KAPITEL 15
Essen, 11. April
Ruth seufzte. Auch in der letzten Nacht hatte sie nicht viel geschlafen. Die wenigen Stunden, die sie im Bett gelegen hatte, waren mit völlig ineffektiven Grübeleien verbunden gewesen. Denn als sie gerade dabei gewesen war, einzuschlafen, war ein Gedanke durch ihren Kopf gehuscht. Einer, der eigentlich keinen Aufschub duldete. Sie hätte sich in den Arsch treten können.
Also war sie aufgestanden und hatte versucht, ihre Kontaktperson vom LANUV aus dem Bett zu klingeln. Es war ihr nicht gelungen, und das verstand sie sogar. Irgendwann musste auch er mal schlafen, denn die Jungs vom Landesamt waren seit Tagen im Dauereinsatz.
Dann hatte sie versucht, Manni zu erreichen und ihn zu warnen. Aber auch er ging nicht ans Telefon. Flüchtig überlegte Ruth, einfach durch den Garten zu gehen und durch die Küchentür, die vermutlich mal wieder nicht abgeschlossen war, zu ihm hineinzumarschieren. Aber sie entschied sich dagegen.
Am liebsten hätte sie augenblicklich die Stadt verlassen. Doch das gleiche Verantwortungsgefühl, das sie dazu trieb, nicht einfach durch die Hintertür ins gegenüberliegende Haus einzudringen, brachte sie dazu, hier noch etwas auszuharren. Nicht etwa von Berufs wegen, da war sie nur noch Statist, weil ihr das Thema mittlerweile komplett aus der Hand genommen worden war. Sie sorgte sich einfach um ihre neuen Freunde, die ihr in kürzester Zeit ans Herz gewachsen waren, als wären sie eine Familie. Trotzdem ging sie nicht hinüber. Nicht nach dieser Erkenntnis. Sie hatte Angst.
Stattdessen wälzte sie sich weiterhin schlaflos im Bett herum und ging in Gedanken Schritt für Schritt die beiden Abende durch, an denen sie Nora untersucht hatte. Ihre Haut hatte nach frischem Duschgel gerochen, erinnerte sich Ruth. Nora hatte in einem fort geplappert, und nur die blutigen Schrammen und Aufschürfungen hatten von dem Unfall gezeugt.
Und dann? Jan hatte sie direkt an ihrer Haustür abgefangen, und sie war sofort mit ihm mitgekommen, ihre Arzttasche noch in der Hand. Sie sah sich selbst, wie sie die Tasche öffnete und sich die dünnen Einweghandschuhe überzog. Jahrzehntelange Routine. Wie die, sich abends im Waschkeller zuallererst sämtlicher Klamotten zu entledigen, die sie im Berufsalltag getragen hatte, und zu duschen. Bloß keine Keime aus der Klinik in die Wohnung tragen, ins eigene Heim. Eine Marotte, die Erich fast zur Weißglut getrieben hatte. Zwanghaft ist das, hatte er gemeckert. Aber in diesem Punkt war sie unnachgiebig gewesen, und zähneknirschend hatte er sich angepasst.
Nora jedoch zählte nicht zu ihrem Berufsalltag. Hatte sie wie üblich die Schuhe ausgezogen und in das Schuhregal im kleinen Vorraum gestellt? War sie danach wie üblich auf nackten Sohlen als Erstes hinunter in die Waschküche gegangen? Hatte sie die Kleidung in den Wäschekorb gestopft und sich dann sofort unter den heißen Strahl der Dusche gestellt? Sie wusste es nicht mehr genau. Denn Nora, das war privat gewesen. Und wie war das am nächsten Abend abgelaufen, als sie Nora ins Krankenhaus gebracht hatte?
Sie war sich nicht sicher. Zu verschwommen die Tage, zu viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte.
* * *
Manni hatte sich abends mit Bier abgeschossen und zu allem Überfluss eine Schlaftablette draufgepackt, was ihm zu einem bleiernen, traumlosen Schlaf verholfen hatte, aus dem es nun schwer war, sich zu lösen.
Es klingelte Sturm, und als er völlig verpennt zur Tür tappte und sie öffnete, standen da zwei Männer, die sich als Berufsfeuerwehr auswiesen und ihn höflich, aber unmissverständlich aufforderten, mit ihnen zu kommen.
Vor dem Haus parkte ein roter Rettungswagen. Von da an lief alles wie in einer filmischen Sequenz vor ihm ab, und Manni war sich selbst merkwürdig fremd, als würde das alles jemand ganz anderes erleben.
»Befinden sich noch weitere Personen im Haus?«, fragte der Kleinere der beiden.
»Ja …« Manni zögerte. »Aber …«, fügte er hinzu und überlegte gleichzeitig, ob Jan überhaupt nachts dagewesen war, denn er konnte sich nicht mehr erinnern, ihn am Abend zuvor gesehen zu haben. Er konnte sich überhaupt nur noch an wenig erinnern. Da war die Wölfin gewesen und hatte ihm irgendeine Suppe eingeflößt. Schien einen Suppentick zu haben. Dauernd gab es Eintopf, wenn sie die Sache in die Hand nahm. Dann war da auch noch der Bezopfte, dieser Exbulle. Manni meinte sich daran zu erinnern, dass er ihm das Bier weggenommen und ihn in sein Schlafzimmer verfrachtet hatte. Aber ganz sicher war er sich da nicht. Und Jan?
»Zwei bis drei, glaube ich«, sagte er vorsichtig und wies vage die steile Treppe hinauf. »Wenn sie nicht schon weg sind.«
Der kleinere der Feuerwehrmänner zog sich die Kapuze seines Anzugs über den Kopf, legte einen Mundschutz vor und machte sich auf den Weg nach oben. Er trug Überzieher aus Plastik und ebensolche Handschuhe.
»Würden Sie bitte schon mal einsteigen?«
»Nein«, sagte Manni. »Warum sollte ich?«
»Verdacht auf Kontamination. Würden Sie bitte einsteigen?«, forderte der Mann ihn erneut auf.
»Mir fehlt nichts«, sagte Manni stur und wollte ins Haus zurückgehen.
»Da können Sie jetzt nicht rein. Geben Sie uns bitte einen Schlüssel«, forderte der Mann ihn auf.
»Aber ich muss pissen …«, begehrte Manni auf. »Das ist mein Haus. Ich werde doch wohl …«
»Sie können da jetzt nicht wieder rein«, wiederholte der Mann in einem Tonfall, als spräche er mit einem störrischen Kleinkind. »Steigen Sie bitte ein.«
»Den Teufel werd ich.«
Der Mann seufzte. »Eine Spezialeinheit geht da gleich durch. Bitte, seien Sie doch vernünftig.«
Manni wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Jan mit dem zweiten Feuerwehrmann in der Tür des Hauses auftauchte. Er war ziemlich bleich um die Nasenspitze und kletterte wortlos in den Rettungswagen. Gleich darauf stiefelte Idgie die Treppen herunter. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Uniformierten, der daraufhin noch mal im Haus verschwand. Als er zurückkehrte, schleppte er einen unförmigen Plastiksack, der schwer zu sein schien, und wuchtete ihn in den Rettungswagen.
»Vorsicht, da ist mein Netbook drin«, rief Idgie und kletterte ebenfalls ins Fahrzeug. »Kommst du, Manni?« Sie streckte ihm auffordernd ihre Hand entgegen. »Komm jetzt. Bitte!«
Zögernd stieg Manni ein.
* * *
Das Zelt auf dem Karree am Stadtwaldplatz, auf dem sonst der Wochenmarkt stattfand, war groß und grau und nahm fast die gesamte Fläche des Platzes ein. Der Feuerwehrmann murmelte etwas, das wie »Faudikon« klang, als er Manni ins Zelt schob. Unmittelbar hinter Manni drängelte Jan nach. Er schien es eilig zu haben. Idgie wurde angewiesen, draußen zu warten.
