KAPITEL 14
Essen, 9. April
Der Getränkehandel neben dem Supermarkt für Tierfutter war bereits geschlossen, und Ruth fluchte, weil sie nicht eher daran gedacht hatte. Aber Rewe schräg gegenüber dem Gewerbegebiet an der Rellinghauser hatte noch auf, ebenso wie andere große Lebensmittelketten.
Ruth lud sich den Einkaufswagen voll mit den in Plastik eingeschweißten Sixpacks der Anderthalb-Liter-Flaschen Wasser und zahlte. Dann fuhr sie weiter die Rellinghauser hinunter Richtung Ruhr und steuerte Aldi an. Und weiter ging es zu Lidl, Edeka und einem weiteren Aldi.
Den Kombi vollgepackt mit fünfzig dieser Sixpacks in softem Plastik, machte Ruth sich schließlich auf den Heimweg. Mehr wollte sie nicht schleppen. Sie würde Manni und Jan noch mal losschicken, beschloss sie. Aber das musste schnell gehen. Vierhundertfünfzig Liter für fünf Personen, damit kam man nicht weit.
* * *
Seit sie mit Kamforski telefoniert hatte, fühlte Idgie sich besser. Sie fragte sich sogar flüchtig, ob sie nicht doch überreagiert hatte. Vielleicht war das ja nur so ein blöder Spinner mit einer Wichtigtuerkarre gewesen. Und vielleicht war es nicht die gleiche Wichtigtuerkarre, die jetzt dort unten am Waldrand stand. Dann dachte sie an Hannes’ Tod und den Einbruch in ihrem Haus. Nein. Sie hatte sich absolut nichts eingebildet.
Es war wohltuend gewesen, Kamforskis Stimme zu hören, und noch wohltuender war das Wissen, dass er unterwegs war. Jetzt saß sie im Dunkeln auf dem Sofa unten in Mannis Wohnzimmer und wartete. Flüchtig überlegte sie, ob sie sich noch einen weiteren Schwenker genehmigen sollte, gefüllt mit dieser wunderbar goldgelben Flüssigkeit. Sie entschied sich dagegen. Die von der Streife sollten sie nicht für eine Schnapsdrossel mit Aufmerksamkeitsdefizit halten.
Falls jemand sich zwischenzeitlich dem Haus näherte, solle sie die 110 anrufen, ohne zu zögern, hatte Kamforski ihr eingebläut. Und sie sollte ihm in jedem Fall die Ankunft der Kollegen melden. Er machte sich Sorgen um sie. Dieser Gedanke war so schön, dass Idgie sich an ihm festhielt, während sie sich bequem in die Sofaecke kuschelte, Kamforskis breites, ruhiges Gesicht vor ihrem inneren Auge. Dieser graue Zopf … ein bisschen albern bei einem Mann seines Alters, aber es hatte nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern mit Understatement, da war sie sich sicher. Nicht Lagerfeld, sondern Altfreak … Plötzlich fühlte sie sich schläfrig. Nur für einen kurzen Moment die Augen schließen … nur für einen ganz kurzen Moment.
Ein Geräusch ließ sie hochschnellen. Es klang wie zerschellendes Glas. Ganz in der Nähe. In diesem Haus etwa? Dann spürte sie den Luftzug. Gefahr, signalisierten ihre Sinne. Das Handy. 110. Anrufen. Aber leise … er weiß nicht, wo ich stecke.
Schweiß brach ihr aus allen Poren, während sie nach dem Gerät tastete. Mist! Das war irgendwo auf dem Sofa verschüttgegangen. Hektisch begann sie zu suchen, schob die Hände in die Ritzen des Polsters, grub unter den Kissen. Das verdammte Ding blieb verschwunden.
Wo war dieser Dreckskerl? Sie war sich sicher, dass er im Haus war. Und wo blieben die Bullen? Kamforski hatte doch gesagt, dass er die Streife … Der war hier im Haus! Ich muss weg, raus, raus auf die Straße, um Hilfe rufen …
Leise stand sie auf und verfluchte das Rascheln, das sie dabei verursachte. Sie schlich zur Wohnzimmertür und spähte ins Dunkel des Flures. Hinter dem Milchglas der Eingangstür schimmerte es hell. Eine Straßenlaterne. Da musste sie hin. Sie schlich weiter.
Die Bewegung hinter sich spürte sie mehr, als dass sie sie hörte. Aber es war zu spät, um zu reagieren. Mit einem Ruck wurde sie nach vorne geschleudert, und mit leichter Verzögerung schnitt ein greller Schmerz quer durch ihren Kopf. Eins über den Schädel … konstatierte sie. Dann war sie weg.
* * *
Hätte man ihm jetzt die Frage gestellt, wie er sich gerade fühlte, man hätte nur ein hilfloses Schulterzucken geerntet. Denn Manni fühlte sich leer. Leerer als eine Flasche Bier nach dem letzten Zug. Leerer als die Geldbörse seiner Tochter zum Monatsende. Leerer noch als die Batterie eines VW Käfer, bei dem man vergessen hatte, die Scheinwerfer auszuschalten.
Ausgebrannt bis auf das letzte Volt, das war er. Kein Gedanke in seinem Kopf. Nur Watte, Müdigkeit und dieses Loch, in dem er lieber nicht rühren wollte. Was auch immer sich darin befinden mochte, er wollte es nicht haben. Nicht heute Abend. Nicht nach diesem Tag, der wie eine Krankenhaus-Soap begonnen und geendet hatte. Heute Abend galt es nur noch abzuschalten. Die Bilder zu vergessen. Die Ruhrwiesen. Die Menschen in weißen Anzügen. Nicht mehr an Noras Sommersprossen zu denken, die hart aus dem allzu bleichen Teint herausstachen, nicht an die seltsam ausgedünnten Haare und den merkwürdigen Geruch und schon gar nicht an Ruths Worte. Nur an das strahlende Lächeln seiner Tochter wollte er denken und daran, wie sie Paps gesagt hatte. Hübsch den Deckel draufhalten auf diesem Loch. Ein paar Bierchen zischen und dann eine ordentliche Mütze Schlaf nehmen.
