KAPITEL 16

Essen, 12. April

Ruth saß still in der Küche und lauschte dem Ticken der Uhr an der Wand. Eigentlich hatte sie eine Menge Dinge zu erledigen: die Kündigung schreiben beispielsweise, und auch den Mietvertrag kündigen. Sich überlegen, wo sie hingehen, was sie überhaupt in Zukunft machen sollte. Vor allem aber musste sie Manni endlich sagen, dass er bald wieder Vater wurde. Das war das Schwierigste überhaupt. Wegen Nora.

Irgendwo klingelte ein Telefon. Sie konnte nicht orten, ob es aus dem Wohnzimmer kam, wo Idgie sich ihr Lager gemacht hatte, oder von oben, wo Manni in einen komatösen Schlaf gefallen war. Vielleicht kam es auch aus Jans Zimmer. Ihres war es auf jeden Fall nicht.

Kurz darauf hörte sie das laute Poltern von Schritten auf der Treppe, und Manni schoss an der offenen Küchentür vorbei.

Sie sprang auf und hastete hinterher.

»Wo willst du denn hin?«, rief sie.

Er drehte sich zu ihr herum, kreidebleich im Gesicht. »Das Krankenhaus«, stammelte er.

»Ich komm mit.« Sie griff nach einer Jacke.

»Nein«, sagte Manni schroff. »Das ist meine Sache.« Er warf ihr einen wilden Blick zu und rannte zum Auto.

* * *

Manni stand vor dem Bett mit den weißen Laken und versuchte, die Situation zu erfassen.

Dort, ebenso weiß wie die gesamte Umgebung, lag sein Kind, die Lippen trocken und blutleer. Selbst die Sommersprossen wirkten merkwürdig farblos in diesem Licht, als hätte sich das Leben bereits von ihnen verabschiedet. Ihr Gesicht wirkte kindlich und uralt zugleich, seltsam nackt unter dem mittlerweile kahlen Schädel. Manni dachte daran, wie sie einmal mit dieser absurden Frisur bei ihm aufgekreuzt war, die Haare ganz kurz, fast stoppelig, und in einem grauenhaft künstlichen Schwarzlila eingefärbt. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie er reagiert hatte. Aber dass er nicht nett gewesen war, das wusste er genau. Es war falsch gewesen. Und so verdammt unwichtig.

Noras Hände lagen auf der Bettdecke, unwirklich still, und die wimpernlosen Augenlider zuckten leise. Beep, beep, beep. Ein leises Zeichen von Leben. Wie lange würde das noch zu hören sein?

Aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Sie liegt im Sterben. Das war die klare, prägnante Aussage des Oberarztes gewesen.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Wie begleitet man sein Kind in den Tod. Wie nur? Wie sollte er das bloß machen, verdammt!

Beep, beep, beep.

Das war doch sein Kind. Sein Kind, das durfte doch nicht vor ihm sterben. Sie sollte leben!

Beep, beep, beep.

Aber sie stirbt. Wie, Manni, wie? Wie kann ich sie gehen lassen? Sie hatte immer solche Angst vor dem Dunkeln, als sie klein war. Wie kann ich sie denn so allein in die Dunkelheit gehen lassen? Paps, sing mir was vor. Bitte Paps, nimm mich in die Arme und sing mir ein Lied.

Und plötzlich wusste er es.

Vorsichtig, ganz vorsichtig schob er die Arme unter ihren Körper und hob sie ein Stückchen weiter an den Rand des Bettes. Er setzte sich neben sie und schwang seine Beine aufs Bett. Die Schuhe, dachte er flüchtig. Du musst die Schuhe ausziehen. Blödsinn. Das ist doch jetzt nicht wichtig.

Behutsam, um nicht vom Bett zu kippen, rollte er sich auf die Seite und zog sie an sich. Ganz dicht zog er sie an sich heran, ganz eng, damit sie ihn spüren konnte und er sie. Er hielt sie im Arm und spürte, wie sich ihre Rippen hoben und senkten. Dann begann er leise zu singen.

»Der Mond ist aufgegangen«, hob er an. Seine Stimme brach. Ich kann das nicht, dachte Manni verzweifelt.