Manni sah sich um. Fünf Personen befanden sich im Zelt. Sie trugen gelbe, merkwürdig aufgeblasene Schutzanzüge, die selbst die Köpfe umhüllten. Das grelle Licht im Zelt reflektierte auf den großen Plexiglasscheiben vor den Gesichtern. Ihre Füße steckten in ebenfalls gelben Schuhen, die nach einem Mittelding zwischen Moonboots und Gummistiefeln aussahen.
Einer der Gelben, der Kleinste der ganzen Bagage, stapfte auf Manni zu, und als er direkt vor ihm stehen blieb, konnte Manni das Gesicht hinter der spiegelnden Scheibe erkennen.
»Ich bin’s«, sagte Ruth und legte ihm eine schwarz behandschuhte Pranke auf den Arm.
»Kannst du mir mal erklären, was das soll?«, raunzte Manni sie an.
»Wir müssen prüfen, ob du kontaminiert bist«, erklärte Ruth leise. »Ich habe die Prozedur auch schon hinter mich gebracht. Ich bin clean.«
»Hä?« Manni fühlte sich immer noch mächtig bräsig im Kopf. Alkohol und Schlaftablette. Scheiß Kombination, dachte er sauer.
»Dein Haus wird gerade untersucht. Kleidung wirst du hier bekommen, falls du erst mal nicht zurückkannst.«
»Warum sollte ich das nicht können?«, fragte Manni verwundert.
»Nora ist nach ihrem Unfall direkt nach Hause, und sie ist in den Matsch auf der Straße geknallt. Als ich sie untersucht habe, hatte sie ihre dreckigen Klamotten überall im Haus verstreut. Manni …«
»Willst du mich verarschen? Du hast doch selbst gesagt, die Scheiße wär nur gefährlich, wenn man sie schluckt!«
»Stimmt. Aber Nora ist in Steele direkt in das verseuchte Abwasser gefallen, und …« Ruth stockte. Ihr Gesicht hinter dem Plexiglas wirkte bedrückt, so, als wüsste sie nicht recht, wie sie fortfahren sollte.
»Ja?« Manni suchte ihre Augen hinter dem Plexiglas, konnte aber lediglich die runde Hornbrille deutlich erkennen. Ruths Stimme verriet ihm jedoch auch so, wie ernst es stand.
»Sie hat die Strahlung vermutlich im ganzen Haus verteilt«, flüsterte Ruth. »Überall, wo du hinfasst, könnte es sein. Dann hast du es an deinen Händen, an deiner Haut, an den Lebensmitteln, die du anfasst, und schließlich auch im Mund. Da darfst du erst mal nicht mehr hin. Wir müssen dich reinigen. Du könntest sie weiterverteilen, die Strahlung, mit den Schuhen beispielsweise. Bei jedem der bisher Erkrankten werden die Wohnungen untersucht, Wohnungen, Autos, Arbeitsplätze und die Angehörigen selbst natürlich auch … einfach alles, was mit diesen Menschen in Kontakt war. Du musst dich jetzt ausziehen.«
»Ich soll was?«
»Ausziehen, hast du doch gehört«, ertönte Jans Stimme neben ihm so schroff, dass Manni zusammenzuckte. Er hatte ihn gar nicht mehr wahrgenommen. Jetzt jedoch sah er, wie Jan begann, sich aus seiner Kleidung zu schälen.
»Auch die Unterwäsche?«, fragte Jan.
»Alles«, sagte Ruth. »Ihr müsst da durch die Schleuse. Geht einfach durch. Dann werdet ihr gereinigt.«
Sie wies auf zwei nebeneinanderliegende Zeltkabinen, aus denen schmale, gesprosste Gestelle herausragten.
Manni beobachtete Jan, wie er nackt zu einer der beiden Schleusen tappte. Er hat Angst, registrierte Manni und horchte in sich hinein. Aber er selbst spürte nichts dergleichen. Nur grenzenlose Verwunderung.
»Beeil dich«, drängelte Ruth. »Was meinst du, wie viele hier noch durchmüssen.«
Manni seufzte, streifte seine Klamotten ab und ließ dann stumm die erschreckende Prozedur über sich ergehen, von zwei gesichtslosen, gelb aufgeblasenen Monstern geduscht zu werden, gründlicher als in einem türkischen Hamam.
Das hier, das war gar nicht er. Das hier war bloß ein Film.
* * *
Zum dritten Mal innerhalb von wenigen Tagen wählte Idgie die Nummer von Kamforski. Sie wusste nicht, wohin er am Morgen so früh verschwunden war. Aber klar war eines: Auch Kamforski hatte sich in diesem Haus aufgehalten, mehrere Tage lang. Folglich musste auch er sich dieser Reinigungsorgie unterziehen, die Idgie gerade hinter sich gebracht hatte. Und das möglichst, bevor er die strahlenden Partikel munter in ganz Münster herumtrug oder wo er sich sonst gerade befinden mochte. Also rief sie ihn an. Als sie ihn an der Strippe hatte, sagte er ihr nicht, wo er war. Aber dass er so schnell wie möglich kommen würde, das versprach er.
Man hatte sie in eine sogenannte Erstkleidung gesteckt, einen grauen Trainingsanzug, der ihr zu weit war, da man ihr wegen ihrer Länge eine Männergröße zuteilen musste. Nun saß sie im Weißbereich der Dekontaminationseinrichtung und unterhielt sich angeregt mit einem der Einsatzkräfte, die gerade Pause machten.
Die Dekontaminationsprozedur selbst hatte ihr keinen Schrecken eingeflößt. Sie kannte so was von früher. An Bord der Forschungsschiffe hatte es ebenfalls solche Schleusensysteme gegeben, die die ungeschützten Bereiche, die Reinigungskabinen und die geschützten Bereiche voneinander trennten. Sie hatten dieses Verfahren nutzen müssen, wenn sie in Gewässern getaucht waren, in denen radioaktive oder chemische Verseuchungen vermutet wurden.
Was sie hier beeindruckte, war die Geschwindigkeit, mit der diese Dekon-Plätze eingerichtet worden waren.
»Fünfzig Personen pro Stunde können wir hier durchschleusen«, erzählte der junge Feuerwehrmann stolz. »Allerdings nicht, wenn sie verletzt und nicht gehfähig sind. Wenn wir die ManV liegend auf einem Spineboard versorgen müssen, dauert es etwas länger.«
»ManV? Spineboard?«, fragte Idgie irritiert.
»Oh, sorry«, sagte der junge Feuerwehrmann. »ManV ist der Code für Verletzte, und Spineboards sind diese langen Liegen in den Schleusen, die wie Leitern aussehen. So kommt man auch von unten an die Verletzten ran.«
»Wie lange braucht ihr, um eine solche Einheit hier aufzubauen?«
»Kommt drauf an, aus wie vielen Elementen die Dekon besteht.« Er kratzte sich am Kopf. »Hier diese VDekon, die bauen wir innerhalb von fünfundvierzig Minuten auf.«
»Echt? Respekt! Wie muss ich mir das denn vorstellen?«
»Die Dekons liegen in Containern. Wir haben spezielle Einsatzwagen, die mit einem Kran versehen sind. Damit kann man die Container ruckzuck aufladen. Die Dekons sind in Einheiten unterteilt. Wir haben einen für Personal, einen für Geräte und einen für Verletzte. Dann gibt es noch speziell einen für Ölunglücke.«
»Und das übt ihr häufig?«
»Na ja, ›häufig‹ ist übertrieben. Aber es gibt spezielle Übungsschulungen, die wir in regelmäßigen Abständen besuchen müssen. So, ich muss mal wieder. Der große Ansturm wird noch kommen.«
»Weißt du, wie viele Dekons jetzt in Essen stationiert wurden?«, fragte Idgie, als er bereits aufstand.
