ihres Helmes ab. Aus der Dunkelheit hinter ihr tauchten Lichter auf.

Ein hochgebauter Wagen schloss zügig auf. Seine Scheinwerfer lagen in Höhe ihrer Spiegel, und gleißende Blitze schossen ihr schmerzhaft in die Augen.

Mach dein Fernlicht aus, du Depp, dachte Idgie wütend. Ist der bescheuert, mir so auf die Pelle zu rücken? Sie widerstand dem Reflex, Gas zu geben.

Immer mit der Ruhe, mahnte sie sich, während sie die nächste Haarnadelkurve nahm. Bloß nicht schneller fahren. Vor ihr tat sich eine Gerade auf, und sie atmete erleichtert durch, während sie die Geschwindigkeit weiter drosselte, um den Wagen vorbeizulassen.

Aber er überholte nicht. Fiel stattdessen etwas zurück, stellte das Fernlicht ab und ging auf Abstand. Ein Geländewagen, erkannte Idgie. Aber kein alter, sondern einer dieser neumodischen Teile mit mächtig PS unter der Haube. Typische Angeberkarre, urteilte Idgie verächtlich. Einer von diesen hirnlosen Wichtigtuern, die meinten, sie hätten die Straßen für sich gepachtet, bloß weil sie ein teures Auto fuhren.

Der Wagen fiel noch weiter zurück. Kramte vermutlich nach seinem Handy, der Kerl. Erleichtert gab sie Gas und hängte ihn ab.

Die nächste Kurve tauchte vor ihr auf. Und hinter ihr preschte der Wagen wieder heran und blendete das Fernlicht hektisch auf und ab. Auf dem Dach des Wagens ging eine Reihe gleißend heller Lampen an. Idgies Puls beschleunigte sich. Was zum Teufel sollte das? Das schwere Geschoss schloss auf und schob sich dicht neben sie, um sofort wieder zurückzufallen. Verdammt. Wollte der sie etwa rammen oder von der Straße abdrängen?

Ihr Fluchtinstinkt setzte ein. Sie gab Gas, das gleißende Licht im Nacken, wollte dem bedrohlichen schwarzen Jeep davonziehen, und drosselte augenblicklich wieder das Tempo. Zu gefährlich bei diesen Kurven, die sie nicht kannte und an denen in regelmäßigen Abständen ein Tempo-dreißig-Schild prangte, was ihren Verfolger jedoch nicht weiter zu stören schien. Wieder schob er sich neben sie wie eine bösartige Hornisse. Der Kerl machte das absichtlich.

Angst kroch ihr kalt den Rücken hinauf. Keine Panik, befahl sie sich. Ruhig bleiben. Konzentrier dich. Lass dich nicht abdrängen. Adrenalin peitschte durch ihr Blut und trieb sie an.

Wieder eine Gerade. Dieses Mal länger. Sie hatte den Talboden endlich erreicht, und Idgie jagte die Ural bis zum Anschlag hoch. Der Geländewagen heulte laut auf und hielt sich hartnäckig in ihrem Rücken. Dann schob er sich wieder neben sie. Teufel auch, war der schnell!

Lichter kamen ihr entgegen. Drei Autos in Kolonne, das erste schien zu schleichen. Fahrschule? Der Geländewagen hinter ihr dimmte die Flutlichter und ließ sich zurückfallen, und Idgie nutzte ihre Chance. Immer noch keine Kurve vor ihr. Sie trieb die Ural unerbittlich an und raste die Hammerstraße entlang. Der schwarze Wagen verlor jetzt an Boden, blieb aber immer noch in Sichtweite. Zwei weitere lang gestreckte Kurven, dann tauchten ein paar Häuser vor ihr auf. Selten hatte sie sich so über eine menschliche Ansiedlung gefreut.

Sie erreichte eine dicht befahrene Straße und hängte den Verfolger an der zweiten Ampel endgültig ab. Mit zitternden Knien fuhr sie stadteinwärts den Berg hinauf. Erst als sie die belebten Wohngebiete von Rüttenscheid erreichte, lenkte sie an den Rand und stellte ihr Navi ein. Ihre Hände flatterten so stark, dass sie Mühe hatte, die Tastatur des Geräts zu bedienen.

* * *

Manni befand sich in einem Zustand, den er selbst out of order genannt hätte und aus dem er nun langsam, aber sicher wieder aufzutauchen begann.