Es ging ihr nämlich besser. Er hatte mit ihr geredet. Sie hatte Paps zu ihm gesagt und gelächelt. Unkraut vergeht nun mal nicht. Seine Tochter war zäh. Zäh wie er selbst. Zwei, drei Bierchen, vielleicht noch einen Film … bloß nichts Aktuelles … irgendwas vom Band, und dann schlafen. Mit diesem Gedanken fuhr er die Rübezahlstraße hinauf, bog über die Silberbank ins Schatzreich ein und knallte so hart auf die Bremse, dass der Wagen absoff.
Dort, wo sich sein Haus befand, zuckte es nervös. Licht. Blau. Rotierend. Ein Blaulicht. Vor seinem Haus. Das war zu viel. Das war einfach zu viel. Ich spinne, dachte er. Aber vielleicht träumte er ja auch nur.
Wie in Trance steuerte er den alten Volvo an dem Streifenwagen vorbei, dessen rotierendes Drehlicht auf dem Dach im Sekundentakt gespenstische blaue Blitze in die Dunkelheit schoss, rollte vor die Garage und stieg aus. Ging zur Haustür, wühlte im Schlüsselbund nach dem passenden Schlüssel und sah die zerschlagene Scheibe neben der Eingangstür … das Fenster zur Abstellkammer ist eingeschlagen … wollte die Tür aufschließen … die Tür ist eingetreten … hängte seine Lederjacke an die leere Garderobe … da lag ja alles wirr auf dem Boden herum … stieg über die Jacken und Mäntel hinweg, ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa.
Verwundert sah er sich um. Ein Traum, eindeutig. Das hier war nicht sein Wohnzimmer. Also irgendwie schon, aber … das hier, das war Chaos. Leer gefegte Regale, Bücher in wildem Durcheinander auf den Holzdielen, dazwischen Schubladen, den Rücken der Spanplatte nach oben gereckt. Metallisch runde Scheiben glänzten an der einen oder anderen Stelle, CDs, erkannte Manni, und nacktes Plexiglas, Hüllen, aus denen die Booklets herausgerissen waren. Und außerdem roch es hier komisch …
Neben dem Sofa auf dem Beistelltischchen standen eine Flasche bereits reichlich dezimierten Cognacs sowie ein Glas. War das nicht sein bester Tropfen, der teure für besondere Gelegenheiten? Manni schüttete sich kräftig ein und stürzte das Glas in einem Zug hinunter. Eine Stimme drang zu ihm durch, sehr fern und seltsam weit weg. Die Hand auf seiner Schulter jedoch war warm.
Er folgte der Linie des Armes. Hellbraun … Breitcord … wer trägt denn heute noch so was? Ein struppiger Dreitagebart, grau … ebensolche Haare, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, na, wer’s mag … auf jeden Fall kannte er den nicht … ganz schön groß, der Kerl, und massig, hatte was Teddymäßiges an sich … der hatte die besten Jahre auch schon hinter sich gelassen.
Der Teddy bewegte die Lippen, als würde er sprechen, und Manni konzentrierte sich.
»Kamforski«, drang es jetzt zu ihm durch. »Lothar Kamforski … Kripo Münster …«
Er träumte, ganz klar!
Jemand zupfte an seiner Hose. Er erkannte Ruth, die vor ihm kniete. Wo kam sie denn plötzlich her?
»Hallo Ruth«, sagte er und hielt sich an ihrem Gesicht fest. »Schön, dass du da bist. Was ist denn hier passiert?«
Ruth schenkte noch einen Cognac ein und reichte ihm das Glas.
»Danke«, sagte Manni. »Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«
»Komm mit in die Küche. Da gibt’s Pizza.«
»Oh. Das ist gut.« Ob er damit das zweite Glas Cognac meinte oder die Aussicht auf ein Essen, konnte Manni nicht sagen. Auf jeden Fall merkte er, wie entsetzlich hungrig er war. »Pizza klingt phantastisch.«
Er stemmte sich aus dem Sofa hoch und reichte Kamforski die Hand. »Übrigens, ich bin der Manni.« Dann steuerte er in Richtung Küche.
Am Küchentisch saß Jan. Und diese Frau, die seit ein paar Tagen sein Haus bewohnte. Wo kam die noch mal … ach ja, die Geliebte von Jans Vater, die mit dem seltsamen Namen. Ines? Iris? Egal, er würde schon gleich drauf kommen.
Auch hier roch es merkwürdig. Nach Gas? Der Geruch ging von dieser Frau aus, stellte Manni fest. Ingrid? Ingeborg? Nein, kürzer. Aber das war alles nicht wichtig. Denn auf dem Küchentisch, da lagen zwei aufgerissene Kartons, nicht die kleinen runden, sondern die großen eckigen für Feiern und Familienfeste und so. Pizza, zur Hälfte gegessen und säuberlich in Quadrate gerollert. Eine mit Spinat, Thunfisch und Zwiebeln, die andere mit Salami und Pilzen. Es würde sich gleich alles klären, da war sich Manni sicher. Jetzt jedoch zählte nur eines. Die Pizza. Er begann zu kauen.
»Ich hätte jetzt gerne ein Bier«, sagte er nach dem ersten Stück und leckte sich die Finger ab. »Wenn jemand so lieb sein würde …«
»Kein Alkohol mehr.«
Ruths Stimme? Da brat mir doch einer ’nen Storch. Und eben hatte sie ihn mit Cognac abgefüllt.
»Was soll das?« Manni angelte sich ein weiteres Stück Pizza aus dem Karton. »Ich will einfach nur ein Bier.«
»Nicht bei einem Schock.« Schon wieder Ruth.
»Was hast du denn plötzlich für ’nen Heiligenschein auf?«, knurrte Manni säuerlich. »Der steht dir nicht. Und was heißt denn hier Schock. Bloß weil ein Fenster eingeschlagen und die Wohnung verwüstet ist und sich hier ’nen Haufen Leute in meinem Haus rumtreiben, die ich entweder gar nicht oder nicht besonders gut kenne, ist das doch noch lange kein Schock.«
Er biss eine große Ecke Teig aus dem Stück auf seiner Hand, kaute, schluckte und säuerte weiter. »Wirklich schön, dass ihr euch alle so wohl bei mir fühlt. Freut mich, ehrlich. Aber vielleicht kann mir jetzt endlich mal jemand erklären, was hier abgeht?«
Auffordernd fixierte er die Frau mit den hellen Haaren und den noch helleren Augen. Idgie, fiel ihm plötzlich ein. So hieß die. »Idgie, bitte … klär mich auf.«
»Gerne.« Idgie grinste beifällig. »Also, das hier ist ein Kriminalhauptkommissar aus Münster.«
»Exbulle«, korrigierte der Grauhaarige sie sanft. »Seit Anfang der Woche glücklicher Pensionär, wenn ich nicht gerade im Auftrag ihrer Majestät unterwegs bin. Kamforski. Lothar Kamforski.«
»Geschüttelt, nicht gerührt.« Idgie prustete los wie ein Schulmädchen, was Manni bei einer Frau in diesem fortgeschrittenen Alter äußerst befremdlich fand. »Aber wie dem auch sei«, fuhr Idgie fort, »den Rest der Bande hier solltest du eigentlich kennen.« Sie kicherte erneut.