»Soweit ich weiß, wurden mehrere angefordert. Düsseldorf hat eine Einheit geschickt, Dorsten ebenfalls und Bochum. Wir hier kommen aus Dortmund. Wenn überhaupt, dann gibt es pro Bezirk nur eine komplette Einheit, also V, P, G und Öl. Normalerweise reicht das ja auch aus.«
»Normal ist hier schon lange nichts mehr«, murmelte Idgie. »Danke für die Infos, und pass auf dich auf.«
Sie sah ihm hinterher. Der große Zeltraum füllte sich zunehmend mit Menschen, die alle darauf warteten, dass ihnen jemand erzählte, wie es weitergehen würde.
In einer Ecke entdeckte sie Manni und Jan. Idgie ging zu ihnen hinüber. Manni schien trotz diesem Tumult zu schlafen. Idgie lächelte. »Beneidenswert«, sagte sie zu Jan. »Wie lange sägt der denn hier schon so?«
Jan starrte sie mit angstgeweiteten Augen an.
»Was ist denn mit dir los? Geht es dir nicht gut?«
»Die haben uns nur gewaschen!« Jans Stimme klang ungläubig. »Was passiert denn jetzt weiter?«
»Wir warten, bis sie mit der Untersuchung der Häuser fertig sind. Wenn alles in Ordnung ist, können wir zurück.«
»Häuser?«, echote Jan.
»Nun, ich nehme an, Ruths Haus wird genauso unter die Lupe genommen. Schließlich hatte sie ebenfalls Kontakt mit Nora.«
»Und was passiert mit uns? Ich meine, ich hab doch in Noras Bett geschlafen, ich war dauernd in ihrem Zimmer! Ich …« Seine Stimme schraubte sich schrill in die Höhe. »Ist das alles, was die hier mit uns machen? Waschen? Man kann doch Radioaktivität nicht einfach abwaschen!«
»Doch, das kann man, Jan.«
»Willst du mich verarschen? Abwaschen? Dass ich nicht lache … wir werden alle sterben …«
Eine Panikattacke, registrierte Idgie und hatte plötzlich das Bild des jungen Tauchers vor Augen, der unter ihrer Obhut zu Tode gekommen war. Dieser Junge hier hatte ebensolche Angst. Sie stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Warte einen Moment, ich bin gleich zurück.«
Suchend sah sie sich um. An der Seite des Zeltes entdeckte sie einen Tisch, auf dem mehrere große Thermoskannen und eine Riege Plastikbecher standen. Sie füllte einen Becher mit heißem Tee, den sie mit viel Zucker süßte.
»Hier, trink das.« Auffordernd hielt sie Jan den dampfenden Becher unter die Nase.
»Ich trinke doch hier kein Wasser!«, gellte er los und schlug hysterisch nach ihrer Hand.
»Jetzt hör mir mal genau zu«, herrschte sie ihn an. »Das hier ist ein Rettungszelt aus Dortmund. Glaubst du im Ernst, hier würde jemand Tee mit Essener Trinkwasser zubereiten? Trink das. Es wird dir guttun.«
Jan wich vor ihr zurück, als wäre sie eine giftige Schlange. »Da … ich … willst du mich umbringen?«
Idgie stellte den Becher auf dem Tisch ab und ging vor Jan in die Hocke. Sie fasste ihn an den Schultern. »Sieh mich an«, sagte sie, so freundlich sie konnte.
Er begann um sich zu schlagen und sie zu treten.
Jetzt reicht’s, dachte Idgie und knallte ihm kurzerhand mit der flachen Hand ins Gesicht. Erleichtert registrierte sie, wie Ruth die Schleuse verließ und in den weißen Bereich trat.
* * *
Manni hockte reglos an Ruths Küchentisch, die Ellenbogen aufgestützt, das Gesicht in den Händen vergraben.
Ruth konnte seine Verzweiflung verstehen. Sein Haus, sein Nest, in dem er so lange gelebt hatte, er durfte es nicht betreten. Nora hatte die Strahlung dort tatsächlich ordentlich verteilt.
»Das heißt doch nicht, dass es grundsätzlich unbewohnbar geworden ist«, sagte Ruth zum wiederholten Mal.
»Toll.« Mannis Tonfall war düster. »Nur so’n paar harmlose Alphadingsda.«
»Man kann das alles reinigen.«
»Klar doch. Wie lange strahlt das, hast du gesagt? Einhundertsiebenundsechzig Millionen Jahre?«
»Tausend«, antwortete Ruth sanft. »Nur einhundertsiebenundsechzigtausend.«
»Na das ist ja geradezu ein Klacks.«
»Ihr habt natürlich erst mal Asyl bei mir«, sagte Ruth eine Spur zu gelassen für diesen Anlass und drückte den Kater an sich, den sie ziemlich verstört im Geräteschuppen gefunden hatte, was kein Wunder war, schließlich war ein ABC-Trupp durch sein Revier getrampelt. Gemessen hatten sie nichts. Nur in der Waschküche war eine geringfügige Strahlung messbar gewesen. Die sollte sie erst mal verschlossen halten, bis sie gereinigt werden konnte.
»Sorry«, entschuldigte sie sich. »Aber ich bin einfach so unglaublich froh, dass ich hier nichts reingeschleppt habe, also, von der Waschküche mal abgesehen, aber da geht Schimmi nicht rein, die Tür unten ist immer zu. Ich meine, irgendwie werden wir uns hier schon alle arrangieren …«
»Ich fahre nach Münster zurück, sobald es geht«, sagte Kamforski. »Allerdings nur, wenn Idgie mich begleitet.« Er sah sie auffordernd an. »Allein lasse ich dich nicht hier.«
»Sie ist nicht allein«, muckte Manni auf.
Idgie grunzte. Dass sie ihre Motorradklamotten nicht mehr tragen würde, selbst wenn die gereinigt werden konnten, wie es so schön hieß, war ihr nicht so wichtig. An der Ural hing sie jedoch wirklich, mehr, als ihr bis dato bewusst gewesen war. Auf der Sitzbank hatten sich Spuren gefunden. Aber die könnte sie austauschen. Sie würde die Sitzbank austauschen und sicherheitshalber auch einen Satz neuer Räder dranmachen. »Nicht ohne meine Maschine«, sagte Idgie also. »Auf keinen Fall.«
Kamforski schien mit so etwas gerechnet zu haben. »Sei vernünftig. Willst du hier etwa auf dem Teppich schlafen? Denk an deine Knochen, die tun dir doch ohnehin schon weh genug. Oder willst du dir mit Jan oben die Gästematratze teilen? Die sah mir ein bisschen schmal aus.«
Idgie warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hatte selbst mitgeholfen, den jungen Schlaks, der von Ruth ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt bekommen hatte, die steile Treppe hinaufzubefördern. Jan schlief jetzt endlich, und das war auch gut so.
»Die Ural holen wir irgendwann mit einem Hänger ab. Ein Freund von mir hat so ein Teil, ich kann mir sein Auto leihen.«
»Ist dein Auto überhaupt clean?«, mischte Ruth sich ein.
Kamforski nickte. »Schwein gehabt. Es wurde vorhin durchgecheckt.«
»Schön, dass ihr alle so ein Schwein habt«, sagte Manni säuerlich.«
»Mensch, Manni, das ist doch nur vorübergehend«, wandte Ruth ein. »Und in den letzten Wochen hatte ich nicht den Eindruck, als wärest du ungern hier. Besser als im Hotel ist es hier allemal. Ihr beide könnt das Sofa hier nehmen. Das lässt sich ausklappen.«
»Du kannst auch gerne mit dem Zug fahren. Ich bringe dich zum Bahnhof«, führte Kamforski seine Unterhaltung mit Idgie fort. »Bis dahin kannst du dir ja überlegen, ob du es schaffst, dich gegen Tausende von Leuten durchzusetzen, die ebenfalls aus der Stadt rauswollen. Da herrscht bestimmt das blanke Chaos auf dem Bahnhof.«
»Ich bin noch nicht fertig hier.« Idgies Stimme war ebenso störrisch wie ihr Blick.