Paps, bitte, lass mich nicht allein, sing mir was vor.

»Der Mond ist aufgegangen«, setzte er mit zitternder Stimme wieder ein. Er schluchzte auf, ein trockenes Schluchzen ohne Tränen. Aber er zwang sich, weiterzusingen. »Die goldnen Sterne prangen am Himmel hell und klar …«

Nicht aufhören. Bloß nicht aufhören … singen.

Und er sang.

»Der Mond ist aufgegangen …«

Irgendwann drang es in sein Bewusstsein ein. Das Geräusch der Maschine hatte sich verändert. Nicht mehr die kurztaktigen Sequenzen, die ihn die ganze Zeit begleitet hatten, sondern nur noch ein einzelner, lang gestreckter Ton. Ein entsetzlicher Ton, noch viel schrecklicher als der gleichmäßige Rhythmus zuvor. Sie atmete nicht mehr. Es war vorbei.

Eine Weile noch blieb er so liegen, die Arme fest um ihren schmalen Körper geschlungen. Schließlich zog er behutsam den Arm unter ihr hervor und stand auf. Er warf noch einen letzten Blick auf die zierliche Gestalt mit dem absurd kahlen Schädel. Auf Nora, sein Kind. Dann drehte er sich um und ging.

Sie saßen in einer Besucherecke der belebten Vorhalle auf diesen unbequemen Hartschalensitzen, die durch Gestänge in festen Abständen aneinandergeschweißt waren. Trotz der unbequemen Sitze war Jan in einen unruhigen Schlaf gefallen, den Kopf an die Wand hinter sich gelehnt.

Idgie entdeckte Manni zuerst. Sie sah, wie er aus der gläsernen Tür des Treppenhauses trat. Er kam direkt auf sie zu mit seltsam mechanisch wirkenden Schritten, wie ferngesteuert, ohne dass sich auch nur ein Funken von Wiedererkennen in ihm regte. Sein Gesicht war verschlossen, der Blick starr und erschreckend emotionslos. Ein menschlicher Roboter, Yul Brynner, Westworld … schoss es Idgie durch den Kopf. Was für eine beschissene Assoziation!

Sie ist tot. Idgie fühlte eine überwältigende Traurigkeit in sich aufsteigen. She’s fresh, she’s so fresh … Warum Nora? Warum verdammt noch mal Nora? Sie ist doch noch so jung!

Nun hatte auch Ruth Manni entdeckt. Sie wollte aufspringen, aber Idgie hielt sie am Arm zurück. »Lass ihn«, sagte sie leise. »Da kannst du nicht helfen, nicht jetzt. Den musst du jetzt erst mal allein lassen. Aber der Kleine hier«, sie wies auf Jan, der mit leicht geöffnetem Mund leise vor sich hin schnorchelte, »der wird uns gleich brauchen.«

* * *

Manni wusste zunächst nicht, wo er sich befand. Er lag auf einer Bank, und es roch nach Bäumen und nach Nässe. Verwundert sah er sich um. Er war im Siepental, so viel konnte er erkennen. Aber warum lag er hier auf dieser Bank?

Mühsam rappelte er sich hoch. Seine Beine waren schwer, und die Füße taten weh, als wäre er lange gelaufen, etwas, was er gewöhnlich nicht tat. Er erinnerte sich vage daran, dass er durch Häuserschluchten gegangen war, endlose Häuserschluchten. An viele Menschen um sich herum, Tumult und Kolonnen von Autos, die alle nicht richtig vorankamen. Berufsverkehr? Und er, er war gelaufen wie in Trance. Da waren seine eigenen Schritte gewesen, etwas, das ihn antrieb, weiter, immer weiter. Er hatte nichts gefühlt, nicht die Nässe des Regens, der über den blanken Schädel in sein Gesicht lief, nicht die Füße, die immer schwerer wurden. Nur weiter, weiter … Dann hatten die Beine ihren Dienst versagt, und er hatte sich hingesetzt. Auf diese Bank.

