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»Klopf,
klopf«, sagte Colin und schwebte in das Teleskopmodul.
Judy, die gerade noch ihren Bildschirm angestarrt hatte, blickte auf und lächelte. »Ich hatte gedacht, es wäre dir zu langweilig, mir bei der Arbeit zuzuschauen.«
Colin grinste, bremste sich an einem Handgriff ab, so dass er neben ihrem Sitz zum Stillstand kam, und zauberte aus seiner Hosentasche eine kleine weiße Plastikrose hervor. »Es ist mir nie zu langweilig, dir zuzuschauen«, sagte er und reichte seiner Kameradin die künstliche Blume.
Sie nahm das Geschenk, roch daran und verdrehte scheinbar verzückt die Augen. »Alter Charmeur. Wo hast du die denn her?«
Er hatte immer
ein paar Kunstblumen in seinem Gepäck. Egal, wohin er reiste. Selbst zum Mond. Man konnte nie
wissen, wann man eine gute Gelegenheit erhalten würde.
»An einem Feld auf dem Weg zu dir angehalten und gepflückt«, sagte er. »Ich habe schon immer gedacht, dass es in deiner Behausung an wärmenden Elementen fehlt.«
Sie grinste und wandte sich dann wieder dem Bildschirm zu. Sie musste ahnen, dass er gerne mit ihr ins Bett gehen würde. Es war Teil seiner Strategie, dass er darüber keinen Zweifel aufkommen ließ, auch wenn er es nicht direkt aussprach. Die Reaktionen beim weiblichen Geschlecht, zumindest bei einem gewissen Frauentyp, waren fast immer dieselben. Mit seiner Mischung aus Coolness und Schmeichelei wurde aus anfänglicher Ablehnung und vorgetäuschter Abscheu schnell ein Spiel, das bei manchen Frauen schließlich Neugier aufkommen ließ. Am Ende war es oft nur eine Frage der Zeit, bis er schließlich mit seiner Jagdbeute in der Kiste landete. Er wurde es nie müde, dieses Spiel zu spielen, auch wenn er seine Eroberungen schon seit dem achtzehnten Geburtstag nicht mehr zählte. Und wenn er es schaffte, Judy vom Bildschirm
wegzulocken, dann würde sich diese Zahl nochmals erhöhen.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte Colin. »Hast du schon irgendwelche neuen Erkenntnisse über deinen Asteroiden? Oder ist es ein Komet?«
Sie zeigte auf den Bildschirm, der aber nur Kurven und Zahlen abbildete. »Für einen Asteroiden ist es definitiv zu schnell.«
»Also ein Komet«, schloss Colin.
Judy zögerte. »Dann wäre es der außergewöhnlichste Komet, der jemals entdeckt wurde.«
Colin kratzte sich am Kopf. »Inwiefern?«
»Es ist sehr schnell. Es ist sogar so schnell, dass ich seine genaue Entfernung und Position nicht gut abschätzen kann. Auf jeden Fall bewegt es sich auf einem hyperbolischen Kurs.«
»Was bedeutet das?«
»Dass es von außerhalb des Sonnensystems kommt.«
Colin nickte anerkennend. »Das hatten wir wirklich noch nicht sehr oft.«
»Man vermutet, dass es viele Gesteinsbrocken gibt, die durch den interstellaren Raum reisen«, erklärte Judy. »Die meisten fliegen aber in einer zu großen Entfernung von der Sonne an uns vorbei, um entdeckt zu werden.«
Colin zeigte auf den Bildschirm. »Das sind ja nur Kurven und Diagramme. Kannst du das Ding denn nicht mal zeigen?«
»Klar.« Jenny drückte einen Knopf auf ihrer Konsole und die Diagramme verschwanden. Stattdessen sah Colin einen schwarzen, sternengefüllten Bildschirm. Er beugte sich nach vorne, bis seine Wange dicht neben der ihren war und er ihre Wärme spürte.
»Welcher von denen ist es?«
Judy bewegte den Cursor zu einem kleinen Lichtpunkt ein Stück über der Mitte des Monitors und versah den Punkt mit einem Fadenkreuz.
»Ist von den anderen Sternen kaum zu unterscheiden«, sagte Colin.
»Nur, dass er heute Nachmittag nicht dort, sondern an einer ganz anderen Position war.«
»Faszinierend.« Colin meinte es auch so. Es war eigentlich ein ganz einfaches Verfahren, um unbekannte Körper ihres
Sonnensystems aufzuspüren. Man machte zwei Fotos einer Region des Himmels und betrachtete sie abwechselnd. Und schon hatte man einen neuen Asteroiden oder Kometen gefunden.
»Nicht wahr?« Judy klang stolz.
»Und wie weit ist er weg?«
Judy schwieg einen Moment, als müsse sie erst nach Worten suchen. »Ich kann es nicht sagen.«
»Ich dachte immer, ihr Astronomen könntet nach zwei Peilungen einen Orbit berechnen.«
Judy nickte. »Das ist richtig. Jeder Orbit hat eine charakteristische Geschwindigkeit, und aus der beobachteten Winkelentfernung kann man anhand der Newtonschen Gesetze die Umlaufbahn definieren. Er ist aber zu schnell, als dass er sich in einem Orbit um die Sonne befinden könnte. Aus den drei Peilungen, die ich bisher gemacht habe, kann ich auch noch keine Krümmung der Bahn durch die Schwerkraft der Sonne feststellen. Für uns sieht es so aus, als bewege er sich auf einer linearen Bahn.«
Das wurde Colin jetzt zu komplex. »Was wiederum bedeutet?«
»Dass er entweder nah und schnell oder verdammt weit draußen im Sonnensystem und noch schneller ist«, sagte Judy. »Die Helligkeit hat sich ein wenig erhöht, aber das reicht noch nicht für eine genaue Entfernungsbestimmung.«
»Kann ein Observatorium auf der Erde nicht helfen?«
Judy nickte. »Ja, jetzt zahlt es sich aus, dass wir ein Teleskop auf dem Mond haben. Durch eine zeitgleiche Beobachtung mit einem Teleskop auf der Erde werden wir die genaue Position und Entfernung mit Hilfe des Parallaxenverfahrens feststellen können.«
»Parallaxenverfahren?«, wiederholte Colin. Er hatte den Begriff zwar irgendwann in einem Astronomiekurs der Grundausbildung gehört, aber die Bedeutung schon lange vergessen.