»Ich doch auch nicht«, bettelte Kamforski nun fast. »Aber das braucht nun mal alles seine Zeit. Der Antrag auf Exhumierung läuft, mein Expartner hat das in die Wege geleitet.«
»Wir könnten sie wenigstens schon mal wegen des Anschlags auf mich aufmischen.«
»Ja, das könnten wir, wenn wir mit dem Auto aus der Stadt rauskämen.« Kamforski strich sich durch die grauen Bartstoppeln, während er überlegte. »Vielleicht … ich hab da so eine Idee.«
»Kannst du fliegen? Wie soll es klappen, wenn die Straßen mit stehen gelassenen Autos vollgestopft sind?«
»Hast du dich nicht gefragt, wie ihr heute früh zum Zelt gekommen seid?«
»Jetzt, wo du’s sagst … irgendwie sind wir durchgekommen.«
»Sie räumen Gassen auf den Hauptstraßen frei. Vorhin war ich zu Fuß unterwegs, als du angerufen hast. Ich wollte mir ein Bild von der Lage machen. Sie schleppen ab und bilden Gassen für die Einsatzkräfte. Die Zivilbevölkerung hat striktes Fahrverbot.«
»Wie lautet dann dein Plan?«
Kamforski lächelte stolz. »Das hier ist mein altes Dienstfahrzeug. Ich hab’s zu einem guten Preis übernehmen können. Als ich meine Dienstmarke und das ganze Zeug abgegeben habe, habe ich nicht an das Blaulicht gedacht. Keiner hat daran gedacht. Das fliegt immer noch in einem Karton auf dem Rücksitz rum. Mit dem Blaulicht auf dem Dach hält uns keiner an, wetten?«
»Dann lass es uns versuchen. Ich will den Drecksäcken ins Gesicht sehen.«
* * *
»Wie dick, glaubst du, wird es noch kommen?«, fragte Manni.
»Ich weiß nicht«, sagte Ruth zaghaft. Sie zögerte, während sie sich über den Bauch strich. Noch hatte sie nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden. Aber sie musste es ihm doch sagen. »Ich weiß nur, dass es besser ist, die Stadt zu verlassen. Weißt du …«, hob sie an. Ohne es zu bemerken, strich sie sich erneut über den Bauch.
»Ich geh hier nicht weg. Nicht, solange ich Nora nicht mitnehmen kann.«
Ruth zog die Hand vom Bauch zurück und legte sie neben die andere auf den Tisch. Keine gute Gelegenheit, das Thema anzusprechen, entschied sie, während sie auf ihre Finger starrte. »Wie geht es ihr?«, fragte sie schließlich.
»Besser. Sie ist schwach wie ein kleines Kätzchen, aber sie ist vergnügt. Ich hab den Eindruck … sie wird ein bisschen kahl.«
Ruth fing den unsicheren Blick auf, den er ihr zuwarf.
»Das ist die Strahlung«, sagte sie behutsam. »Manni … ich wünsch dir so sehr, dass das nicht passiert, aber …«, sie sah ihn bedrückt an, »es könnte auch wieder kippen, sehr schnell und sehr plötzlich. Man kann nicht sicher sein, das habe ich dir schon gesagt.«
»Ja. Hast du. Aber das ist Quatsch. Ich hab sie schließlich gesehen.«
Ruth seufzte resigniert. Wirklich kein guter Zeitpunkt. Aber wann sonst, wenn nicht jetzt? Sie konnte doch nicht einfach so abhauen. Sie musste ihm doch wenigstens begründen, warum sie hier weggehen würde. Sie räusperte sich. »Manni, ich muss hier weg, weil … ich … krieg doch was Kleines, verstehst du«, stammelte sie unentschlossen.
Das blecherne Krächzen eines Funkgerätes schnitt ihr das Wort ab.
Manni nestelte das Gerät aus seiner Jackentasche und hob es ans Ohr. »Verstanden«, sagte er schließlich und schob das Funkgerät zurück in die Tasche.
Ruth sah ihn fragend an.
»Ich muss los«, sagte Manni knapp. In der Tür blieb er stehen und drehte sich noch mal zu ihr um. Er sah erstaunt aus.
Hatte er etwa verstanden, was sie ihm da gesagt hatte? Ruth schluckte verlegen. Aber sie hatte Mannis Gesichtsausdruck falsch gedeutet.
»Das grade war Meininger. Er sagt … die …« Manni stockte und räusperte sich. »Die tragen die Ruhrwiesen ab. In den frühen Morgenstunden haben sie damit begonnen. Und auch sonst mischen die jetzt überall mit. Die ganze Stadt ist voll von … sind wir hier eigentlich im Krieg oder was?«
* * *
Mit versteinerter Miene beobachtete Ruth die Abräumarbeiten. Sie stand an der gleichen Stelle wie ein paar Tage zuvor auf dem Weg unterhalb der Kurt-Schumacher-Brücke und blickte auf das, was von den Ruhrauen übrig geblieben war. Unter ihr hatten die Bagger bereits ganze Arbeit geleistet und die ehemals liebliche Landschaft in eine klaffend aufgerissene, martialisch anmutende Erdfläche verwandelt, die nach Verwundung aussah, nach gewaltsamem Übergriff, der trostlosen Wüstenei eines Tagebaus nicht unähnlich. Etliche Bäume waren gefällt worden und wurden an den Rand der riesigen Fläche geschafft, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen von Lkws, die eindeutig nach Armeefahrzeugen aussahen und deren Aufgabe es offensichtlich war, die abgegrabenen Tonnen von Erde wegzuschaffen, wohin auch immer.
Ruth wandte sich an den Uniformierten neben sich und verschränkte die Hände schützend vor ihrem Bauch. Sie hatte keine Ahnung von militärischen Dienstgraden, erinnerte sich jedoch, dass der Mann neben ihr etwas von Oberfeldwebel geschnarrt hatte, bevor er sie zu diesem Platz führte. Erwünscht war ihr Auftauchen hier nicht gewesen. Aber ihr Ausweis vom Gesundheitsamt Essen hatte dann doch überzeugt.
»Sie haben gesagt, dass Sie auch an anderen Stellen der Ruhr den Boden abtragen«, fasste sie nochmals zusammen.
»Überall da, wo Fässer gestrandet sind«, bestätigte der Mann vom Militär. »Außerdem wird der See abgesucht.«
»Und Sie glauben, das reicht?«
»Glauben gehört nicht zu meinem Aufgabengebiet. Ich weiß, dass es auf jeden Fall sinnvoll ist, den verseuchten Boden abzutragen. Das ist unser Auftrag. Den Rest entscheiden andere.«
»Schon gut. Wissen Sie, wie ich jetzt von hier zum Gesundheitsamt in die City kommen kann?«, fragte Ruth. »Seit vorgestern blockieren zig stehen gelassene Autos die Hauptverkehrsstraßen.«
»Das sollte mittlerweile wieder gehen. Die Abschleppunternehmen sind im Dauereinsatz, und der Rest wird von uns geräumt. Die Bevölkerung ist allerdings dazu angehalten, die geräumten Gassen nicht zu befahren, damit die Einsatzkräfte freie Bahn haben. Halten Sie Ihren Dienstausweis bereit, dann wird man Sie durchlassen.«
Ruth fuhr los. Unterwegs überlegte sie es sich anders und schwenkte in Richtung Bredeney ab. Sie war sich nicht sicher, ob das Telefonnetz mittlerweile wieder zuverlässig funktionierte. Lieber wollte sie persönlich vorbeischauen.