Aber warum? Er tastete in sich hinein. Da war etwas tief in ihm, dumpf und schmerzend. Etwas, an dem er lieber nicht rühren wollte, tief eingekapselt in seiner Seele, fest verschlossen, abgeschottet, vakuumverpackt. Er wollte nicht daran rühren. Dann sah er das gläserne Portal des Krankenhauses vor sich. Der Mond ist aufgegangen …, klang es grausam schmerzhaft in ihm. Und plötzlich war alles wieder da. Das Zimmer im Krankenhaus und Nora, die in seinen Armen lag und starb. Sein Kind war tot, das war die furchtbare Wahrheit. Unbegreiflich und unfassbar. Sein Kind war tot. Seine Nora. Tot!

Manni schloss die Augen. Eine Flut von Erinnerungen stürmte auf ihn ein. Nora mit ihren Zahnlücken und diesen absurden Rattenschwänzen, die sie eine Zeit lang gehabt hatte. Die riesige Schultüte. Ihre Tränen, als das Kaninchen gestorben war. Sie auf seinen Knien, dicht an ihn geschmiegt, wie sie ihm tuschelnd eine Geschichte erzählte, ein Geheimnis, pst, Paps, nicht weitersagen. Ihre strahlenden Augen, voll von Erwartung, als er die Tür zum Wohnzimmer öffnete und den Blick auf den Weihnachtsbaum freigab, leuchtend und geschmückt. Da war der Schmerz, als Marion ihn verlassen hatte, und die Freude, wenn er Nora am Wochenende zu sich holte. Wie unglaublich stolz war er auf sie gewesen, als sie im Kindertheater aufgetreten war, irgendeine Hauptrolle, ach ja, das Sams, das hatte sie gespielt. Wenn sie fröhlich war, hatte sie vor sich hin gesummt. Er sah sie vor sich, wie sie zusammen an der Ostsee waren, das war noch gar nicht so lange her, zweieinhalb Jahre erst. Lachend, mit windzerzausten Haaren, die Drachenschnur in der Hand. Paps, ich hebe gleich ab, Hiiiiiilfe, Paps, rette mich. Sie hatten so viel gelacht in diesem Urlaub. Dann sah er sie vor sich auf dem Wickeltisch. Sein Baby. Ein kleines Wunder. Winzige Fingerchen. Klitzekleine Zehen. Wie konnte daraus ein Mensch werden? Er war so unglaublich glücklich gewesen, als er diesen Wurm zum ersten Mal in seinen Armen gehalten hatte. Und er hatte sich geschworen, alles dafür zu tun, dass diesem Wesen nie etwas Böses widerfahren würde.

Sie war tot! Ein unmenschlicher Laut quälte sich aus ihm heraus. Nicht sie. Nicht sein Kind. Er schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und weinte.

Nur langsam ebbte das Schluchzen ab. Zurück blieb Leere. Er schnäuzte sich umständlich. Atmete tief durch und schnäuzte sich noch mal.

Tief aus seinem Innern stieg etwas hoch, bahnte sich den Weg durch die wattige Stumpfheit in seiner Seele. Wut. Langsam, aber unaufhaltsam gewann sie an Raum und vertrieb die Leere. Wut! Schwoll in ihm an, nahm Besitz von ihm. Wut. Merkwürdig belebend.

Sein Kind war tot. Gestorben, weil selbst aus radioaktiv verseuchtem Schlamm, aus jedem letzten Stäubchen noch so verseuchter Erde noch ein letztes Quantum an Profit herausgeschunden wurde. Nora tot, weil dieses verkommene Gesocks von Politikern so einen Dreck zuließ. Weil es ums Geld ging, immer nur ums beschissene Geld. Erdgas, Fracking, Radioaktivität, Fukushima, Atomstrom und der ganze verdammte Müll, dem man ausgesetzt war, ohne auch nur eine Chance zu haben, sich dagegen zu wehren. Die Stadt verseucht und niemand, der dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Sein Kind war tot, und die Verantwortlichen lebten und machten unbehelligt weiter. Immer weiter und weiter.