Judy grinste und streckte den Zeigefinger nach oben. »Was befindet sich, von dir aus gesehen, hinter der Spitze meines Zeigefingers?«
»Dein kuscheliger, einsamer Schlafsack«, sagte Colin mit süffisantem Grinsen.
»Bleib ernst jetzt!«
Colin zuckte mit den Schultern. »Also gut.«
»Jetzt schwebe einen Meter zur Seite.«
Mit leichtem Druck stieß sich Colin von Judys Stuhl ab und bremste an der anderen Wand des Moduls wieder ab.
»Und was siehst du jetzt hinter dem Zeigefinger?«, fragte sie.
»Die Notschleuse«, sagte er und nickte. »Ich denke, ich verstehe.«
»Weil die Erde an einer anderen Position ist, befindet sich das entdeckte Objekt scheinbar vor einem anderen Hintergrund des Sternenhimmels. Aus der Differenz kann man den Standort ermitteln. Das Keck-Teleskop ist bereits mit der Aufgabe betraut worden.«
»Dann kannst du ja jetzt Feierabend machen.« Colin schwebte wieder zu Judy und strich ihr sanft über die Schulter.
»Da muss ich dich leider enttäuschen«, antwortete sie kokett.
»Och, nicht?«
»Ich möchte noch eine spektroskopische Analyse machen.«
Das mit dem kuschligen Schlafsack würde wohl heute nichts mehr werden. »Wird es lange dauern?«
»Wird sich zeigen«, sagte sie knapp und wandte sich wieder ihrer Konsole zu.
Colin blickte auf seine Armbanduhr. In sieben Stunden klingelte der Wecker und er musste sich bereit machen, in die Fähre zu steigen und mit Freddy auf dem Mond zu landen. So sehr ihn die Aussicht auf ein Schäferstündchen in der Schwerelosigkeit reizte, so sinnvoll war es doch, vor dem kritischen Manöver ein paar Stunden zu schlafen. Er wollte wirklich nicht, dass ihm so ein Scheiß wie Roy passierte, nur weil er übermüdet war.
»Hey, das ist aber seltsam«, sagte Judy plötzlich.
Colin blickte über ihre Schulter auf den Monitor. Die Sterne waren wieder den Kurven und Zahlen gewichen. »Was ist denn?«
»Na ja. Normalerweise kann man vom Spektrum auf die Zusammensetzung schließen, denn immerhin handelt es sich um reflektiertes Sonnenlicht.«
»Ja, und?«
»Die Diagramme sehen nicht nach reflektiertem Sonnenlicht aus. Einige Peaks fehlen völlig und dafür sind Strahlungsanteile vorhanden, die im Sonnenlicht kaum vorkommen.« Judy schüttelte
den Kopf. Ihre Wangen hatten sich gerötet.
»Und das heißt?«
»Dass es selber Energie abstrahlt. Augenblick.« Sie drückte mehrere Schalter nieder.
»Was machst du?«
»Ich schalte unser kleines Röntgenteleskop hinzu. Vielleicht sendet es ja auch im hochenergetischen Spektrum.«
Ein weiterer Monitor erhellte sich. Colin hatte gedacht, dass er gleich wieder ein Bild mit Sternen und Lichtpunkten sehen würde, aber er wurde enttäuscht. Neue Kurven und Diagramme entstanden.
»Tatsächlich«, flüsterte Judy mit geweiteten Augen.
»Es sendet Röntgenstrahlen?«, fragte Colin irritiert. Ein Komet konnte doch keine Röntgenstrahlen aussenden.
»Ja«, sagte Judy heiser. »Es sieht jedenfalls ganz so aus.«
»Aber was kann es dann sein?«
Die Astronomin schüttelte langsam den Kopf. »Wäre es nicht so schnell unterwegs, würde ich schätzen, dass es ein zerborstener sowjetischer Spionagesatellit aus den Siebzigern ist. Damals hatte man einige davon mit Kernreaktoren ausgerüstet. Die würden auch so strahlen, wie wir es in den Diagrammen sehen.«
»Vielleicht ist es ja einer.«
Judy schüttelte wieder den Kopf, diesmal sehr entschieden. »Niemals mit dieser Geschwindigkeit auf einer hyperbolischen Bahn. Das Objekt kommt immerhin von außerhalb unseres Sonnensystems.«
»Vielleicht ist ja ein …«
Judy hob die linke Hand, während sie mit der rechten ihren Trackball bediente und feine Linien in ein Diagramm malte. »Ist nicht böse gemeint, aber am besten gehst du jetzt schlafen. Ich möchte eine genaue Analyse machen und muss mich dafür konzentrieren.«
Colin seufzte. Er klopfte ihr sanft auf die Schulter und betrachtete noch einmal wehmütig ihren Schlafsack, bevor er sich umwandte. Vielleicht hatte sie wirklich etwas Bedeutsames entdeckt. Er wünschte es ihr jedenfalls, denn sie hatte lange für diese Mission gearbeitet. Für Flirts und Schlafsäcke würde auch nach dem Mond noch Zeit sein.