* * *
Duisburg, 11. April
Sein Plan mit dem eingeschalteten Blaulicht auf dem Auto ging auf. Anderthalb Stunden später rumpelte Kamforski langsam durch das Ruhrorter Gewerbegebiet, während Idgie versuchte, sich zu orientieren.
»Verstehst du, was ich meine?«, grollte sie. »Egal wo du hinguckst: Man kann es einfach nicht lesen. Diskriminierung, so nenne ich das. Altersdiskriminierung. Irgendeine dieser Sackgassen in Richtung Rhein und dann rechts in eine Stichstraße. Irgendwo hier … halt mal an.«
»Ich schalte jetzt das Navi ein«, ignorierte Kamforski gelassen den Ausbruch.
»Glaub mir, mein Navi ist hier völlig ausgestiegen. Und dann noch diese Schilder … das war die Krönung.«
»Hör auf, dich aufzuregen. Bringt doch nichts.«
»Ist doch wahr. Die Stereoanlage bei Hannes, die hat schwarze Tasten auf schwarzem Grund. Wer zum Teufel denkt sich nur so einen Mist aus!«
»Mein Navi scheint zu wissen, wo es hinmuss.« Kamforski grinste zufrieden und bog in die nächste Stichstraße ein. »Wie wär’s mal mit einem Update? Nur so ein kleiner Tipp am Rande …«
»Klugscheißer. Da vorne ist es. Ich erkenne das Tor wieder. Aber da wirst du nicht reinkommen. Der Pförtner ist so ein Übereifriger.«
Kamforski langte nach dem Blaulicht, das er wieder auf den Rücksitz geworfen hatte. Er fuhr das Fenster herunter und pflanzte das Blaulicht aufs Dach, ohne es jedoch einzuschalten. »Dann mal los«, murmelte er und bog in die Sackgasse ein, an deren Ende sich in stiller Eintracht die Betriebsgelände von PoIF und Atomic Removal befanden.
»Wir würden gerne einen Blick auf Ihren Fuhrpark werfen«, erklärte Kamforski freundlich, als sich der Pförtner dem Wagen näherte.
»Wieso?«
»Kamforski, Kripo Münster. Wir suchen nach einem bestimmten Fahrzeug. Die Dienstmarke habe ich leider nicht dabei. Aber Sie finden mich auf der Website. Ich warte gerne, bis Sie das überprüft haben.«
Der Pförtner musterte ihn so ausgiebig, als wollte er sich seine Gesichtszüge genau einprägen. Wenig später kam er wieder aus dem Pförtnerhaus heraus.
»Welchen Wagen suchen Sie denn?«, fragte er, nun recht diensteifrig.
»Ford Ranger, DU-PF 7745. Ist als Firmenwagen der Preparing of Industriel Facilities gemeldet, sagt unsere EDV. Wissen Sie, wer den Wagen fährt?«
»Der Ranger? Das ist dem Manuel seiner. Manuel Hoelscher, meine ich. Worum geht es denn?«
»Das möchte ich lieber mit Herrn Hoelscher selber klären«, sagte Kamforski streng.
»Ist er da?«, mischte Idgie sich ein.
»Fahren Sie durch. Der Wagen müsste links hinten bei der kleinen Werkshalle stehen.«
Die Schranke hob sich, und sie wurden durchgewinkt.
»Das ist die Karre«, sagte Idgie aufgeregt, als sie auf den kleinen Parkplatz neben der Werkshalle zuhielten. »Eindeutig. Diese Scheinwerferleiste auf dem Dach, verbieten sollte man so was. Und vorne unter dem Kühlergrill, da muss Ranger oder so stehen. Wirst du gleich sehen.«
»Da sitzt jemand im Auto«, stellte Kamforski fest, schaltete den Motor aus und rutschte vom Sitz.
Dröhnendes Bassgewummer drang aus dem Innern des Ranger.
»Macht ein gemütliches kleines Zigarettenpäuschen, wie’s scheint.«
Idgie drängte sich kurzerhand an Kamforski vorbei und riss die Tür des Geländewagens auf.
Hoelscher hatte die Augen geschlossen und nickte im Takt zum wuchtigen Bassbeat von Rammstein. Die Boxen hämmerten ihm den Sound direkt in den Magen. Geil ey, yeah.
Er nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. Wurde langsam Zeit, wieder reinzugehen. Besser, er hielt den Ball flach. Die Kollegen waren eh schon auf hundertachtzig, weil er so lange krank gewesen war. Er wollte den Bogen nicht überspannen. Nur noch das Stück zu Ende hören. Geiler Sound, echt.
Dass die Tür aufgerissen wurde, hörte er nicht. Er spürte einfach nur den Luftzug, fühlte sich rüde am Kragen gepackt und lag plötzlich wie ein Käfer auf dem Rücken.
»Hey«, brüllte er und riss die Augen auf. »Ja spinnt …« Er verstummte. Was macht die denn hier?, schoss es ihm durch den Kopf. Ein greller Schmerz jagte ihm ins Gehirn. Für einen kurzen Moment sah er gar nichts mehr, nur Schwärze und kleine Lichtblitze. Dann spürte er etwas Schweres auf seiner Brust, und im nächsten Moment riss sie ihn am Kragen seiner Jacke in die Höhe und rüttelte ihn kräftig durch.
»Du wolltest mich umbringen, du Arschloch!«
Das war tatsächlich diese Schabracke. Sie kniete auf ihm wie eine Furie und schrie, während sie ihn schüttelte. So viel Kraft hätte er der alten Schachtel gar nicht zugetraut. Unterschätzen Sie bloß die Frauen nicht, hörte er die Stimme von Big Boss.
»Hör auf!« Eine andere Stimme. Tiefer Bass. Sonor. »Lass gut sein, Idgie.«
Für einen kurzen Moment fühlte Hoelscher sich schwerelos. Die Schabracke hatte losgelassen. Er knallte hart mit dem Hinterkopf auf den Boden. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit sah er Lichtblitze vor seinen Augen flimmern. Das Nächste, was er wahrnahm, war der Stahl um seine Handgelenke, begleitet von einem dezenten Klacken.
* * *
Essen, 11. April
Beim Landesamt für Umwelt und Verbraucherschutz am Schuir herrschte rege Betriebsamkeit. Zwei der Messwagen, die in den letzten Tagen im Einsatz gewesen waren, standen auf dem Parkplatz, auf dem etliche weitere Fahrzeuge abgestellt waren, davon drei mit Berliner Kennzeichen. Die Prominenz aus der Hauptstadt war eingetroffen.
Ruth stellte sich vor und fragte nach Norbert Becker, dem Mitarbeiter vom Landesamt, mit dem sie in den vergangenen Tagen so häufig telefoniert hatte. Schließlich saß sie einem rundlichen Mann mit ebenso rundlicher Brille und Vollbart gegenüber, der ein bisschen nach Althippie aussah. Die Brillengläser, durch die er sie mit rot geränderten Augen anblinzelte, hätten dringend einer Reinigung bedurft.
»Auch einen Kaffee?«, fragte er.
»Wäre prima.«
Ruth sah ihm zu, wie er aufstand, zur Kaffeemaschine an der kleinen Küchenzeile am anderen Ende des Raumes ging und einen Becher füllte, auf dem Lovely Rosi stand. Auf der Rückseite des Bechers glotzte eine Cartoon-Kuh großäugig in ihre Richtung.
»Nicht gerade Topkaffee, und der Becher ist auch angeschlagen«, entschuldigte sich Becker.
