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»Houston, Beagle hier«, meldete Commander Colin Curtis an die Bodenkontrolle. »Crew ist bereit zur Triebwerkszündung.«
»Verstanden, Beagle, hier Houston. Sie haben Go für die Initiierung des Abstiegsorbits. Beginnen Sie die letzte Checkliste.«
Colins Blick traf sich mit dem seines Copiloten. Schon sehr bald würden sie gemeinsam auf der Mondoberfläche spazieren. Freddy ›Frost‹ Ferguson nickte knapp und wandte sich wieder den grün leuchtenden Anzeigen vor ihm zu. Die Bildschirme – um nichts anderes hatte sich Freddy zu kümmern. Colin blickte aus dem Fenster und flog die Landefähre, während Freddy ihn mit Informationen versorgte. Wenn beide den Job richtig machten, würde Freddy die Aussicht auf den Mond erst genießen können, wenn sie auf ihm gelandet waren. Colin wollte nicht mit ihm tauschen.
Freddy rief mit einem Tastendruck die Checkliste auf seinen Monitor. »Vorventile MMH und N2 O4 offen.«
Colin legte die Schalter um. »Beide offen.« Er spürte eine leichte Vibration, als einige Meter unter ihm zwei Ventile den Weg für den Treibstoff freigaben und der Druck sich in den Leitungen aufbaute.
»Radaraltimeter an.«
Colin drückte den Knopf für den Höhenmesser. »Ist an.«
»Treibstoffvorrat mindestens 85 Prozent.«
Colin las die Anzeige ab. »Ist auf 92  Prozent.«
»Computermodul 92 B laden.«
Colin tippte die Lettern auf der winzigen Tastatur des Bordcomputers ein. Ein Sternchen im Display bestätigte, dass das Landeprogramm im Speicher und betriebsbereit war. »92 B geladen.«
»Checkliste beendet. Bereit für Triebwerkszündung, Commander.« Freddy wechselte die Anzeige auf seinem Display.
»Noch zwei Minuten und dreißig Sekunden bis DOI «, sagte Colin nach einem Blick auf seine eigenen Anzeigen. »Und hör endlich auf, mich Commander zu nennen!«
Er zögerte einen Moment und übergab dann die Steuerung der Landefähre an den Bordcomputer. Damit sie genau am berechneten Punkt der Mondoberfläche landeten, musste die Zündung auf den Bruchteil einer Sekunde exakt erfolgen. Kein Mensch war dazu in der Lage. Den Steuerknüppel vor sich würde er nur berühren, wenn irgendetwas schief lief.
Colin atmete tief durch und blickte aus dem Fenster. Achtzig Kilometer unter ihm befand sich die mit Kratern übersäte graue Mondoberfläche. Links erkannte er die zerklüftete Gebirgskette der Apenninen. Sie näherten sich auf ihrem Orbit schnell dem Meer der Ruhe, wo Neil Armstrong und Buzz Aldrin vor mehr als sechzig Jahren gelandet waren. Colins und Freddys Landestelle im Fra-Mauro-Hochland befand sich noch hinter dem Horizont. Wie würde es wohl sein, dort unten auf der grauen, staubigen Oberfläche zu stehen und in den Himmel zu blicken?
»Noch zwei Minuten bis zur Abstiegszündung«, verkündete Freddy.
Endlich war es so weit. Das anstrengende Studium auf der Testpilotenschule, das nervenaufreibende Astronautenauswahlverfahren, die lange Warterei auf den ersten Flug und das Zitterspiel, wer zu den wenigen im Korps gehören durfte, die auf dem Mond landeten. Jetzt würde sich die jahrelange anstrengende und oft frustrierende Arbeit auszahlen. Wenn er in zwei Wochen wieder zur Erde zurückkehrte, war er ein Mondspaziergänger, ein Held, ein lebender Mythos. Und Astronaut ›Cool‹ Curtis würde mehr Frauen abschleppen können als jemals zuvor.
»Alle Systeme grün«, meldete Freddy. »Noch zehn, neun, acht, sieben, sechs …«
Colins Hand näherte sich dem Abbruchschalter.
»Fünf, vier, drei …«
Colin drückte den Schalter nieder. Schlagartig schlossen sich die Vorventile des Fördersystems. Ein Alarm jaulte auf und rote Anzeigen blinkten auf der Konsole. Er deaktivierte das Signal und begann die Abschaltprozedur.
»Generalprobe erfolgreich«, meldete er Houston. Die Werte auf dem Display sahen alle gut aus. Colin wusste, dass das Raumschiff sie nicht im Stich lassen würde, wenn sie wirklich auf dem Mond landeten.