Wut. Unbändige Wut! Das war verdammt noch mal alles andere als in Ordnung. Das war so was von beschissen nicht in Ordnung, dass er reinhauen wollte. Schlagen, zerstören, prügeln, kaputt machen. Wuuuuuut …

Manni sprang auf, reckte seine Faust in die Höhe und brüllte: »Alles im grünen Bereich? Wirklich? Das werden wir ja sehen, ob wirklich alles im grünen Bereich ist, ihr Arschlöcher!«

Er wusste jetzt sehr genau, was er zu tun hatte.

* * *

Es war viel einfacher, als er gedacht hatte. So einfach, dass er beinahe gelacht hätte. Aber nur beinahe. Denn nach Lachen war ihm ganz und gar nicht zumute. Er war erfüllt von einer eiskalten Ruhe, die ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit die nächsten Schritte ausführen ließ.

Die Lage auf den Straßen hatte sich entspannt, seit die Kunde von der »Reinigung« der Ruhrwiesen die Runde gemacht hatte, und Manni kam schnell voran. Das Bürogebäude, in dem er nun schon so lange arbeitete, lag in nächtlichem Tiefschlaf. In aller Seelenruhe fuhr Manni seinen PC hoch und prüfte ein paar Dinge. Die Adresse, die er suchte, fand er schnell.

Der Betriebshof an der Twentmannstraße in Altenessen lag ebenfalls in tiefem Schlaf. Manni öffnete das Tor mit dem elektronischen Pieper und machte sich auf die Suche.

Das Fahrzeug stand nicht in der großen Halle, in der die übrigen Kolosse der Stadtwerke die Nacht verbrachten, sondern separiert in einer kleinen Leichtbauhalle, die normalerweise der Lagerung von Streusalz vorbehalten war. An der Tür prangte ein Betreten verboten-Schild sowie das neue Warnzeichen in Rot, das mit einem umfallenden Männchen und wellenförmigen Linien vor atomarer Strahlung warnen sollte.

Manni kräuselte die Lippen zu einem spöttischen Lächeln, als er das Gefährt dort stehen sah. Offensichtlich war noch nicht klar, wohin mit der unangenehmen Fracht, die man in Steele aufgesaugt hatte, oben am Holbecks Hof.

Gemächlich holte Manni den Fahrzeugschlüssel aus dem kleinen Verwaltungsgebäude. Er hatte damit gerechnet, irgendeinen Schreibtisch aufknacken zu müssen, aber nichts dergleichen. Der Schlüssel hing brav an der Wand neben den anderen, direkt unter dem Einsatzplan. Der war ja nicht mal weggeschlossen, der Schlüssel. Manni schüttelte den Kopf. Was für eine Schlamperei!

Er stieg in einen der orangeroten Anzüge, die im Mannschaftsraum hingen, und ging zum Fahrzeug zurück. Flüchtig überlegte er, ob es wohl mittlerweile von außen gereinigt worden war, schüttelte den Gedanken jedoch augenblicklich wieder ab. Egal. Alles egal. Sein Kind war tot. Nur eines, das musste er noch erledigen.

Er schob sich auf den Bock und drehte den Zündschlüssel. Dann rumpelte er los, quer durch die Essener City hindurch die Alfredstraße und den Werdener Berg hinunter. Er folgte der Laupendahler Landstraße durch die Wälder von Werden, bis er die ersten Häuser von Kettwig erreichte. Schnell waren diese Karren nicht. Aber auch das interessierte ihn nicht. Er hatte alle Zeit der Welt.

Stadtauswärts tauchte er wieder in Wälder, rumpelte mit dem Wagen aus dem Ruhrtal die steilen Kurven der Landstraße nach Hösel hinauf und erreichte die Hochebene, die sich in Richtung Düsseldorf erstreckte. Er bog in einen schmalen Weg, der ihn zu einer Stichstraße gen Süden führte. Hier, in den Ausläufern von Hösel, lagen ein paar wirklich noble Villen. Die Stadtgrenze Essen hatte er da bereits deutlich hinter sich gelassen und damit natürlich auch sein Hoheitsgebiet. Aber auch das tangierte ihn nicht. Das, was er vorhatte, würde ihm ohnehin das Genick brechen.