Eigentlich hatte er vorgehabt, direkt zum Krankenhaus zurückzufahren. Stattdessen hatte er die Stadt Richtung Südosten verlassen. Ziellos war er einfach drauflosgefahren, immer der Nase nach, nur raus aus der Stadt, immer weiter, bis er sich zu seinem eigenen Erstaunen in dem kleinen Örtchen Blankenstein wiederfand, dessen Burg das Ruhrtal zu überwachen schien. Ausgerechnet Blankenstein, dachte er verwundert. Hier hatte er Marion kennengelernt, auf einem Burgfest mit Gauklern und Feuerschluckern. Sie hatte klasse ausgesehen mit ihren dunklen Locken und den Sommersprossen auf Wangen und Nase, fast so viele wie bei Nora.

Manni stellte den Wagen auf dem Parkplatz am Fuße des Örtchens ab und lief den steilen Weg zur Burg hinauf, betrat den Innenhof und erstand ein Ticket, um den Turm zu besteigen. Lange lehnte er oben auf der Plattform an der steinernen Brüstung und blickte über die dichten Wälder, die das Ruhrtal hier an dieser Stelle umsäumten. Er beobachtete einen Habicht, der in der Luft seine Kreise zog, und dachte an nichts.

Natürlich stimmte das nicht. Er dachte darüber nach, wie schön ruhig es hier war und was für eine Beute der Habicht wohl im Blick hatte. Er dachte daran, dass der Wald gut roch, nach Feuchtigkeit und Erde, und dass es nicht mehr lang dauern würde, dann wäre es Sommer. Er dachte daran, dass er vergessen hatte, das eingefrorene Reisfleisch aus dem Gefrierfach zu nehmen, und dass er auf dem Rückweg unbedingt am Getränkemarkt halten und die leeren Wasser- und Bierkästen gegen volle tauschen musste.

Dieser letzte Gedanke machte ihm bewusst, dass seine Zunge wie ein pelzig dicker Lappen oben am Gaumen klebte. Er hatte Durst. Also stieg er die steilen Treppen wieder hinunter und suchte nach einer Kneipe oder einem Café, wo er etwas zu trinken bekommen könnte. Hier in Blankenstein an diesem normalen Werktag schien alles verschlafen, als würden nur die Wochenendtouristen es aus dem Dornröschenschlaf erwecken können. Also fuhr er nach Hattingen, ließ den Wagen am Rande der Altstadt stehen und steuerte ein Café in der Fußgängerzone an, das Auflauf hieß. Ein Blick auf die Speisekarte verriet, dass der Name Programm war. Manni bestellte einen Kartoffel-Spinat-Auflauf und eine große Flasche Mineralwasser, schaufelte das Gericht dann jedoch abwesend in sich hinein, ohne zu schmecken, was er da überhaupt aß.

Nun war der nagende Hunger in seinem Bauch verschwunden, und mit der Nahrung kam auch sein geistiges Getriebe wieder in Gang, das sich ein paar Stunden Auszeit genehmigt hatte.

Er war immer noch erschöpft. Aber immerhin war er wieder klar genug, darüber nachzudenken, was dort in den Ruhrwiesen vor sich gegangen war. Sie hatten nach Strahlung im Trinkwasserschutzgebiet gesucht. Und Ruth hatte von Nora gesprochen und davon, dass der Zustand der Besserung, den Manni an ihr beobachtet hatte, eventuell nicht anhalten würde.

An diesem Punkt streikte sein Gehirn. Es weigerte sich zu verstehen. Es konnte nicht sein. Nora ging es besser, der Arzt hatte es selbst gesagt. Ruth musste sich irren.

Er würde sein Kind jetzt noch mal besuchen und sich davon überzeugen.

* * *

Bei Manni war nach wie vor niemand da, und auch bei Ruth war kein Licht zu sehen. Als Idgie die Haustür aufschließen wollte, zitterten ihre Hände immer noch so stark, dass sie das Schlüsselloch nicht treffen konnte. Die Konturen verschwammen vor ihren Augen.

Erneut kroch die Wut in ihr hoch. Dieses gottverdammte Arschloch, das ihr da eben mit seiner ätzenden Bonzenkarre ans Leder gewollt hatte. Scheiße, scheiße, scheiße. Der hatte sie tatsächlich umbringen wollen, oder? Mit zusammengepressten Lippen suchte sie im Beiwagen nach der Lesebrille, die sie dort zwischen Sitz und Außenwand geklemmt hatte.

Endlich hatte sie es geschafft. Die Haustür war offen. In voller Montur stapfte sie ins Wohnzimmer und gönnte sich einen großzügigen Schluck Cognac aus Mannis kleiner Hausbar, den sie in einem Zug leerte. Und gleich noch einen.