Nach und nach schalteten sie die Systeme der Beagle ab. Am Ende hatten sie fast fünf Stunden für die Generalprobe gebraucht, bevor sie die Luke zur Orbitalstation wieder öffnen konnten.
»Morgen geht’s richtig los«, sagte Freddy, der als Erster durch den engen Durchgang schwebte.
»Darauf kannst du dich verlassen, Alter.«
»Hauptsache, wir bauen nicht so eine Scheiße wie Roy und Dick.«
Colin verzog den Mund. Musste Freddy das jetzt ansprechen? Roy Hudson und Dick Jennings waren die vorherige Mission zur Oberfläche geflogen und hatten die Fähre mit einem Bein in einem verdammten Krater aufgesetzt. Das Gefährt hatte derart schief gestanden, dass Houston Probleme beim Rückstart von der Mondoberfläche befürchtet hatte.
Am Ende war zwar doch noch alles gut gegangen, aber ihre eigene Mission war wegen dieser Dummheit um fast zwei Monate verschoben worden, denn eine Untersuchungskommission sollte zunächst feststellen, wie so etwas trotz aller Vorsichtsmaßnahmen überhaupt passieren konnte. Was Colin anging, war Roy einfach nur ein völlig unfähiger Pilot. Ihm selbst würde so etwas nicht passieren. Er hatte bei der Navy seine Jets auf der Landefläche der Flugzeugträger stets mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks aufgesetzt. Und er wusste, dass er sich auf Freddy verlassen konnte.
Mit einem schnellen Handgriff schaltete Colin die Beleuchtung der Mondlandefähre aus und folgte seinem Kameraden durch die Luke in das Knotenmodul der lunaren Gatewaystation, die mit ihren zylinderförmigen, silbernen Komponenten einer Miniaturausgabe der Internationalen Raumstation ISS ähnelte.
Colin schwebte durch das Knotenmodul, an das neben der Mondlandefähre und der Orionkapsel für den Rückflug zur Erde auch ein kleines Teleskopmodul angedockt war, mit dem Wissenschaftsastronautin Judy Hoffman nach Kometen und Ähnlichem suchte. Allerdings war das Modul verlassen. Die hübsche Blondine war wohl mit Bordingenieur Terence Spencer im Habitatmodul.
Colin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Essenszeit. Er stieß sich von der Wand ab und schwebte kopfüber in das Wohnmodul, das kaum größer als ein Campingbus war. Obwohl sie zu viert auf der Station arbeiteten, gab es hier nur zwei Schlafkabinen, die jeweils gerade mal die Größe eines kleinen Schranks hatten. Freddy und Terence hatten sich die Betten unter den Nagel gerissen. Aber das kümmerte Colin nicht wirklich, denn er schlief sowieso am liebsten in seiner Liege in der angedockten Orionkapsel, die etwas kühler als das Habitat war. Judy Hoffman hatte ihren Schlafsack einfach an der Wand ihres Teleskopmoduls festgemacht.
Terence saß am Tisch in dem kleinen Ess- und Küchenbereich am hinteren Ende des Habitats und war mit seinem Essen beschäftigt. Damit er nicht davonschwebte, hatte er sich mit einem Gurt am Stuhl festgemacht und das Essen auf dem Tablett mit Klettband an seinen Oberschenkeln befestigt. »Alles klar für morgen?«, fragte er und wischte sich ein Bröckchen Erbsenpüree aus dem Mundwinkel.
»Alles klar für morgen«, bestätigte Freddy, der sich ein abgepacktes Tablett aus dem Vorratsschrank holte. Colins Kamerad riss die Klarsichtfolie auf und zog sich an einem Handgriff zur Küche, wo Judy in dem kleinen Mikrowellenofen gerade ihr Essen zubereitete.
Colin hielt sich an der Modulwand fest und schwang elegant herum, bis er über einem der Hocker schwebte. Mit der Linken zog er sich nach unten. Auf dem Nebenplatz lag Judys gelbes Besteck, mit Magneten am Tisch gehalten. Colin griff nach dem Trinkbeutel, der daneben in einem Fach ruhte.
»Hey, Cool, das ist meiner«, protestierte Judy.
»Kannst dir einen aus meinem Schrank holen«, sagte Colin und grinste.
Judy verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Sie stieß sich von der Küchenzeile ab, schwebte zum Esstisch und ließ sich auf ihrem Hocker nieder. Sie hatten sich schon im Training andauernd gegenseitig geneckt und im Gegensatz zu einigen anderen Astronautinnen konnte sie über seine Frotzeleien lachen und hatte Phantasie genug, sich bei passender Gelegenheit zu revanchieren.
»Hey, Cool«, rief Freddy. »Hör mit dem Quatsch auf und sag mir lieber, was du essen willst.«
»Da müsste noch was mit Hühnchen sein, wenn du so freundlich bist.«
Freddy grunzte und zog ein weiteres Tablett aus dem Schrank.