»Macht nichts. Danke.« Ruth pustete in das dampfende Gebräu. »Können Sie mich bitte auf den neuesten Stand bringen? Die Ruhrwiesen werden abgetragen …«
Becker nickte. »Radium und Polonium im Trinkwassergewinnungsgebiet der Ruhr sind eindeutig nachweisbar. In den Brunnen und Wassertürmen der Stadt war das Zeug ebenfalls messbar, allerdings bereits deutlich niedriger als die Werte an vielen Stellen der Ruhrwiesen.«
»Das ist doch auch logisch, oder?«
»Logisch, ja. Das Zeug wird beim Durchlauf durch das Wasser mächtig verdünnt.«
»Und was nun?«
»Ganz einfach: Grenzwerte für diese Radionuklide im Trinkwasser gibt es nicht. Wie Sie vermutlich wissen, wurde erstmalig in der Trinkwasserverordnung 2011 ein Grenzwert von null Komma null eins null Gramm pro Liter für Uran festgelegt, nicht jedoch für andere Radionuklide. Also – so das Bundesamt für Strahlenschutz – ist es vertretbar, den Wasserkreislauf wieder zu aktivieren. Den Boden auf den Ruhrwiesen trägt man ab, neuen Mutterboden bringt man wieder auf, um den größten Verseuchungsherd zu beseitigen. Mehr kann man nicht tun – wie bei anderem radioaktivem Fallout auch. Der Trinkwasserkreislauf soll schnellstmöglich wieder in Betrieb genommen werden.«
Ruth sah ihn sprachlos an. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!«
»Meiner?« Becker lachte auf. Es war ein freudloses Lachen. »Gewiss nicht. Ich bin nur der Bote und übermittele hier die offizielle Begründung. Wollen Sie sie hören?«
Ruth nickte.
»Letztendlich besteht laut Bundesamt kein weiterer Handlungsbedarf, denn erstens ist das Wasser aufgrund einer Verkettung menschlichen Versagens einmalig verunreinigt worden, zweitens ist es eine überschaubare Verunreinigung, der jetzt durch den Austausch des Bodens Genüge getan wird, und drittens werden sich die Reste der Verunreinigung im Laufe der Zeit immer mehr reduzieren.«
»Kann ich die Messergebnisse sehen?«, bat Ruth.
Becker hackte auf seinem Notebook herum und drehte ihr schließlich den Bildschirm zu. »Hier. Bitte. Stets zu Diensten.«
Schweigend studierte Ruth die Zahlen.
»Und?«, fragte sie schließlich mit zaghafter Stimme. »Was sagen Sie als Experte dazu? Unbedenklich oder nicht?«
»Dieses Wasser würde ich nicht trinken, so viel steht fest.«
»Ich auch nicht.« Ruth seufzte und stand auf. »Danke für den Kaffee.«
Kurze Zeit später saß sie im Zimmer ihres Vorgesetzten.
»Und wir können nichts weiter tun?«
Grothe zuckte mit den Schultern. »Ich will nicht zynisch sein, Frau van Haag. Letztendlich bin ich genauso entsetzt wie Sie. Aber eine rechtliche Grundlage gibt es nicht, diese Entscheidung anzufechten. Das ist keine Sache des Gesundheitsamtes mehr und auch nicht mehr die des Landesamtes. Wir wurden ausgehebelt, so einfach ist das. Allerdings bewegen sich die Entscheidungsträger auf dünnem Eis. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass nicht ich das entscheiden musste. Das hier ist eine der zehn größten Städte Deutschlands, und das mitten in einem Ballungszentrum. Wie sollte man diese Stadt jetzt ad hoc über einen längeren Zeitraum mit anderem Wasser versorgen? Mit einem anderen Leitungssystem? Ob die Entscheidung richtig war, wird man vielleicht in zehn bis zwanzig Jahren wissen. Es gibt keine Erfahrungswerte, das ist das Problem.«
»In den USA schon«, sagte Ruth böse. »Dort gibt es reichlich Erfahrungswerte auf dem Gebiet. Knochen-, Brust-, Leberkrebs und Leukämie.«
»Liebe Frau van Haag. Ich kann beim besten Willen nichts tun.«
»Eine vernünftige Entscheidung sähe anders aus.« Ruth fixierte ihn kühl über den Rand ihrer Brille hinweg. »Und das wissen Sie auch ganz genau. Ich bin nicht bereit, mich mit dieser hier abzufinden. Ich kündige. Fristlos. Sie bekommen es noch schriftlich.«
»Das tut mir leid.« Grothe senkte den Blick.
* * *
Münster, 11. April
»Können wir nicht wenigstens zuhören?«, fragte Idgie, während sie die Treppen im Münsteraner Kommissariat hinunterpolterten.
»Nein«, sagte Kamforski knapp. Er wusste, dass er die Geduld seines Freundes Karl Rotermund nicht noch mehr strapazieren durfte. »Wir haben uns ohnehin schon verdammt weit aus dem Fenster gelehnt mit dieser Aktion. Mehr können wir jetzt nicht tun.«
Die letzte Stunde hatten sie bei Rotermund im Zimmer gesessen und ihn instruiert. Sie hatten Hoelscher. Aber hatten sie damit auch den tatsächlichen Verantwortlichen? Gewiss nicht.
»Meinst du, Hoelscher wird auspacken?«
»Lass Karl mal machen. Wenn der das nicht schafft, schafft es keiner. Er wird ihn schon knacken.«
»Meinst du, er denkt wirklich an alles? Der vergiftete Hund, der gestohlene Laptop, der Einbruch … Er wirkte so seltsam abwesend.«
Kamforski grinste. »Das ist sein Trick. Glaub mir, der war eben voll da. Er hat uns genau zugehört, und er hat ein phänomenales Gedächtnis. Und was machen wir zwei Hübschen jetzt? Soll ich dir vielleicht mal meine Wohnung zeigen?«
Idgie boxte ihm gegen den Bizeps. »Nettes Angebot. Aber – sei mir nicht böse. Ich möchte lieber noch mal nach Essen zurück. Ich mag die anderen jetzt nicht im Stich lassen. Zumindest will ich nicht so sang- und klanglos verschwinden.«
Kamforski seufzte. »Das habe ich befürchtet«, sagte er mürrisch.
* * *
Hoelscher klopfte zittrig eine Zigarette aus der zerknitterten Packung.
»Rauchverbot«, kommentierte der Bulle gelangweilt, der in seiner gelbbraunen Uniform auf dem Stuhl neben der Tür saß. »Im ganzen Gebäude.«
Hoelscher sackte in sich zusammen und massierte seine Handgelenke. Wenigstens hatten sie ihm die Eisen abgenommen.
In seinem Kopf ratterte es unaufhörlich. Diese Schabracke … wie war die bloß auf ihn gekommen? Es war doch dunkel gewesen, als er hinter ihr her war, und Nummernschilder waren doch nur hinten beleuchtet. Aber sie hatte ihn gefunden. Er überflog flüchtig die möglichen Anklagepunkte. Irgendwie musste sie das Automodell erkannt haben, schloss er zu guter Letzt. Ford Ranger waren in dieser Gegend nicht gerade häufig vertreten. War vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, das mit der Scheinwerferleiste auf dem Dach. Und dennoch: Wenn sie das Nummernschild nicht gesehen hatte, konnte man ihm nichts nachweisen.
Er versuchte sich zu entspannen. Dann fiel ihm die CSI-Folge ein, die er vor Kurzem im Fernsehen gesehen hatte. Da hatten sie anhand der Staub- und Erdpartikel, die sie im Profil eines Reifens gefunden hatten, den Täter überführen können, obwohl der danach mit der Karre in der Waschstraße gewesen war. Aber das war Waldboden gewesen. Er jedoch war nur Straße gefahren. Reichte das für so einen Beweis? War der Dreck auf den Essener Straßen ein anderer als der in Duisburg? Er konnte immer noch behaupten, er hätte dienstlich nach Essen gemusst, ein, zwei Tage vorher.