Na, die war ja wohl nicht mehr ganz klar, was? Ziemlich benebelt, so viel stand fest.
»Ich glaub, ich koch mal einen starken Kaffee.« Ruth, die bisher schweigend an der Küchenzeile gelehnt hatte, nahm die Glaskanne von der Maschine und ging zur Spüle. Aber anstatt die Kanne unter den Hahn zu halten, zögerte sie und drehte das Wasser wieder ab, um stattdessen zum Mineralwasser zu greifen.
Gut sah sie nicht aus, fiel Manni auf. Sie war kreidebleich, und auf der Stirn schien ein feiner Schweißfilm zu liegen. Manni wunderte das nicht. Auch für sie mussten die letzten Tage mehr als anstrengend gewesen sein. Aber Mineralwasser zum Kaffeekochen? Warum das denn?
Bloß nicht zu tief ins Loch schauen …
Der Kaffee war schwarz wie Tinte und verbreitete einen köstlichen Duft.
Der Exbulle aus Münster blies in das dampfende Gebräu in seinem Becher und nahm vorsichtig einen Schluck. »Jemand hat versucht, Idgie umzubringen«, sagte er dann mit seinem tiefen Bass. »Erst wurde sie mit einem Geländewagen auf ihrem Motorrad bedrängt, dann, als das nicht gelang und sie entwischen konnte, ist jemand hier ins Haus eingedrungen und hat ihr eins über den Schädel gegeben.«
»Du hast mir das Leben gerettet.« Idgie legte die Hand auf Kamforskis Arm.
Was für ein umwerfendes Lächeln, dachte Manni.
»Quatsch. Als ich hier ankam, war schon alles passiert.«
Manni sah, wie Kamforski Idgies Lächeln erwiderte. Gleich darauf fühlte er sich mit seinem Blick konfrontiert. Klar, kühl, analytisch. Ein kluger Blick. Diesen Teddy hier sollte man besser nicht unterschätzen.
»Die Kollegen von der Streife haben das eingeschlagene Fenster bemerkt und sind sofort rein. Sie fanden Idgie bewusstlos im Heizungskeller. Die Gasleitung ist undicht, da tritt Gas aus. Die Kollegen haben erst mal den Haupthahn unten gesperrt. Leider konnte der Typ durch die Gärten abhauen.«
»Meine Gasleitung ist nicht undicht«, protestierte Manni. »Die lasse ich regelmäßig warten. Vor zwei Monaten erst war jemand hier.«
»Das sagt ja auch keiner. An der Anschluss-Stelle ist eindeutig manipuliert worden.«
Das wurde ja immer besser. Einbruch und Mordversuch? In seinem Haus? Bitte, so was nicht mehr heute Abend. Das war zu viel. Deckel auf, Information reingeschubst und Deckel wieder zu. Nicht mehr nachdenken. Heute nicht mehr. Es reichte. Er wollte sich nicht damit auseinandersetzen.
»Wer es zwei Mal versucht, wird es vielleicht auch ein drittes Mal versuchen«, sagte Kamforski düster. »Ich hatte gehofft, dass die Streife die Nacht über vor der Tür bleibt, aber die Kollegen haben kein grünes Licht dafür bekommen. Also werde ich hierbleiben.« Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Klar doch. Wir haben hier ja ohnehin seit Wochen Haus der offenen Tür. Fühl dich ganz wie zu Hause«, sagte Manni bissig. »Und jetzt will ich Bier.«
Er stand auf, öffnete die Kühlschranktür und nahm sich eine Pulle. Dann drehte er sich zur Spüle, um die Hände von dem Fettfilm zu befreien, den die Pizza hinterlassen hatte.
Über der Spüle hing ein Zettel. Kein Leitungswasser!!!, mit dickem Edding auf ein DIN-A4-Blatt gepinselt und dreimal unterstrichen. Unwirsch schüttelte er den Kopf, wischte die Hände an seinen Jeans ab und hebelte den Kronkorken an der Kante der Arbeitsplatte ab.
Das war der Moment, in dem Ruth an ihm vorbeistürzte. »Ich muss …«, stammelte sie.
Man hörte eine Tür knallen, gefolgt von den typischen Geräuschen, die jemand macht, wenn es ihm den Magen von innen nach außen krempelt. Deutlich. Quälend deutlich. Kein schönes Geräusch.
Genau dieses Würgen brachte das Fass zum Überlaufen. Der Deckel bebte unter dem Druck, gab nach und schoss in die Höhe, gefolgt von einer Flut sorgsam verschlossener Bilder. Männer in Schutzanzügen. Polizei und Einsatzkräfte. Abwasser, das in die Höhe schoss. Gelbe Fässer. Und Nora, immer wieder Nora mit ihren Sommersprossen, der wächsernen Blässe in ihrem Gesicht und den ausgefallenen Haaren. Diese kurzfristige Besserung – man nennt sie auch Walking-Ghost-Phase, hörte er Ruth flüstern. Sie hat die Strahlung im Körper. Er hörte es deutlich. Überdeutlich.
»Nein«, brüllte Manni. Es klang ähnlich qualvoll wie Ruths Würgen aus der Toilette nebenan. »Nein!« Ein verwundetes Tier. »Nein!«
Manni drehte sich um die eigene Achse und schleuderte die Flasche gegen die Wand. Sie zerschellte mit hässlichem Geräusch und ließ eine Fontäne der klebrigen braunen Flüssigkeit auf die Küche los.