Colin wandte sich wieder der blonden Wissenschaftlerin zu. »Hast du denn heute Erfolg gehabt?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja, ich habe tatsächlich etwas entdeckt. Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob es ein Asteroid oder ein Komet ist. Ich tippe auf einen Kometen, denn es ist sehr schnell. Auf den Aufnahmen von gestern war es noch nicht da.«
Colin nickte lächelnd. Im Grunde genommen interessierte ihn der ganze Astronomiekram nicht sonderlich. »Scheint so, als hättest du dein Ziel erreicht.«
Judy lächelte zurück. »Vielleicht. Es wäre der erste Komet, der aus einem Mondorbit entdeckt wurde.«
»Und?«, fragte Colin schelmisch. »Nach wem wirst du ihn benennen?«
Judy lachte leise. »Ich werde ihn nicht benennen. Wie alle anderen aus dem Team kann ich Vorschläge einreichen und die IAU wird einen aus der Vielzahl auswählen.«
»Die IAU ?«, fragte Colin.
»Die Internationale Astronomische Union«, erklärte Judy. »Aber dafür müssen wir das Objekt erst einmal katalogisieren und verifizieren.«
»Dein Essen, Cool«, sagte Freddy.
Colin blickte auf und nahm das Tablett, das ihm Freddy über den Tisch reichte. Er befestigte es mit Klettband an seinem Oberschenkel. Freddy schwebte zu seinem Sitz neben dem Ingenieur, der mittlerweile mit irgendwelchen Checklisten beschäftigt war. Obwohl Colin sich im Training gut mit ihm verstanden hatte, war Terence in den Tagen seit dem Start von der Erde immer schweigsamer geworden. Na ja, nicht für jeden gingen im Weltraum die Erwartungen in Erfüllung, aber das konnte Colin egal sein. Er wandte sich wieder der bezaubernden Blondine zu. »Bleibt es noch bei unserem Date heute?«
Judy blickte ihn für einen Moment irritiert an, dann schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir leid, Cool. Ich muss das neuentdeckte Objekt noch einmal beobachten. Vielleicht gelingt es mir, seine Umlaufbahn zu vermessen und etwas über die Zusammensetzung herauszufinden.«
»Das ist aber schade«, sagte Colin überschwänglich. »Mein letzter Abend mit dir, und du versetzt mich. Das werde ich dir nicht verzeihen.«
Sie grinste ihn an. »In einer Woche kommst du vom Mond zurück. Dann können wir den Filmabend sicher nachholen, bevor wir zur Erde zurückreisen.«
Er grinste zurück und tat so, als würde es ihn nicht sonderlich kümmern. Tatsächlich war er maßlos enttäuscht. Er hatte es sich so schön zurechtgelegt. Er hatte eine lustige Beziehungskomödie abspielen und aus seinem Geheimversteck einen kleinen Beutel mit Rotwein hervorzaubern wollen. Nach allen Regeln der Kunst hätte er sie umgarnt, bezirzt, zum Lachen gebracht und zuletzt seine Geheimwaffe ausgespielt: den alten Erotikthriller aus den Neunzigern. Sie wusste, dass er verheiratet war. Sie wusste aber auch, dass seine Ehe nur noch auf dem Papier existierte. Er war sich absolut sicher, dass es bei ihr geklappt hätte, denn Judy hatte auf seine Sprüche und Scherze genau die richtigen Signale gesendet. Er hätte die Luke des Teleskopmoduls zugezogen und es mit der blonden Astronomin in der Schwerelosigkeit getrieben, was er schon immer mal hatte ausprobieren wollen. Und jetzt kam dieser dämliche Komet dazwischen.
»Den Gesteinsbrocken kannst du doch morgen noch untersuchen, wenn Freddy und ich zur Mondoberfläche aufgebrochen sind«, sagte er wegwerfend.
Judy lachte. »Damit jemand mir meine Entdeckung wegnimmt? Auf der Erde haben sie die Bilder auch empfangen, und wenn irgendwer mit einem anderen Teleskop die Umlaufbahn zuerst bestimmt, dann werde ich mich für den Rest meines Lebens ärgern.«
»Wie lange wird die Untersuchung dauern?«, fragte Colin.
Judy zuckte mit den Schultern. »Einige Stunden vielleicht.«
Das war zu lange, um danach noch sein Programm abzuspulen. Er seufzte. »Na, vielleicht erlaubst du mir, dir dabei etwas Gesellschaft zu leisten.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Solange du mich nicht störst.«
Colin biss sich auf die Lippen.
Toll. Von einem Gesteinsbrocken ausgebootet.