Sie ließ sich aufs Sofa fallen und horchte in sich hinein. Während der Alkohol wohlig durch ihre Glieder flutete, perlte das Adrenalin langsam aus ihrem Körper. Den dritten Cognac trank sie in kleinen Schlucken. Nachschub kaufen, notierte sie im Hinterkopf. Morgen früh gleich. Dann schlief sie ein.

Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Aber ein stechender Schmerz im Nacken verriet ihr, dass es nicht gerade bequem gewesen war, und Tausende von Ameisen prickelten mit schmerzhaft kleinen Stichen ihrem taub gewordenen rechten Arm wieder Leben ein.

Idgie entledigte sich der Motorradjacke und hängte sie an die Garderobe. Steifbeinig stakste sie die steile Stiege hinauf zu dem kleinen Zimmer mit den Dachschrägen, in dem sie die letzten Nächte geschlafen hatte. Noras Studierstübchen, bestehend aus einem Schreibtisch mit PC, einem Ikea-Sofa und den obligatorischen Billy-Regalen, angefüllt mit Büchern und allerhand Krimskrams. Sie tastete nach dem Lichtschalter, der sich irgendwo hinter den Streben des Regals befand. Irgendwo … ach egal. Das Licht der Straßenlaterne reichte auch.

Sie schälte sich aus ihrer Motorradkluft, löste das Haargummi aus ihren Locken und schüttelte sie aus. Dann trat sie ans Fenster und massierte sich den schmerzenden Nacken. Eine heiße Dusche würde jetzt guttun, dachte sie, um die steifen Gelenke wieder zu mobilisieren. Und ein Tee. Vielleicht konnte sie irgendwo auch eine Wärmflasche für den Nacken auftreiben. Mitten in der Bewegung erstarrte sie.

Ein schwerer Wagen rollte langsam die kleine Straße entlang. Schwarz. Hoch gebaut. Dunkel getönte Scheiben. Ranger, stand in fetten Lettern unterhalb des Kühlergrills. Direkt vor Mannis Haus blieb er stehen, und Idgie starrte auf die Reihe der Scheinwerfer auf dem Dach, die nun allerdings ausgeschaltet waren. Der Geländewagen!

Instinktiv trat Idgie einen Schritt vom Fenster zurück und hielt die Luft an. Der Wagen rollte langsam weiter, und sie traute sich wieder näher ans Fenster heran. Ein Anwohner, der zufälligerweise auch so eine Ätzkarre fuhr? Das Birnchen über dem Kennzeichen war aus. Absicht? Aber im Licht der nächsten Straßenlaterne erkannte sie dann doch die Buchstaben auf dem Nummernschild. DU-PF 7 … Mehr konnte sie nicht lesen. Nur, dass der Wagen hinten an der Biegung der Straße anhielt, das sah sie deutlich.

Das gibt’s doch nicht. Ihr Herz raste einen holprigen Galopp, während Bilder im Schnelldurchlauf durch ihren Schädel spulten. Woher zum Teufel wusste der, wo sie sich aufhielt?

Die Angst schnürte sie ein wie ein Python sein Opfer. Sie begann, schnell und hektisch zu atmen.

Er war hier!

Wer denn eigentlich?

Keine Ahnung. Der Kerl halt. Der, der in ihrem Haus gewesen war. Der, der so nach Rauch gestunken hatte. Der, der Hannes auf dem Gewissen hatte. Der, der die Festplatte haben wollte. Aber wie hatte er sie hier gefunden?

Das war doch jetzt völlig egal. Denn dass er es ernst meinte, stand außer Frage. Das Wie, das brachte sie im Moment nun wirklich nicht weiter.

Was sollte sie jetzt tun?

Mit flatternden Händen stieg sie in ihre Jeans und zerrte am Reißverschluss. Dabei verklemmte sich der Zipfel des T-Shirts zwischen den Zähnen. »Reiß dich gefälligst zusammen, Callahan«, raunzte sie sich an und zerrte den Stoff aus der Verzahnung.

Kamforski, schoss es ihr durch den Kopf. Du musst Kamforski anrufen. Er wird wissen, was du jetzt tun musst.

Aber war das wirklich nötig? Sie warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Der schwarze Wagen stand immer noch dort, kaum erkennbar im tiefen Dunkel des Waldrandes, hinten, an der Biegung der Straße.

Kamforski, entschied sie und schlich sich hinunter in den Flur, wo sie ihre Jacke mit dem Handy an die Garderobe gehängt hatte.