Die Villa lag in den Ausläufern des Breitscheider Forsts. Alleinstellungsmerkmal, dachte Manni verächtlich. Kein Nachbar weit und breit. Er warf einen Blick auf die Hausnummer über der Sprechanlage und nickte. Hier war er richtig. Die Höhle des Löwen. Der Wohnsitz des Dr. Reiff.

Die Flügel des hohen schmiedeeisernen Tores waren einladend weit geöffnet, und Manni rollte die Einfahrt hinauf. Der Kies unter den Reifen des schweren Wagens knirschte laut. Ein paar teure Karossen parkten am Rande der Auffahrt. Manni schrappte dicht an ihnen vorbei. Ein hässlich kreischendes Geräusch von Metall auf Metall, gefolgt vom Aufschrei einer Alarmanlage. Gut so.

Manni verließ jetzt die Auffahrt und hielt quer über den englischen Rasen auf einen erleuchteten Wintergarten von bestimmt sechs Metern Tiefe zu, der die gesamte Flanke der Villa einnahm und sich spitzwinklig bis zum Dach des Hauses emporschwang. Die Blumenrabatten, die vor ihm im Scheinwerferlicht auftauchten, überrollte er einfach. Aus der Haustür schoss ein Mann in dunklem Anzug heraus und eilte auf die Autos am Rande der Auffahrt zu. Aufgeschreckt durch die Alarmanlage?

Der Mann hielt inne und starrte mit offenem Mund auf das schwere Fahrzeug, mit dem Manni über den englischen Rasen pflügte. Manni grinste, winkte hinüber und hielt weiter auf den hell erleuchteten Glaspalast an der Flanke der Villa zu. Für einen kurzen Moment hielt er inne und studierte von der Höhe seines Sitzes das Bild vor sich.

Der Raum vor ihm wirkte gigantisch. Nur eine Front aus Glasfenstern in schmalen Rahmen, die teilweise zur Seite geschoben waren, trennte den Wintergarten vom Wohnraum im Haus, sodass sich optisch eine riesige Wohnfläche ergab, die ungefähr so groß war wie Mannis gesamtes Haus. Ecksofas und glänzendes Parkett im Wohnraum, bunte Gemälde über den Sofas. Im Wintergarten mannsgroße Zitrusbäume und hohe Palmen unterschiedlicher Gattung, dazwischen mehrere dick gepolsterte Sitzgruppen aus Rattan, raffiniert ausgeleuchtet durch geschickt platzierte Lichtquellen.

Eine stattliche Runde war dort versammelt. Dunkle Anzughosen, viele Nadelstreifen. Aber man war bereits zum legeren Teil des Abends übergegangen. Die Jacketts waren gefallen, die Krawatten über den hellen Hemdbrüsten gelockert. Manni erkannte Dr. Reiff und dann Landrat Haberle. Und weiter hinten im Raum, das war doch der Taeschel, oder nicht? Eine illustre Herrenrunde, die Cognacschwenker in der Hand. Hier wurde eindeutig gefeiert. Hier war er richtig.

Jetzt kam Bewegung in die honorige Gesellschaft. Jemand deutete aufgeregt in seine Richtung. Er war entdeckt. Aber auch das war ihm egal. Zeit, zu handeln.

Da standen sie, die hohen Herren, und starrten mit der Faszination hypnotisierter Karnickel auf den schweren Wagen der Essener Stadtwerke, erst ungläubig, dann zunehmend verstört. Denn Manni hielt nun genau auf den gigantischen Wintergarten zu. Mit einem Krachen, das wie ein Special Effect in einem Actionfilm klang, durchbrach er die gläserne Front. Eine Alarmanlage schrillte los, lauter als die der gerammten Karossen in der Einfahrt.

Für einen flüchtigen Moment war Manni überrascht, dass das Glashaus nicht völlig in sich zusammenstürzte. Die Stahlkonstruktion trug weiterhin das gläserne Dach, und auch die Seitenfronten hielten stand. Sicherheitsglas, zuckte es durch seinen Kopf. Und während er den Koloss unerbittlich weiter in den Raum trieb und die Palmen unter dem Gewicht des Wagens wegknickten wie Streichhölzer, geriet die Runde vor ihm in Bewegung. Fluchtinstinkt trieb sie aus dem Raum in die Halle hinaus. Nur der Hausherr rannte brüllend auf Manni in seinem dröhnenden Gefährt zu und fuchtelte abwehrend mit den Armen. Es sah lächerlich aus.

