10
Colin
war fix und fertig, als er endlich das Hauptgebäude der NASA
in Washington erreichte. Er hatte sich im Taxi auf den überfüllten Straßen vom Dulles International Airport hierher ein kleines Nickerchen gegönnt, was aber nur dazu geführt hatte, dass er sich nun noch zerschlagener fühlte.
Die letzten Tage der Reise vom Mond bis hierher waren eine Tortur gewesen. Dabei hatte der Rückflug eigentlich mit einer Lehrbuchzündung der Triebwerke begonnen, die weitere Korrekturzündungen unnötig machte, und Colin hatte sich auf einen erholsamen Flug zur Erde gefreut. Doch dann hatten die beiden Brennstoffzellen Probleme gemacht. Die ganzen zwei Tage ihrer Rückreise hatten sie nichts anderes getan, als die blöden Dinger auszuschalten, wieder einzuschalten, zu resetten und durchzumessen. Dann war Houston auf die Idee gekommen, so viel Energie wie möglich zu sparen, falls sie plötzlich auf halbem Wege zur Erde allein auf die Batterien angewiesen sein sollten. Zuerst war es dunkel geworden und dann kalt. Nicht einmal warmes Essen hatten sie sich machen dürfen, und Freddy hatte sich gegenüber der Bodenkontrolle mehr als einmal im Ton vergriffen. Er würde lange auf einen erneuten Flug warten müssen.
Als sie dann mit ihrer Orion-Kapsel vor der Küste Floridas gewassert waren, hatten sie Stunden in der schaukelnden Kapsel auf das Eintreffen der Bergungsmannschaften warten müssen. Der Eintrittswinkel in die Erdatmosphäre war flacher gewesen als errechnet, woraufhin sie um etliche hundert Kilometer über ihr Ziel hinausgeschossen waren. Zurück am Cape hatte er nur kurz seine Frau begrüßen dürfen, weil man ihn umgehend mit einer Regierungsmaschine zu einer Besprechung nach Washington geschickt hatte. Da es um Judys Entdeckung im Mondorbit ging, hatte man eigentlich sie schicken wollen, aber da die Physikerin sich
in der eiskalten Kapsel auf dem Rückweg vom Mond eine üble Blasenentzündung eingefangen hatte, war irgendein Bürokrat auf die Idee gekommen, ihn an ihrer Stelle in den Jet zu setzen.
Und Colin fragte sich immer noch, was er auf dieser Besprechung sollte. Er war alles andere als ein Experte auf dem Gebiet außerirdischer Raumschiffe. Aber er vermutete, dass irgendein hohes Tier seine Besprechung mit einem Mondastronauten schmücken wollte, ganz gleich, ob Colin nun die ganze Zeit schwieg und nichts anderes machte, als aus dem Fenster zu schauen.
Colin bezahlte den Taxifahrer mit seiner Kreditkarte, legte ihm einige Dollarnoten auf den Beifahrersitz und ging dann auf die Eingangstür des achtstöckigen Gebäudes zu, über dem die amerikanische Flagge in der leichten Brise traurig hin und her schlackerte. Colin war natürlich schon einige Male hier gewesen. Er wusste, dass das Gebäude nicht der NASA
gehörte, sondern einer südkoreanischen Investmentfirma, und dass die amerikanische Weltraumbehörde es für einen langen Zeitraum gemietet hatte.
Sofort fröstelte es ihn, als er die Tür aufstieß. Der Gegensatz zwischen dem heißen Washingtoner Juli und der durch die Klimaanlage heruntergekühlten Luft im Gebäude war einfach zu groß. Colin war da empfindlicher als die meisten seiner Zeitgenossen. Seine eigene Klimaanlage in seinem Haus in Houston setzte er sehr sparsam ein.
Colin straffte sich. Er zeigte an der Pforte seinen NASA
-Ausweis, ging durch die Sicherheitsschleuse mit dem Körperscanner und setzte seinen Weg zu den Fahrstühlen fort. Die Besprechung würde im obersten Stockwerk stattfinden. Dort angekommen durchschritt er einen langen Korridor, dessen Türen zumeist geschlossen waren und an dessen Wänden zahllose Fotos von teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Weltraummissionen hingen. Es war sehr ruhig, aber das hatte er bei seinen Besuchen in der Vergangenheit nicht anders erlebt. Die bürokratische Verwaltungsatmosphäre einer Regierungsbehörde war hier deutlich zu spüren. In anderen NASA
-Zentren ging es weniger steif zu. Vor allem an den Standorten, an denen aktiv geforscht wurde, herrschte eine quirlige Atmosphäre. Am JPL
zum Beispiel standen grundsätzlich die Bürotüren offen, und überall traf man auf Studenten oder Doktoranden, die aufgeregt
über eine neue Mission oder Erkenntnis schwatzten.