»Neeeiiinnn!«
Er packte den Küchenstuhl, auf dem er gesessen hatte, und ließ ihn auf die Anrichte krachen. »Nicht auch noch Ruth …« Erneut schlug er zu, einmal, zweimal, bis das Holz splitternd nachgab. Dann sank er auf dem Fußboden in sich zusammen und fing an zu schluchzen.
Später, nachdem Ruth Manni eine Beruhigungsspitze verabreicht und Idgie und Kamforski ihn ins Bett verfrachtet hatten, später, nachdem Jan sich still und leise und ziemlich verstört nach oben in Noras Zimmer zurückgezogen hatte, später, nachdem sie schweigend die Küche von der klebrigen braunen Flüssigkeit befreit, den Boden gewischt, die Spülmaschine angeschaltet und die Bücher und CDs im Wohnzimmer wieder ins Regal hineingestopft hatten, sehr viel später also saßen Idgie, Kamforski und Ruth an Mannis Küchentisch und schwiegen sich an.
Ruth war immer noch blass um die Nasenspitze. Dumpf starrte sie auf ihre Hände, die merkwürdig brav nebeneinander auf dem Küchentisch lagen. Sie sah nicht hoch. Sie wusste auch so, dass Kamforski und Idgie sie beobachteten. Sie kam sich vor wie bei einem polizeilichen Verhör. Oder bei einem elterlichen.
»Seit wann ist das schon so?«, machte Idgie schließlich den Eröffnungszug. Sie war mittlerweile wieder stocknüchtern. Der starke Kaffee und das Adrenalin, das durch Mannis Zusammenbruch in ihr freigesetzt worden war, hatten den Cognac offensichtlich aus ihrem Blut vertrieben.
»Heute bereits das dritte Mal.«
»Sonst noch irgendwelche Symptome?«
Ruth überlegte. »Nur diese ätzenden Kopfschmerzen«, sagte sie schließlich leise. »Ein bisschen schwindelig ist mir auch und ködderig eben, und ich bin so schrecklich müde.« Sie lachte auf. »Aber das ist ja nun auch wirklich kein Wunder bei den letzten Tagen. Diese Übelkeit, sie kommt in Wellen …« Mitten im Satz brach sie ab.
Den ganzen Tag über hatte sie funktioniert wie eine Maschine. Sie hatte getan, gemacht, geschuftet: medizinische Handbücher gewälzt, Personal instruiert, Krankenakten gelesen, Ergebnisse zusammengefasst, analysiert, recherchiert, Vorträge gehalten, Formulare ausgefüllt, telefoniert, sich mit den Anzugträgern herumgeschlagen, Überzeugungsarbeit geleistet, Medikamente verabreicht …
Nur über sich selbst und diese Übelkeit hatte sie nicht nachgedacht. Gut gemacht, Frau Doktor, dachte sie spöttisch. Auf dich ist wirklich Verlass. Ein Markenzeichen, das Erich besonders an ihr geschätzt hatte, fiel ihr plötzlich ein. Dass auf sie immer Verlass war. Sie schnaubte durch die Nase. Ein gnädiger Akt der Verdrängung, das war’s gewesen, was sie heute angetrieben hatte. Jetzt aber packte die Angst ihr mit unbarmherzigem Griff an der Kehle und drückte ihr die Luft weg.
Starke Kopfschmerzen, Durchfall, Erbrechen, hohes Fieber, Schleimhautblutungen, zählte sie sich vor. Zwei der Punkte trafen zu. Zwei. Mehr nicht. Und in Kontakt mit den Abwasserrückständen war sie auch nicht gekommen. Es konnte nicht sein. Oder doch? Vielleicht war es ja schon im Trinkwasser … aber dann wären doch bereits viel mehr Menschen erkrankt, wenn es dort so hoch dosiert angekommen wäre. Im Trinkwasser musste es sich doch außerdem stärker verdünnen. Wäre das überhaupt möglich? So schnell schon, durchs Trinkwasser? Solche Folgen konnte das unmöglich haben. Sie starrte immer noch auf ihre Hände.
»Also, wenn du mich fragst …«
»Was?«, fauchte Ruth, denn Idgies Stimme klang merkwürdig wissend. Wollte die sie verarschen?
»Ich meine, zwischen dir und Manni, da läuft doch was, oder täusche ich mich da?«
Ruth hob den Kopf. Ihr Blick verfing sich in Eiskristall, das überraschende Wärme ausstrahlte – und auch Zuversicht.
»Also, ich kenne mich damit ja nicht aus. Aber bei einer Sekretärin im Institut, da war das auch so. Eine einzige elende Kotzerei, von Anfang an. Bist du vielleicht schwanger?«
* * *
Essen, 10. April
Pünktlich um acht Uhr dreißig verließ Ruth ihren Dienstsitz. Mit schnellen Schritten überquerte sie die verkehrsreiche vierspurige Hindenburgstraße, flitzte um das Grillotheater herum und tauchte in die Fußgängerzone ein, wo sie die nächstbeste Apotheke ansteuerte. Die erste, die sie fand, war noch geschlossen. Also lief sie weiter die Kettwiger hinunter. Erst bei der dritten Apotheke waren die Türen bereits geöffnet. Sie kam sich bescheuert vor, als sie nach einem Schwangerschafts-Frühtest fragte.
Wenig später saß sie in einer Kabine der Damentoilette ihrer Behörde und tunkte den Teststreifen in den Plastikbecher mit Urin. Sie sah dem Zeiger auf der Uhr an ihrem Handgelenk zu, während sie die Minuten zählte.
Eins … zwei … drei … Endlich war die Zeit um.
Den Pappstreifen brauchte sie gar nicht erst aus der gelben Brühe zu holen, um die Farbe zu erkennen. Trotzdem zog sie ihn ans Licht und hielt ihn gegen die Vergleichsfarben auf dem Innendeckel der Packung.
»Treffer versenkt«, murmelte sie sarkastisch. Dann fing sie an zu lachen. Es klang ein wenig nach Hysterie.
Sie goss den Urin ins Klobecken, schob den Teststreifen in die Packung zurück und ließ sie in der Tasche ihrer Jacke verschwinden.
Während sie sich die Hände wusch, sah sie in den Spiegel. Das Neonlicht der Bedürfnisanstalt leuchtete ihr Gesicht gnadenlos aus, und sie musterte sich mit der klinischen Distanz ihres Berufs.