Ohne ihn weiter zu beachten, setzte Manni den schweren Koloss zurück, wendete das Fahrzeug und rangierte rückwärts in die Trümmer hinein, einen Meter, zwei Meter, drei, vier, fünf, sechs … Ein erneutes Splittern hinter ihm signalisierte, dass er die gläserne Front zum Wohnsalon erreicht hatte. Das reichte.

In aller Seelenruhe verriegelte Manni das Führerhaus von innen, betätigte die Hydraulik des riesigen Tanks und fuhr ihn in die Fünfundvierzig-Grad-Position, dem immer noch intakten Dach des Wintergartens entgegen, bis auch dieses Glas splitternd zerbarst. Dann öffnete er das hydraulische Heckventil des Tanks und begann mit dem Entladen seiner Fracht, mitten hinauf auf das glänzende Parkett des Salons.

Das würde dauern. Manni setzte den Gehörschutz auf, rutschte auf dem Sitz in eine halbwegs bequeme Position, lehnte den Kopf an die lederne Lehne und schloss die Augen. Er ignorierte das wütende Klopfen gegen seine Tür. Hier kam niemand rein. Nicht, bevor er die Türen wieder entriegelte.

Und während der Koloss unter ihm vibrierte und jemand von außen gegen die Tür der Fahrerkabine schlug, breitete sich Musik in ihm aus. When I close my eyes, I can see your face … Nora … like a time machine in space … Ruth … schön war das gewesen … back to you … Nora … Clouds in the sky … seine Nora war tot …

Irgendwann drängten sich nahende Martinshörner in die leisen Klänge in seinem Kopf ein.

Manni öffnete die Augen. Sah Blaulicht in der Ferne. Wischte mit beiden Handrücken die Tränen von den Wangen und zog die Nase hoch. Die Martinshörner waren jetzt deutlich zu hören.

Clouds in the …

Das Blaulicht kam näher. Ein schneller Blick auf das Armaturenbrett. Entladevorgang abgeschlossen, blinkte das entsprechende Symbol. Manni stellte den Motor ab. Ruhe. Kein Dröhnen mehr. Nur noch die Martinshörner. Sie würden gleich da sein. Aber er war noch nicht fertig. Er musste noch was zu Ende bringen.

Manni öffnete die Tür und kletterte vom Bock hinunter. Infernalischer Gestank schlug ihm entgegen und entlockte ihm ein böses Grinsen. Er ging an der Flanke des Kolosses entlang in die Tiefe des Raumes hinein. Das Knirschen des Glases unter seinen Füßen spürte er mehr, als dass er es hörte. Etwas Hartes knallte ihm vors Schienenbein und bremste ihn aus, und beinah wäre er lang hingeschlagen. Der Stamm einer Palme, erkannte er, während er taumelte und sich wieder fing.

Er erreichte das Heck des Wagens. Bremsen quietschten. Martinshörner heulten. Dann plötzlich Stille. Endlich.

Manni sah sich um. Eine breiige Schicht breitete sich vor ihm aus, beleuchtet vom kristallinen Glitzern eines pompösen Deckengehänges. Es stank bestialisch. Blaues Licht zuckte durch den Raum. Und während der Hausherr mit bleichem Gesicht aus der Deckung eines Sofas auftauchte und die ersten Gäste ihre ebenso bleichen Gesichter vorsichtig durch die doppelflügelige Tür aus der Halle in den Salon schoben, überflutete Manni ein unglaubliches Gefühl der Befriedigung.

»Guten Abend, die Herren«, sagte er in die Stille hinein und machte die Andeutung einer Verbeugung. »Ich hab hier nur etwas zurückgebracht, das Ihnen gehört. Nicht gefährlich, da sind Sie sich ja alle einig. Nur ein kleines bisschen Restrisiko, mehr nicht. Weiterhin noch einen schönen Abend.«

Dann spürte er, wie ihm die Hände auf den Rücken gezerrt wurden.