Hoelscher biss sich auf die Lippen, während die Gedanken weiter rotierten. War das überhaupt deren Zuständigkeitsbereich? Kripo Münster? Da hatten sie ihn hingekarrt. Durften die das überhaupt? Jemanden in Duisburg verhaften, ohne dass die Duisburger Behörde mit im Boot war? Musste man da nicht die örtliche Behörde …?
Aber selbst wenn: Was konnte man ihm im Zweifelsfall nachweisen? Dass er ein bisschen über die Stränge geschlagen hatte beim Autofahren, mehr ja wohl nicht. Schlimmstenfalls war er den Lappen für ein paar Monate los. Die Schabracke hatte keine Zeugen. Und als er sie niedergeschlagen hatte, war er von hinten gekommen. Sie konnte ihn einfach nicht gesehen haben. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Verdammt unbequem war der. Wann kamen die denn endlich, um ihn zu verhören? Die konnten ihm gar nichts. Keine Beweise. Die gab es nicht.
Und wenn jemand sein Auto dort in der Siedlung erkannt hatte? Vielleicht hatte ja ein Anwohner aus dem Fenster geguckt, als er da am Waldrand gestanden und gewartet hatte, und sich das Nummernschild gemerkt. Ruhig Blut, Hoelscher. Es war dunkel und mucksmäuschenstill in der Siedlung gewesen. Niemand war auf der Straße gewesen, nicht mal’n Gassigänger mit Köter. Die hatten alle brav vor der Flimmerkiste gehockt. Keiner konnte ihm was anhaben. Keiner! Sobald er hier raus war, und lange konnten sie ihn hier nicht festhalten, würde er Big Boss bitten, ihm für den Abend ein Alibi zu geben. Genau das würde er tun. Schließlich hing der ebenso mit drin wie er.
Endlich bequemte sich mal jemand, reinzukommen. Nicht der von vorhin, der Bär mit dem Zopf, sondern ein schütterer Mann mit Hornbrille, ziemlich schmächtig. In der Hand trug er ein kleines Tablett mit zwei Plastikbechern.
»Rotermund, Kripo Münster«, sagte er mit leiser Stimme. Er schob ihm einen Becher Kaffee über den Tisch, öffnete eines der Milchdöschen und schüttete den Inhalt in seinen Becher. »Milch, Zucker … bitte, bedienen Sie sich.« Gemächlich riss er ein Tütchen auf, ließ die weißen Körnchen in das schwarze Gebräu rieseln und rührte mit dem Plastiklöffel um, der auf dem Tablett lag.
Na, der hatte ja wohl die Ruhe weg. Irgendwie wirkte der schusselig. So, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders.
»Herr Hoelscher, Sie wissen, warum Sie hier sind?«
»Keinen Schimmer, ehrlich nicht. Ich hab nix getan«, beteuerte Hoelscher. »… alles ein großes Missverständnis. Ich weiß wirklich nicht … wo ist eigentlich der andere?«
»Kamforski meinen Sie? Der ist nicht mehr im Dienst.«
»Wie jetzt? Erst karrt er mich hier nach Münster, und dann macht er einfach Feierabend und geht nach Hause?«
Ein ironisches Lächeln traf ihn. »Er ist mein Expartner. Sie haben sich von einem Pensionär verhaften lassen, Herr Hoelscher.«
Hoelschers Kiefer klappte nach unten.
»Dann war das gar nicht …« Hoelscher suchte nach einem passenden Wort.
»Rechtskräftig, meinen Sie? Das war es schon. Ich war die ganze Zeit dabei.« Der Schmächtige seufzte. »Was glauben Sie, wie nervig das ist – immer in Kamforskis Schatten. Ich werde einfach nicht wahrgenommen, wenn er im Raum ist.«
Hoelscher starrte ihn an. Dass sein Mund immer noch leicht offen stand, merkte er nicht. »Hä? Aber Sie waren doch nicht …«
»Doch, ich war. Sie haben mich nur nicht gesehen. Herr Hoelscher.« Rotermund beugte sich vor, schaltete das kleine Mikrofon auf dem Tisch ein und diktierte Datum und Uhrzeit. »Sie stehen unter dringendem Tatverdacht wegen der folgenden Delikte: Einbruch, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, Mordversuch und Mord.«
»Mord?«, stammelte Hoelscher. »Aber … sie ist doch nicht …« Er verstummte.
»Frau Callahan meinen Sie? Die lebt noch. Das haben Sie vermasselt. Es geht aber auch um Hannes Schindler.«
Hoelscher starrte ihn an.
»Wir werden beweisen, dass Sie sein Haus schon seit geraumer Zeit beobachtet haben. Sie haben den Wald dort oben als Aschenbecher missbraucht. Gar nicht klug. Sind Sie mit einer Speichelprobe einverstanden?«
Hoelscher biss sich auf die Lippen und schüttelte abwehrend den Kopf. Jetzt haben sie mich am Arsch, dachte er.
»Dann warten wir eben, bis der richterliche Beschluss da ist.« Der Schmächtige zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Das kann sich nur noch um Stunden handeln.« Er nahm einen Schluck Kaffee aus dem dampfenden Becher.
»Des Weiteren können wir beweisen, dass Sie zwei Mordanschläge auf Frau Callahan verübt haben. Ihr Auto wurde zum fraglichen Zeitpunkt am Haus von Manfred Neumann gesehen, kurz bevor der zweite Anschlag auf sie verübt wurde. Das Nummernschild, Sie verstehen?«
Hoelscher schluckte. Und wie die mich am Arsch haben! »Was heißt denn hier Mordversuch?« Seine Stimme klang schriller, als er wollte. »Ich wollt die doch nur’n bisschen aufmischen!«
»Weshalb, Herr Hoelscher? Sagen Sie es uns. Wenn Sie nicht kooperieren, machen Sie die Sache nur noch schlimmer.« Der Schmächtige nahm die Hornbrille ab und begann sie zu putzen.
Eine Fluppe. Ich brauch eine Fluppe, sonst dreh ich durch. Hoelscher fuhr mit der Hand in die Hosentasche und fühlte das Knistern der Packung. Ich werd verrückt, wenn ich jetzt keine rauchen kann. Schweiß trat auf seine Stirn.
»Rauchen Sie ruhig«, sagte sein Gegenüber mit gütiger Stimme. »Sonst gehen Sie mir hier ja noch die Wände hoch.«
Hoelschers Hand zitterte, als er sich die Zigarette ansteckte. Er inhalierte tief und blies den Rauch aus der Nase aus. Himmel, tat das gut. Er nahm noch einen langen Zug. Das Zittern in der Hand ließ langsam nach.
»Also weshalb, Herr Hoelscher? Weshalb haben Sie das Haus von Hannes Schindler verwanzt? Und weshalb haben Sie es weiterhin abgehört, als Hannes Schindler schon längst tot war?«
Noch ein tiefer Zug. Und noch einer. Einatmen. Das Nikotin spüren. Nachdenken. Sie hatten ihn verdammt noch mal am Arsch.
»Ich an Ihrer Stelle würde kooperieren, Hoelscher …«, drang es zu ihm durch.
Er drückte die Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. Nur noch zwei in der Packung. Wie sollte er das hier bloß überstehen? Er inhalierte tief und hielt den Rauch in der Lunge fest.
»… wenn Sie uns helfen, die wahren Täter zu erwischen …«
Mit einem lauten Zischen stieß er den Rauch wieder aus. Was sollte er tun? Big Boss … der musste ihm ein Alibi geben. Instinktiv wusste Hoelscher jedoch, dass ihn das nicht mehr rausreißen würde. Sie hatten seine DNA.