Die Frau im Spiegel war keine zwanzig mehr und auch keine dreißig. Sie hatte die vierzig überschritten, und sie sah nach zu wenig Schlaf und großer Anspannung aus. Die Falten um ihren vollen Mund herum waren tief, was dem Gesicht etwas leicht Verhärmtes gab. Mittelbraunes Haar fiel ihr in stufigen Kaskaden bis auf die Schulter, und ein paar asymmetrisch geschnittene Strähnen ragten frech in die Stirn. Ruth nahm die Brille von der Nase. Auch ihre Augen wirkten müde.
So was kann auch nur dir passieren. Schwanger kurz vor dem Verfallsdatum. Sie schnaubte durch die Nase.
Früher hatte sie sich immer ein Kind gewünscht. Aber nicht während der Ausbildung und auch nicht während der Zeit als Assistenzärztin. Erst als sie fest angestellt war, hatte sie nicht mehr verhütet, klammheimlich und mit einem schlechten Gewissen Erich gegenüber, weil sie es nicht mit ihm besprochen hatte. Da war sie dreiunddreißig gewesen. Sieben Jahre lang hatte sie nichts unternommen, um eine Schwangerschaft zu vermeiden. Sieben verdammte Jahre lang. Und nichts war passiert. Sie hatte gedacht, es läge an ihr.
Aber es musste wohl Erich sein, der steril war. Denn kaum, dass sie mit diesem hilfsbereiten Ruhrgebiets-Macker, diesem glatzköpfigen, tätowierten Kerl mit dem prolligen Charme und den amüsanten Sprüchen, in die Kiste stieg, wurde sie schwanger.
Er hat mir gutgetan, gestand sie sich ein. Aber deswegen … in fünf Monaten wurde sie einundvierzig! Das war jetzt echt zu blöd, um wahr zu sein.
Sie drehte den Hahn erneut auf, bildete mit den Händen eine Schale, ließ das Wasser hineinrinnen und wollte ihr Gesicht in die klare Flüssigkeit tauchen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und starrte auf das Nass in ihren Händen. Was machst du denn da, dachte sie erschrocken, ließ das Wasser ins Becken platschen und trocknete sich sorgfältig die Hände ab.
Die Übelkeit regte sich wieder und schlich auf leisen Pfoten durch ihren Magen. Ruth setzte die Brille zurück auf die Nase und lächelte sich an, während die Erleichterung sich wärmend in ihr ausbreitete wie heißer Kakao. Es war nicht das Wasser, weswegen ihr übel war, und es war auch nicht die Strahlenkrankheit. Sie war nur ein kleines bisschen schwanger, mehr nicht.
* * *
Zunächst fiel Manni nichts weiter auf. Dank der Spritze, die Ruth ihm verabreicht hatte, hatte er nicht nur lange, sondern sogar tief geschlafen und fühlte sich ausgeruht. Er fand eine Nachricht von Ruth vor, in der sie beteuerte, dass es ihr wieder gut gehe, nur eine kleine Magenverstimmung, mehr nicht, und war schnell bereit, das zu glauben. Nun war er unterwegs zum Klinikum, wo er noch mal nach Nora schauen wollte, bevor er sich wieder im Büro blicken ließ.
Schon als er Alt-Rellinghausen verließ und sich mit dem Auto langsam auf der Frankenstraße in Richtung Bredeney voranschob, begann er sich zu wundern. Ziemlich hohes Polizeiaufkommen. Grüne an jeder Straßenecke, und auf den Straßen war mächtig viel los, erstaunlicherweise in beide Richtungen, und noch erstaunlicher, weil der morgendliche Berufsverkehr doch eigentlich schon hätte vorbei sein müssen, denn es war bereits kurz nach zehn.
Auch auf den Bürgersteigen waren ungewöhnlich viele Menschen unterwegs, flossen hin und her, seltsam ziellos, um dann wieder in Grüppchen stehen zu bleiben und leise miteinander zu sprechen.
Eine Rastlosigkeit hing in der Luft, die fremd war. Im Süden hätte Manni das vielleicht normal gefunden, in Rom oder in Florenz an einem heißen Sommerabend. Aber es war weder heiß, noch war es Abend, und im Süden waren sie erst recht nicht. Außerdem hatte die Rastlosigkeit, die über der Stadt lag, nichts Heiteres an sich. Sie war gedämpft, und auch das passte nicht zum pulsierenden Leben auf einer italienischen Piazza.
Ein Streifenwagen bahnte sich den Weg, das Blaulicht angeschaltet, jedoch vollkommen tonlos, was bedrohlich wirkte, viel bedrohlicher als die Sirene eines Martinshorns. Die Autofahrer versuchten hektisch, zur Seite zu rangieren und eine Gasse für den blau-weißen Streifenwagen frei zu machen.
Dann hörte Manni den Lautsprecher.
* * *
Mit federnden Schritten und vielleicht ein kleines bisschen aufrechter als sonst ging Ruth den langen Flur zu ihrem Büro zurück und rollte sich schwungvoll an ihren Schreibtisch heran.
Dann tauchte Grothe in ihrem Büro auf. Mit knappen Worten teilte er ihr mit, dass es jetzt losgehen würde.
»Na endlich«, kommentierte Ruth trocken.
Grothe rollte mit den Augen und tippte sich an die Stirn. »Besser spät als zu spät.« Seine Stimme klang bitter. »Sie halten weiterhin den Kontakt zu Krankenhäusern und zum Landesamt für Umweltschutz. Sobald die Analysen fertig sind, sehen wir weiter. Ich bin im Rathaus erreichbar.«
Seine Miene verdüsterte sich, während er auf ihren Schreibtisch starrte.
Sie folgte seinem Blick. Oben auf einem Stapel Papier lag die Verfahrensanleitung des Katastrophenschutzes NRW.
»Machen Sie sich auf einiges gefasst«, sagte er bedrückt. »Draußen herrschen bald notstandsähnliche Verhältnisse.«
Ruth sah ihm nach, während Grothe den Raum verließ. Seine Schultern waren gebeugt, als würde ihn eine schwere Last niederdrücken.
Radioaktiv verseuchtes Grundwasser, dachte Ruth. Wie wollen die das hier bloß in den Griff bekommen? Sie musste aufpassen. Um nichts auf der Welt wollte sie dieses kleine Wesen in sich gefährden.