Endlich hatte Colin den Besprechungsraum erreicht. Nach einem Blick auf seinen silbernen Chronometer stellte er fest, dass er viel zu früh eingetroffen war. Er drückte die Klinke herunter. Im Raum saßen gerade mal zwei Personen. Eine nicht sonderlich hübsche Frau mittleren Alters in einem adretten, cremefarbenen Kostüm und ein Mann mit grauen Haaren, die ihm unordentlich in den Nacken fielen und die so gar nicht zu dem schwarzen Anzug passten, den er trug. Beide saßen nebeneinander an der Seite einer hufeisenförmig angeordneten Tischreihe und sahen auf, als Colin den Raum betrat.
»Hallo zusammen.« Colin ging um den Tisch herum, um der Frau die Hand zu reichen.
Sie stand auf und erwiderte den Händedruck. »Guten Tag, Mr. Curtis.« Sicher kannte sie sein Gesicht aus den Nachrichten. »Ich bin Samantha Davis.«
Der Name kam Colin bekannt vor. Er lächelte. »Was machen Sie hier, Mrs. Davis? Arbeiten Sie im HQ
?«
Die Frau grinste aufgesetzt und schüttelte den Kopf. »Ms. Davis. Nein, ich bin wissenschaftliche Beraterin von Präsident Gorman. Ergo arbeite ich im Weißen Haus.«
Colin war ärgerlich auf sich selbst. Das hätte er wissen müssen. »Freut mich sehr, Ms. David.«
Dann wandte er sich dem Mann zu. Der erwiderte seinen Händedruck, ohne die Miene zu verziehen. »Lawson.«
»Freut mich, Mr. Lawson«, sagte Colin. »Sind Sie auch aus dem Weißen Haus herübergekommen?«
»Nein, bin ich nicht. Ich arbeite hier im HQ
. Ich bin Sekretär von Mr. Boseman.«
Der Mann sprach mit seltsam abgehackter Stimme. Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, tat er es mit einer roboterhaften Bewegung. Colin fragte sich, ob Lawson irgendwann einmal einen Schlaganfall gehabt hatte.
»Wer wird die Besprechung leiten?«, fragte Colin.
»Mr. Boseman selbst.«
Colins Augen weiteten sich. Niemand hatte ihm gesagt, dass der NASA
-Administrator persönlich zu dieser Besprechung geladen
hatte.
»Guten Morgen«, ertönte eine rauchige Stimme vom Eingang her. Colin drehte sich um. Ein kleiner, drahtiger Mann mittleren Alters in einer dunkelblauen Dienstuniform betrat den Besprechungsraum und fixierte Colin aus stahlblauen Augen mit unfassbar kühlem Blick. Colin kannte das Gesicht des Soldaten von Fotos. General Robert Gunn war eine Legende. Bei der Air Force hatte er als Geschwaderkommandant komplizierte Einsätze tief in feindlichem Gebiet angeführt. Über Syrien abgeschossen, war er von Sympathisanten des IS
gefangen genommen worden und seine Hinrichtung vor laufender Kamera war schon beschlossene Sache gewesen, als er mit drei weiteren Geiseln fliehen und sich nach tagelangem Marsch zu kurdischen Verbündeten durchschlagen konnte. Später war er zur Space Force gewechselt, hatte dort gegen alle Widerstände den Bau des autonomen Satellitenabwehrsystems RADIUS
durchgesetzt und ein Jahr später den nordkoreanischen Angriff auf die SubSeven-Plattform abgewehrt, was ihm endgültig den Status eines Nationalhelden einbrachte. Seine Liebe zu schottischen Whiskys und kubanischen Zigarren war ebenso bekannt, wie er für sein hitziges Temperament berüchtigt war.
Gunn marschierte direkt auf Colin zu, wobei er ihn, ohne zu blinzeln, anstarrte. Die Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen. Dicht vor ihm blieb der General stehen und Colin trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Sie müssen dieser Astronauten-Casanova sein«, sagte Gunn so laut, dass man es vermutlich bis auf den Korridor hinaus hörte.
Was sollte das denn jetzt? »Was meinen Sie?«, krächzte er.
»Ich pflege mich über meine Gesprächspartner zu informieren. Und Ihr Ruf eilt Ihnen diesbezüglich weit voraus.«
Colin presste die Lippen zusammen. Ihm wurde klar, dass das ein Test war. Es war ein offenes Geheimnis, dass Gunn der NASA
die bemannte Raumfahrt am liebsten entreißen und sie mitsamt allen Astronauten gerne in seine Space Force eingliedern würde. Womöglich traf er bei jedem Astronauten, dem er begegnete, schon am Anfang die Entscheidung, ob er ihn rausschmeißen oder behalten wollte. Und durch sein Zurückweichen hatte Colin den ersten Teil des Tests schon versaut. Es wäre besser, wenn ihm jetzt
schnell eine schlagfertige Antwort einfiel.