* * *

Zum dritten Mal an diesem Tag fuhr Ruth mit dem Aufzug in den zehnten Stock des Essener Rathauses hinauf. Oder war es heute erst das zweite Mal? Sie erinnerte sich nicht mehr. Zu viel war passiert in den letzten Tagen. Nur, dass ihr seit einigen Stunden nicht mehr übel war, das fiel ihr jetzt auf, als sie an der Tür der Damentoilette vorbeiging.

Der kleine Konferenzraum war dunkel. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf den hellen Flächen der Tische. Wo steckten die denn bloß alle? Ratlos stand Ruth in der Halle und überlegte, was sie nun tun könnte.

Der Adlatus des Oberbürgermeisters kam aus der Herrentoilette heraus. Er hastete an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, und verschwand am Ende des Flures in einer Doppeltür, die er wieder hinter sich schloss.

Ruth stürzte hinterher, riss die Tür auf und blieb erstaunt stehen.

Der Raum war groß, ungefähr dreimal so groß wie der Konferenzraum, den sie kannte, und er war ebenso vollgestopft mit Technik wie mit Menschen. Eine gewaltige Klangkulisse unterschiedlicher Stimmen brach über sie herein. Dazwischen das Rattern eines Druckers und das unverkennbare Zischen einer Espressomaschine. Erleuchtete Monitore, blinkende Rechner, Scanner, Drucker, Kopiergeräte und etliche Telefone warteten auf ihren Einsatz. In den letzten Stunden war hier die Kommandozentrale des Krisenstabs aus dem Boden gestampft worden.

Ruth kannte die grobe Struktur eines Krisenstabes zur Gefahrenabwehr. Früher hatte es Katastrophenschutz geheißen. Heute mochte man von Katastrophen allein nicht mehr so gerne sprechen. Stattdessen nannte man es Gefahrenabwehr. Egal. Die Grundstruktur eines solchen Krisenstabes war zweigeteilt. Der Verwaltungsstab war mit den organisatorisch-administrativen Aufgaben betraut, ein Führungsstab mit der Steuerung der technischen Einsätze, also des Personals, das in der Lage war, ein solches Großschadensereignis, wie es so hübsch neutral hieß, fachlich zu stemmen. Das waren Gruppierungen wie Feuerwehr, Polizei, Technisches Hilfswerk, Katastrophenschutz. Zu den Aufgaben des Verwaltungsstabes gehörten insbesondere die Gewährleistung und Koordinierung der Öffentlichkeitsarbeit.

»Tür zu«, hörte sie jemanden brüllen. Mehr Notiz nahm man nicht von ihr, zumal sie dem Kommando augenblicklich Folge leistete. Keine Frage: In diesem Raum hier wurde gerade heftig gestritten. Es ging um die Informationspflicht. Die Frage, wann und in welchem Umfang die Bevölkerung informiert werden musste.

»Wenn die Leute feststellen, dass in der gesamten Stadt kein Wasser mehr aus dem Hahn kommt und dann auch noch der Grund bekannt wird, dann ist mit Panik zu rechnen. Wir müssen noch warten. Natürlich nicht einfach abwarten, sondern uns vorbereiten.« Die Frau, die da ihre Stimme erhob, hatte graues kurz geschorenes Haar und machte einen kantigen Eindruck. Ihre Stimme klang unnachgiebig. Kampferprobt, dachte Ruth. Die hat schon eine Menge Schlachten geschlagen.

»Wir können doch nicht einfach weiter verseuchtes Wasser durch die Leitungen schicken. Wir müssen mobile Versorgungsstellen für Trinkwasser einrichten. Jetzt. Und zwar so lange, bis das Ausmaß des Schadens analysiert ist.«

»Diese Schritte sind schon längst eingeleitet. Aber wir brauchen noch Zeit.« Die Frau war unerschütterlich. »Kennen Sie die Folgen einer Massenpanik? Wir sind einfach noch nicht so weit, sie schnell in den Griff zu kriegen. Wir warten die Analysen ab und bereiten uns auf den Fall der Fälle vor, der hoffentlich nicht eintritt.«

»Kostbare Zeit verstreichen lassen, nur weil Sie nicht in die Gänge kommen? Das ist jetzt nicht Ihr Ernst …«, brüllte jemand unbeherrscht.

»Wir sind bereits in den Gängen«, sagte die Frau kühl. »Aber noch mal: Wir müssen es gut vorbereiten, bevor wir die Bevölkerung damit konfrontieren. Es wird auch so schon schwer genug. Eine Großstadt mitten in einem Ballungszentrum! Wir brauchen noch Zeit.«

Wie lange wird das dauern?, fragte sich Ruth entsetzt. Zeit ist genau das, was sie nicht haben.