* * *
»Achtung, Achtung …«, schallte es blechern.
Manni kurbelte das Fenster herunter.
Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Entnehmen Sie kein Wasser aus den Leitungen, auch nicht zum Waschen und Kochen. Im gesamten Essener Stadtgebiet ist ab sofort das Wasser abgestellt. Benutzen Sie kein Wasser mehr aus den Leitungen, auch wenn noch Wasser fließen sollte! Nehmen Sie kein Wasser mehr aus den Leitungen. Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei … Zentrale Wasserversorgungsstellen sind eingerichtet. Bitte, bleiben Sie ruhig … Achtung, Achtung … Es besteht kein Grund zur Panik. Sobald das Ganze geklärt ist, werden wir Sie wieder informieren. Auch die Radiosender halten Sie auf dem Laufenden … Achtung, Achtung, hier spricht die …
Jetzt ist es also so weit, dachte Manni. Es hatte etwas mit den Ruhrwiesen zu tun und mit der unheimlichen Szene, der er am Vortag beigewohnt hatte.
Ein hässliches Geräusch schräg hinter ihm auf der Straße ließ ihn hart auf die Bremse treten. Gequältes Kreischen, Blech auf Blech. Dann für einen kurzen Moment Stille. Manni duckte sich und wartete auf den Einschlag in seinem eigenen Wagen. Aber nichts passierte, und er sah, dass sich zwei Pkws auf der gegenüberliegenden Spur ineinander verkeilt hatten, trotz des Schneckentempos. Ein Unfall, der Hektik geschuldet und der Angst, die der Streifenwagen verbreitete, der sich so gespenstisch den Weg durch die schmale Gasse in der Mitte der Straße bahnte. Einer der Polizisten stieg aus und ging zurück zur Unfallstelle.
Eine junge Frau starrte ihm aus dem Fenster ihres Astra entgegen. Sie ließ das Fenster herunter, kreidebleich, und reichte ihm ihre Papiere, nur, um das Fenster augenblicklich wieder hochzufahren. Sie hatte Panik. Und sie erinnerte Manni an Nora.
Aber auch auf seiner Spur war an Vorankommen kaum zu denken. Vermutlich war das nicht der einzige Unfall dieser Art. Und während das Blaulicht sich weiter gespenstisch drehte und die Tonbandansage monoton ihr »Achtung, Achtung« runterleierte, rangierte Manni seinen Wagen kurz entschlossen auf den Bürgersteig und stieg aus.
»He, Sie können doch nicht …«
Oh doch, und wie er konnte. Ohne sich umzudrehen, winkte er einen Abschiedsgruß mit der Hand und lief zu Fuß weiter. Er wollte zu Nora. Jetzt.
* * *
Kamforski wanderte unruhig durchs Haus. Er wartete darauf, dass das Telefon endlich klingeln würde, und er wartete darauf, dass Idgie endlich aufwachte. Aber das Telefon schwieg beharrlich, und Idgie hatte offensichtlich den Schlaf einer Bärin im Winter. Jedes Mal, wenn er sich leise dem kleinen Zimmer näherte, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatte, hörte er ihre gleichmäßigen, tiefen Atemzüge, zwischen die sich manchmal ein ordentlicher Schnarchlaut mischte. Dass sie schlief, war einerseits gut, denn sie hatte ordentlich eins über den Schädel bekommen. Andererseits wollte Kamforski sie nicht allein lassen. Auf keinen Fall. Der Täter konnte nicht davon ausgehen, dass sie tot war. Zu schnell war er durch die Essener Kollegen gestört worden. Trotzdem hatte er noch Zeit genug gehabt, das Haus zu durchsuchen und die externe Festplatte mitgehen zu lassen. Kein wirklicher Verlust, denn Kamforski hatte alle Dokumente längst auf seinen Stick gepackt.
Damit war Idgie aber noch lange nicht aus der Schusslinie. Kamforski war sich sicher, dass sie auf der Abschussliste stand und ein nächster Versuch, das umzusetzen, in nicht allzu ferner Zukunft lag. Die Idee, sie zurück zu ihrem Häuschen zu fahren, hatte er schnell wieder verworfen. Bei ihm zu Hause in Münster, da wäre sie sicher. Dort wollte er sie hinbringen, und deshalb wartete er ungeduldig darauf, dass sie endlich wach wurde. Den leisen Zweifel, ob sie sich darauf einlassen würde, ignorierte er geflissentlich. Es war die vernünftigste Lösung und damit basta. War sie erst einmal in Sicherheit, konnte er endlich in die Offensive gehen und den Stier bei den Hörnern packen.
Ungeduldig sah Kamforski auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war schon weit nach Mittag. Schwarzer Geländewagen, DU-PF 7 – daraus musste sich doch was machen lassen. Sein Exkollege ließ sich viel zu viel Zeit mit der Halterabfrage. So schwer konnte das doch wohl nicht sein.
Endlich vibrierte sein Mobiltelefon in der Hosentasche.
»Sag mal, was ist denn da los bei euch?« Rotermunds Stimme klang genervt. »Ich versuche es seit mehreren Stunden, bin überhaupt nicht durchgekommen.«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist hier das Netz nicht so gut ausgebaut?« Eher unwahrscheinlich, dachte Kamforski gleichzeitig. Nicht in einer Großstadt wie Essen. »Hast du was für mich?«, drängte er ungeduldig.
»Ja klar. Soll ich dir die Liste irgendwohin faxen?«
»Besser per Mail. Wie viele sind es denn?«
»Nicht viele. Einige private, einige Firmenwagen. Geländewagen nur ganz wenige. Aber vielleicht kennt sich die Lady ja nicht so aus mit Autos.«
Kamforski ärgerte sich über das Feixen, das diesen Satz zu begleiten schien. »Quatsch«, sagte er nur. »Sag mal was zu den Firmenwagen.«
»Da ist so eine Reinigungsfirma für Rohre. Firmensitz Duisburg-Rheinhausen. Preparing of Industriel Facilities GmbH, so heißen die. Die haben einige Fahrzeuge mit dem Kennzeichen DU-PF laufen, etliche Lkws, aber auch Pkws, und sich sogar einige Kennzeichen in der Siebener-Serie reservieren lassen.«
Die PoIF? Kamforski pfiff leise durch die Zähne. »Ein Ranger ist zufälligerweise nicht darunter?«, fragte er heiser.