Ein rauchiger Duft stieg in Colins Nase. Er lehnte sich ein kleines Stück nach vorne und schnüffelte laut. »Ihrem Ruf eilt schon Ihr Geruch voraus.«
»Gut gekontert.« Der General grinste und seine Gesichtszüge entspannten sich. Dann hielt er Colin die Hand hin, die der Astronaut zögerlich, dann aber mit festem Druck ergriff.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Gilt für mich ebenso«, sagte Gunn in deutlich freundlicherem Tonfall. »Muss hart gewesen sein, die Mondlandung abzubrechen und ohne getane Arbeit zur Erde zurückzukehren.«
Colin nickte. »Ich hege die Hoffnung, dass meine Landung auf dem Mond nur verschoben und nicht abgesagt wurde.«
Der General machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur keine Sorgen. Das Auftauchen des außerirdischen Raumschiffes wird im Kapitol die Geldtore öffnen. Es gibt nun potenzielle Invasoren, gegen die wir unser Revier schützen müssen. Ich garantiere Ihnen, dass der Mond nur der Anfang sein wird.«
Colin blickte den General nachdenklich an. So hatte er das noch nie gesehen, aber der Mann hatte recht. Es war gut möglich, dass für die bemannte Raumfahrt nun goldene Zeiten anbrachen. Er würde den Mond eben etwas später betreten.
Und womöglich wartete am Horizont sogar der Mars auf ihn. Das wäre etwas. Der erste Mensch, der den Mars betritt.
»Wenn Sie das sagen, Sir«, erwiderte Colin.
»Ich bin fest davon überzeugt. Wenn die Dinge so laufen, wie ich es mir vorstelle, werden wir beide uns öfter sehen.«
Colin nickte. Also war es nicht nur ein Gerücht. Gunn wollte sich tatsächlich die Astronauten unter den Nagel reißen.
»Und eins gebe ich Ihnen schon mal gleich mit auf den Weg«, schob der General nach. »Loyalität zahlt sich aus.«
Der General begrüßte Lawson und Davis kurz, machte dann auf dem Absatz kehrt und setzte sich an die Stirnseite des Hufeisens.
Colin ließ sich neben Lawson nieder. »Wann geht es denn los?«, fragte er den Sekretär.
Der Bürokrat antwortete nicht und zeigte stattdessen auf den Eingang.
Gerade betrat ein bulliger Mann in blauem Anzug und weißem Hemd den Raum. Es war Dan Boseman, der NASA
-Administrator. »Guten Morgen, meine Damen und Herren.« Der Chef der zivilen amerikanischen Raumfahrt sprach mit einem derart dröhnenden Bass, dass die Luft zu vibrieren schien.
Der NASA
-Administrator war gerade mal einige Monate im Amt, nachdem Clayton, sein Vorgänger, wegen einer Korruptionsanklage überraschend seinen Posten hatte räumen müssen. Colin hatte Boseman noch nicht kennengelernt, aber einige Kollegen hatten ihm gegenüber erwähnt, dass der neue Chef eher schwach und unentschlossen wirkte. Diesem Eindruck konnte sich Colin bei dem energischen Eintreten Bosemans nicht anschließen. Zumindest noch nicht.
Boseman wollte gerade die Tür schließen, hielt aber inne, als eine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren noch in den Raum schlüpfte. »Entschuldigen Sie bitte«, brummte der Administrator und ließ die junge Frau passieren.
»Danke«, sagte sie. »Ich bin Susan Boyle.«
Die Frau sah sich gehetzt um, als würde sie am liebsten gleich wieder flüchten. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit einer hellen, fast blassen Haut, was Colin sehr anziehend fand.
Boseman nickte. »Die Physikerin, ja. Wie geht es Clintock?«
»Es geht ihm besser, aber er muss noch einige Tage zur Beobachtung auf der Intensivstation bleiben. Er bittet nochmals ausdrücklich um Entschuldigung, dass er die Einladung nicht persönlich annehmen kann«, sagte Boyle.
»Ich bin davon überzeugt, dass Dr. Clintock eine ausgezeichnete Vertreterin geschickt hat.« Boseman bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und die Physikerin ließ sich Colin gegenüber nieder.
Der NASA
-Administrator setzte sich ans Kopfende des Hufeisens, direkt neben General Gunn. Während er seine Papiere sortierte, hatte Colin Zeit, die junge Frau zu betrachten. Die dunklen Haare standen ihr teilweise vom Kopf ab und das zerknitterte Kostüm sah auch nicht gerade vorteilhaft aus. Die Brille über den müde wirkenden Augen war zu groß. Aber etwas Make-up und eine andere Frisur hätten aus der grauen Maus eine wirklich attraktive Frau machen können. Typisch Wissenschaftlerin! Viele von denen hatten
nur ihre Studien im Sinn und ließen sich gehen. Wunderten sich dann, dass sie keine Männer oder nur Nerds abbekamen. Auf der anderen Seite konnten sie im Bett ziemlich abgehen, wenn man sie erst mal aus der Reserve gelockt und mit zwei Gläsern Wein etwas lockerer gemacht hatte.
Plötzlich blickte die Frau ihn an. Colin setzte sein charmantestes Lächeln auf und blinzelte mit einem Auge.
Sie lächelte gezwungen zurück und zupfte sich am Ohrläppchen. Dann wandte sie den Blick ab.
Wenn er länger mit ihr zu tun hatte, würde er sie rumkriegen. Ganz sicher.