* * *

Kamforski drückte auf die Tube und fluchte, weil das Licht des Gegenverkehrs ihn blendete. Die spiegelnden nassen Straßenbeläge machten die Sache nicht gerade besser und der Alkohol in seinem Blut erst recht nicht. Er überlegte flüchtig, wie viel Bier er intus hatte. Zwei Nulldreier, mehr auf keinen Fall, da war er sich sicher. Und ordentlich gegessen hatte er auch. Himmel und Erde, worauf jetzt eigentlich ein ordentlicher Verdauungsschnaps gehören würde.

Hoffentlich reagierten die Essener Kollegen auch wirklich schnell. Und wenn nicht? Dann … Er dachte an die Wanzen, die er gefunden hatte, und trat das Gaspedal noch weiter durch.

»Pass bloß auf, dass du dich nicht um den nächsten Baum wickelst, Kamforski«, knurrte er. »Dann kannst du erst recht nichts ausrichten …«

Das Bochumer Kreuz erreichte er in Rekordzeit.

* * *

Sie entdeckte Grothe auf der anderen Seite des Raumes und winkte ihm zu. Erleichtert registrierte sie, dass er sie gesehen hatte und sich unverzüglich in Bewegung setzte.

»Wer ist die eiserne Lady da drüben?«, flüsterte Ruth.

»Innenministerium«, flüsterte Grothe zurück. »Sie koordiniert die Einsatzkräfte. Und was führt Sie schon wieder hierher? Sie sollten sich doch aus der Schusslinie halten.«

»Dann gehen Sie gefälligst an Ihr Handy. Was meinen Sie wohl, wie oft ich versucht habe, Sie in der letzten Stunde zu erreichen.« Ruth war sauer.

»Oh!« Grothe sah schuldbewusst aus, während er seine Hosentaschen abklopfte. »Ich hatte … es ist … lautlos … muss wohl in meiner Anzugjacke sein … also, was gibt’s?«

Fünf Minuten später hatte sie ihn über Potelske, den Tagebruch und ihren Verdacht in Kenntnis gesetzt, dass hier die Ursache für die radiotoxischen Stoffe in Abwasser und auch dem Trinkwasser zu suchen sei.

»Vielleicht hilft das ja, gewisse Entscheidungen zu beschleunigen«, sagte sie zynisch.

Sie überließ den Krisenstab seinem Schicksal und verließ das Rathaus.

* * *

Es war dunkel, als Manni die Krankenstadt in Holsterhausen erreichte, dieses gespenstische Monstrum, groß wie ein ganzes Stadtviertel. Er brauchte allein fünf Minuten, um vom Parkhaus aus zu dem Gebäude zu gelangen, und weitere zwei Minuten, bis der Aufzug kam und ihn hinauf zu der Station trug, auf der seine Tochter lag. Bangen Herzens öffnete er die Tür.

Er war auf vieles gefasst, aber darauf nicht. Gestützt von großen Kissen saß seine Tochter in fast aufrechter Position im Bett und versuchte hastig, etwas zu verstecken. Aber sie war nicht schnell genug, und dieses Etwas polterte krachend auf den Boden.

»Oh, Mist«, sagte Nora. Dann erkannte sie ihn, und obwohl sie zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe wirkte und die vielen Sommersprossen immer noch wie die Sprenkel dunkler Schokolade aus der Kreide ihres Gesichtes herausstachen, obwohl ihre kurzen Haare vom langen Liegen flach an den Kopf gepappt waren und seltsam ausgedünnt wirkten, war ihr Blick klar und ihr Lächeln strahlend. »Paps, das ist aber schön! Könntest du bitte … mein Handy …«

Manni bückte sich und angelte nach dem pinkfarbenen Telefon, das unter das hohe Krankenbett gerutscht war. Er legte es auf den weiß emaillierten Nachttisch, setzte sich auf die Kante ihre Bettes und nahm Nora in die Arme. Sie roch seltsam, irgendwie nach einem Gemisch von Körpermuff, Desinfektionsmitteln und etwas, was er nicht einordnen konnte. Als sie ihre dünnen Arme um ihn schlang und ihn an sich drückte, wollte er sie gar nicht mehr freigeben.

Ruth liegt falsch, dachte Manni, sein Gesicht in die zarte Neigung zwischen Schlüsselbein und Hals versenkt. Sie hat sich geirrt. Felsbrocken purzelten ihm von der Seele, und sein Herz war plötzlich randvoll, so voll, dass er dachte, es müsse gleich platzen vor Glück.