»Und wir werden beweisen, dass Hannes Schindler keines natürlichen Todes gestorben ist. Die Exhumierung ist bereits beantragt.«
Hannes Schindler? Wieso …? Der war ermordet worden? Aber … das hatte er doch nicht …?
»Im Augenblick interessiert uns jetzt primär eine Sache.«
Hoelscher merkte, dass ihm feine Schweißperlen auf die Stirn traten.
»Na kommen Sie schon. Den Mord, den haben Sie doch nicht allein geplant.«
»Aber damit habe ich nichts zu tun«, stammelte er.
»Wer ist Ihr Auftraggeber?«
»Mord?«, gellte Hoelscher los. »Ich … das lass ich mir nicht anhängen …«
* * *
Essen, 11. April
Obwohl er in der letzten Stunde kaum etwas gesagt hatte, hatte Manni genau zugehört. Jetzt war er im Bilde, und selbst wenn er nichts von diesen Radiodingsda verstand: Er hatte begriffen, dass sie Nora in Lebensgefahr gebracht hatten. Er hatte begriffen, dass dieses Fracking-Gedöns die Region hier nachhaltig verändern konnte. Er hatte verstanden, dass wenigstens einer der Verantwortlichen wegen des tätlichen Angriffs auf Idgie verhaftet worden war, dass der vermutlich aber wieder rauskommen würde, weil die Beweislage zu dünn war. Er hatte mitbekommen, dass Potelske, der Geschäftsführer der AV&R GmbH, der das ganze Desaster mit ein paar horrenden Fehlentscheidungen losgetreten hatte, in U-Haft saß und mit einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung rechnen musste sowie einer saftigen Geldstrafe wegen Sachbeschädigung. Und laut Kamforski war es mehr als wahrscheinlich, dass Potelske sich aus dieser Nummer nicht mehr würde rauswinden können. Manni hatte begriffen, dass das Trinkwasser der Stadt aus Ruths Sicht nachhaltig verseucht war und dass sie die Brocken hingeschmissen hatte und die Stadt verlassen würde. All das hatte er verstanden. Und er fand, dass das alles nicht in Ordnung war. Nichts war in Ordnung.
»Wir sollten sie zur Verantwortung ziehen«, sagte Manni. »Wir sollten die nicht einfach so davonkommen lassen.«
»Wen jetzt genau?«, fragte Idgie.
»Alle.« Anklagend wies Manni auf den Ausdruck mit dem Foto, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Es reicht nicht, dass dieser Potelske sitzt. Es reicht auch nicht, dass der Kerl eingelocht wurde, der dich auf dem Moped drangsaliert und meine Gasleitung manipuliert hat. Meine Tochter ist schwer krank und mein Haus unbewohnbar. Das reicht einfach nicht!«
»Was schlägst du vor?«
»Fünf Freunde beim Golfen! Ich krieg das Kotzen, wenn ich diese Visagen sehe!« Krachend ließ Manni die Faust auf den Ausdruck knallen. »Wir sollten sie dazu zwingen, sich die Sache noch mal zu überlegen.«
»Und wie willst du das anstellen?« Kamforski beugte sich interessiert nach vorne und legte die Fingerspitzen gegeneinander.
»Drohbriefe«, sagte Manni schlicht. »Wir verschicken Röhrchen mit dem Sauzeug und drohen mit mehr, wenn sie nicht die Wahrheit sagen. Dieser Gutachter soll zugeben, dass er für die Gutachten bezahlt wurde, diese ganzen Mauschler bei den Firmen sollen zugeben, dass sie ein bisschen nachgeholfen haben, um Bewertungen in ihrem Sinne zu kriegen, die Erdgasfritzen sollen zugeben, dass sie genau wissen, was für eine Scheiße sie da täglich bei ihren Bohrungen hinterlassen, diese Neue-Energie-Fuzzies sollen zugeben, dass diese Schlämme hochgefährlich sind, und die feinen Herrn Politiker sollen ihre Beschlüsse wieder rückgängig machen und denen die Konzessionen wieder entziehen. Wir schicken denen so lange Röhrchen mit dem Zeug, bis sie es mit der Angst zu tun kriegen.« Die Faust landete erneut auf dem Ausdruck.
»Aber du kannst doch nicht …« Jan, der die ganze Zeit schweigsam und durch die Beruhigungsmittel immer noch seltsam apathisch mit am Tisch gesessen hatte, mischte sich ein.
»Wieso? Klingt doch ausgesprochen verlockend.« Idgies Augen funkelten vergnügt, und auch Kamforski grinste breit. »Aber wir wären so schnell eingebuchtet, dass wir nicht bis drei zählen könnten.«
»Nicht in Ordnung«, wiederholte Manni störrisch.
»Nein. In Ordnung ist es nicht. Aber daran änderst du auch nichts, wenn du selbst kriminell wirst«, sagte Kamforski bedächtig. »Leider.«
»Einfach nicht in Ordnung!«
Die Melodie von Pink Panther erhob sich im Raum. Kamforski kramte das Telefon aus seiner Jackentasche und warf einen Blick auf das Display. »Na, das Netz scheint ja wieder stabil zu sein«, brummte er. Dann hob er das Mobiltelefon ans Ohr und verließ die Küche.
Gespannt warteten die anderen, bis er wieder zurück am Tisch war.
»Hoelscher hat ausgepackt.«
»Und? Nun mach’s mal nicht so spannend.«
Kamforski sah Idgie mit düsterer Miene an. »Hoelscher will als Kronzeuge gegen seinen Chef aussagen. Achim Reimers, einer der beiden Vorstände der Atomic Removal AG. Außerdem ist Achim Reimers nicht nur stiller Teilhaber bei dieser Gutachterbude, sondern auch bei der PoIF.«
»Dieser Rohrreinigungs-Firma?«
»Ja. Reimers hat ihn bezahlt. Für die Verwanzung von Schindlers Haus, für den Einbruch und den Diebstahl von Hannes’ Laptop und später dann der Festplatte und für die Angriffe auf Idgie. Hoelscher hat auch zugegeben, dass er Schindlers Hund mit Rattengift vergiftet hat. Aber mit dem Mord an Schindler will er nichts zu tun gehabt haben.«
»Und warum das Ganze?« Ruth runzelte die Stirn. »Wozu die ganzen Risiken?«
»Es ging um die Entsorgung von Metallen, sagt Hoelscher. Die Atomic Removal hat die PoIF dazu benutzt, auf billigem Weg radioaktiv verstrahlte Rohre und Tanks aus den Demontagen von Atomkraftwerken zu entsorgen. Diese Metalle unterliegen einer ganz anderen gesetzlichen Auflage als die der Erdöl- und Erdgasindustrie, denn sie fallen unter das Atomgesetz. Sie haben dadurch Kosten gespart, und das in großem Stil.«
»Und das kann Hoelscher beweisen?«
»Er behauptet, dass es darum gegangen ist. Und Rotermund glaubt ihm das. Die Frage ist, ob er es wirklich nachweisen kann.«
»Und ob das wirklich der Punkt war, wegen dem Hannes sterben musste«, sagte Idgie. »Aber es ist nicht unwahrscheinlich. Und warum machst du jetzt so ein bedröppeltes Gesicht?«
»Die Duisburger Kollegen haben eben Hoelschers Wohnung in Duisburg durchsucht«, sagte Kamforski düster. »Sie haben dort den Laptop, die externe Festplatte und einige Wanzen gefunden. Laptop und Festplatte sind völlig zerstört. Ob da noch was gerettet werden kann, ist fraglich.«
»Hannes’ Laptop?«
»Genau.«
»Und was heißt das nun?«
»Dass wir zu spät sind. Und dass Achim Reimers alles tun wird, um sich aus der Affäre zu ziehen. Was ihm mit ein paar geschickten Anwälten sicherlich auch gelingen wird.«