* * *
Manni drängte sich durch Trauben von Menschen hindurch, die schweigsam die Straßen bevölkerten. Aus der Ferne hörte er, wie sich ein weiterer Lautsprecherwagen langsam den Weg durch die Blechlawine bahnte, die die Straßen verstopfte.
»Achtung, Achtung, hier spricht die … bleiben Sie ruhig … kein Grund zur Panik …«
Eine Dreiviertelstunde später hatte Manni das Klinikum erreicht. Auch hier herrschte hektische und dennoch seltsam schweigsame Betriebsamkeit. Ängstliche Angespanntheit lag in der Luft, als würden die Menschen darauf warten, dass etwas Schlimmes passiert, ein Fliegerangriff beispielsweise oder eine Explosion. Es roch nach Ausnahmezustand, nach Krieg und Katastrophe. Endlich erreichte Manni die Station, auf der Nora lag.
»Schrecklich …«, sagte die Schwester, von der er noch vage im Kopf hatte, dass sie Dorothea hieß. Sie wirkte müde und sorgenvoll. »Das Grundwasser ist vielleicht verseucht. Bis die geklärt haben, ob das tatsächlich der Fall ist, gibt es kein Wasser mehr aus der Leitung. Schlimm. Wirklich schlimm ist das.«
»Eine Klinik ohne Wasser, das geht doch gar nicht«, sagte Manni. »Wasser braucht es doch überall. Für einfach alles. Wie soll das denn gehen mit den ganzen Kranken?«
»Wir bekommen Tanks vom Technischen Hilfswerk. Die richten überall Verteilungsstellen ein. Aber die Kliniken werden separat versorgt.«
»Wenn die mal durchkommen zu Ihnen. Da draußen ist der Teufel los.«
»Zwei Tanks sind bereits heute früh gebracht worden. Wir werden sehen, wie weit wir damit kommen. Dennoch«, Schwester Dorothea lächelte ihn an, »gibt es doch auch Erfreuliches zu berichten. Gehen Sie ruhig rein. Ihre Tochter hat gerade etwas gegessen. Sie werden sehen …«
Als Manni vom Klinikum aus zu seiner Arbeitsstelle lief, pfiff er laut vor sich hin und vermutlich auch falsch. Der seltsame Aufruhr um ihn herum perlte an ihm ab. Er konnte ihn nicht erreichen.
Er war so unsäglich erleichtert. Sein Kind hatte gegessen. Sie war ansprechbar, und sie hatte sich gefreut, dass er kam. Gut sah sie nicht aus, wie ein junger Vogel in der Mauser. Aber es ging ihr besser. Viel, viel besser.
* * *
»Großer Gott, was ist denn hier los?«, brummte Kamforski verwundert.
Idgie warf ihm einen skeptischen Blick von der Seite her zu. »Du glaubst an Gott?«
»Bei dem, was ich in meinen Berufsjahren so alles zu sehen bekommen habe? Eher nicht. Genauso gut hätte ich ›Was zum Teufel‹ sagen können.«
»Das ist die andere Seite derselben Medaille.«
»Trotzdem würde ich gerne wissen, was da unten los ist. Die ganze Straße ist verstopft.«
»Wahrscheinlich ein Unfall. Da tummelt sich auch eine stattliche Zahl an Fußvolk. Schaulustige.«
Dann hörten sie den Lautsprecher. Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei …
Idgie fuhr das Fenster herunter. … entnehmen Sie kein Wasser aus den Leitungen …
»Großer Gott«, murmelte Kamforski erneut. »Sie machen es tatsächlich öffentlich. In der Haut meiner Essener Kollegen möchte ich jetzt nicht stecken.«
»Warum?«
»Weil hier bald eine handfeste Massenpanik im Gang sein wird. Und die ist alles andere als gut zu steuern.«
»Hast du so was schon mal erlebt?«
»Nicht selber. Aber denk an die Geschichte mit der Loveparade in Duisburg, an das Tote-Hosen-Konzert in Düsseldorf oder an die Massenpanik 2010 in Mekka, wo fast tausend Pilger zu Tode kamen. Menschen in Todesangst sind unberechenbar. Das letzte bisschen Vernunft geht flöten. Panik kehrt die Bestie in uns raus. Da will jeder nur noch seine eigene Haut retten, bestenfalls noch die seiner Liebsten.«
»Und bei dir?«
Kamforski warf ihr einen irritierten Blick zu. »Ich verstehe deine Frage nicht.«
»Na, du hast von ›uns‹ gesprochen. Panik kehrt die Bestie in uns raus. Welche Bestie steckt in dir?«
Kamforski zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Meine Bestie habe ich noch nicht kennenlernen müssen. Gott sei Dank.«
»Und du bist doch ein frommer Apostel«, sagte Idgie düster. »Wie geht es hier jetzt weiter in der Stadt? Was sagt die Bullenerfahrung?«
»Beschissen. Wenn das Stichwort Radioaktivität erst kursiert, dann wird’s brutal, glaub mir, dann ist hier der Teufel los. Das wird noch ein ganz anderes Kaliber als damals die Loveparade. Loveparade hoch zehntausend, ungefähr so.«
Idgie sah aus dem Fenster. »Dann solltest du den Wagen jetzt an den Rand quetschen, und wir laufen zurück zu Manni. Aus der Stadt raus kommen wir so auf jeden Fall nicht.«
»Hast du Angst?«
»Ja«, sagte Idgie. »Ich habe das Gefühl, ich sitze in der Falle.«
»Wir könnten die Stadt zu Fuß Richtung Süden verlassen.«
»Und Ruth und Manni und Jan? Die lass ich doch jetzt nicht im Stich. Und die können nicht weg hier. Ihre Jobs … und Nora.«
* * *
Im Verborgenen der Nacht hatte die Bundeswehr von der Stadt Besitz ergriffen, und aus dem ganzen Bundesland waren Polizeieinheiten zusammengezogen worden.
Zunächst hielten sie sich dezent im Hintergrund. Die Bevölkerung bemerkte es erst gar nicht. Die Menschen standen brav Schlange an den großen Versorgungstanks und wanderten mit gefüllten Trinkwasserkanistern wieder nach Hause. Sie wunderten sich über die Zelte, die allenthalben auf den öffentlichen Plätzen aufgebaut wurden. Hilfsorganisationen und Katastrophenschutz waren dabei, möglichst diskret ihre mobilen Einsatzstationen aufzubauen und sich auf das vorzubereiten, was hoffentlich nicht eintreten würde.
Dann geisterte das erste leise Gerücht durch die Stadt. Wer auch immer nicht dichtgehalten hatte (und eigentlich war es erstaunlich, dass die Nachrichtensperre immerhin einen Tag lang eingehalten worden war): Nun lief es wie ein unsichtbarer Schwelbrand durch die Stadt, dass es sich bei der Verunreinigung des Trinkwassers um eine radioaktive Verseuchung handelte.
Die inoffizielle Nachricht breitete sich aus, nahm Besitz von Büros, von Lebensmittelläden, von Behörden, von Kindergärten und Schulen. Aus dem Schwelbrand wurde ein Lauffeuer, dann ein Flächenbrand, und plötzlich brannte die Stadt lichterloh. Wer hier nicht wohnte, wer andernorts eine Zuflucht besaß, stieg in sein Auto und versuchte, aus der Stadt herauszukommen. Die Menschen verließen ihre Arbeitsplätze mitten am Tag, hasteten kopflos umher, rafften ein paar Sachen zusammen und machten sich auf die Flucht.
Eine Flut von Telefonaten ergoss sich über die eingerichteten Hotlines der Stadt, so zeitgleich und gewaltig, dass das Telefonnetz in Windeseile zusammenbrach. Der Verkehr auf den Straßen kam vollständig zum Erliegen, und nachdem die Bürgersteige mit wild geparkten Fahrzeugen aller Art komplett zugepflastert waren, begannen die Ersten, ihre Fahrzeuge mitten auf der Fahrbahn zu verlassen, um der Gefahr zu Fuß zu entkommen.
Zu spät wurden die Lautsprecheransagen geändert und die Bevölkerung ermahnt, Ruhe zu bewahren, bis die Sachlage geklärt sei. Es half nichts mehr. Die Einsatzwagen, die diese Meldung verbreiten sollten, blieben selbst im Chaos stecken.
Über diesem Szenario schwebten die Hubschrauber diverser Fernsehsender, und die Aufnahmen aus der Luft, die Ketten von Menschen in ABC-Anzügen zeigten, die systematisch die Ufer der Ruhr absuchten, trugen nicht dazu bei, die Lage zu entschärfen.
Als die ersten Menschen anfingen, Supermärkte und Getränkegroßhandlungen zu stürmen und zu bunkern, was an Vorräten gerade eben zu bunkern war, begannen Polizeieinheiten vorzurücken. Die ersten Schlagstöcke wurden eingesetzt, und die Menschen drängten hektisch hin und her, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich sollten.
Dann machte der ODL-Alarm die Runde. Radioaktivität nicht nur im Wasser, sondern auch noch in der Luft? Die Panik war vollkommen. Menschen, die versuchten, zurück in ihre Häuser zu kommen, rissen sich gegenseitig zu Boden und trampelten über die am Boden Liegenden hinweg. Einige wurden zu Tode getreten, Herzkranke erlitten Infarkte und starben auf offener Straße, Frauen bekamen ihre Kinder ohne medizinische Versorgung, Asthmatiker erstickten, und Unfallopfer verbluteten. Die Rettungswagen hatten keine Chance, zu den Verletzten vorzudringen.
Erste Spekulationen über die Gründe für dieses Desaster flossen nun offiziell über den Äther.
Ein Atomunfall. In Essen!
* * *
»Die Frau da … warum hilft denn bloß keiner! Die trampeln einfach über sie drüber …«, stotterte Jan. »Die können doch nicht … warum hilft ihr denn keiner …« Tränen rannen aus seinen Augen, während er mit schreckgeweiteten Pupillen auf die aufwühlenden Bilder starrte, die die Kamera eingefangen hatte. Es waren unstete Bilder, die einem das Gefühl vermittelten, sich inmitten des Gedränges zu befinden, den Blick in kurzen Sequenzen auf Rücken, Ellenbogen, aufgerissene Münder, panische Augen, trampelnde Füße ausgerichtet, auf die Frau, die dort auf dem Boden lag und nicht mehr hochkam. Dann wurde die Kamera weitergetrieben, fing braune Stiefel ein, in Reihen formiert, glitt über spiegelndes Plexiglas und erhobene Schlagstöcke. Schließlich brach der Film ab.
»Da draußen ist Krieg«, schluchzte Jan. »Siehst du das nicht? Die gehen mit Schlagstöcken vor. Die … das können die doch nicht …«
»Hey Kleiner.« Richy legte den Arm um Jans Schultern und rüttelte ihn sanft. »Das ist wirklich furchtbar.« Daran, dass er auf den üblichen melodiösen Singsang in der Stimme verzichtete, merkte man, wie schockiert er selbst war. »Aber das Material ist gut. Wir werden hier überhaupt nichts schneiden. Davor noch ein paar Bilder aus dem Hubschrauber und dann diesen Film hier. Das ist wirklich gut.«
»Wie kannst du jetzt …«
»Glaubst du, irgendjemandem ist damit geholfen, wenn wir diese Bilder nicht senden? Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, sie zu sehen.«
Jan sah ihn an, als wäre er von einem anderen Stern. »Du willst das wirklich senden?«
»Hör zu, Jan. Was ich da sehe, ist entsetzlich, und es geht mir absolut nicht am Arsch vorbei. Aber das ist nun mal mein Job. Ich bin Profi, und ich werde dafür bezahlt, Bericht zu erstatten. Und genau das tue ich. Dieser Film hier, so zynisch dir das vielleicht erscheinen mag, ist perfekt, denn er zeigt, was da draußen los ist. Wir müssen ihn mit den Luftaufnahmen zusammenschneiden. Dafür braucht es professionelle Distanz. Wenn du das nicht hinkriegst, bist du leider fehl am Platz in unserem Beruf. Und jetzt komm. Wir haben noch eine halbe Stunde, dann müssen wir fertig sein. Danach bringe ich dich mit dem Moped nach Hause. Mit dem Auto kommst du heute nirgendwo mehr durch.«