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»Freut
mich, dass Sie da sind«, sagte Dr. Dillinger. »Kommen Sie mit.«
Susan und Brian folgten dem großgewachsenen Wissenschaftler durch einen langen Korridor. Susan kannte den SETI
-Spezialisten von einer Konferenz in Paris, wo er einen hervorragenden Vortrag über Kommunikationsmöglichkeiten mit außerirdischen Spezies gehalten hatte. Sie hatte ihn gleich nach dem Meeting vom NASA HQ
aus angerufen, und er hatte sie in sein Institut an der University of Maryland eingeladen, die sich nur einige Kilometer außerhalb von Washington befand. Dillinger und sein kleines Team waren in einem langgezogenen, einstöckigen Gebäude im hinteren Teil des Campus untergebracht, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Herunterbröckelnder Putz und vergilbte Tapeten deuteten darauf hin, dass der Dekan das Institut für interstellare Kommunikation nicht gerade als Leuchtturmprojekt seiner Universität betrachtete.
»Hier ist unser Labor.« Dillinger stieß eine graue Tür auf. Susan ging hindurch und sah sich in dem karg eingerichteten, nicht allzu großen Raum um. Ein riesiger Bildschirm war an der gegenüberliegenden Wand angebracht. An den Seitenwänden standen mehrere Schreibtische mit Computern. Vor einem dieser Arbeitsplätze saß eine junge, korpulente Frau mit feuerrot gefärbten Haaren. Sie betrachtete Susan ausdruckslos.
»Das ist Elena Gonzales«, stellte Dillinger die Frau vor. »Meine Assistentin.«
»Er wollte ›Sklavin‹ sagen«, brummte Elena. »Ich bin ihm drei Jahre lang zu Diensten und dafür bekomme ich dann meinen Doktortitel.«
»Na, na«, machte Dillinger grinsend. »Nur nicht frech werden. Auf meinem Computer warten noch Dutzende endlos langer Tabellen auf eine Auswertung. Es könnte sein, dass das über das
Wochenende plötzlich dringend wird.«
Elena schnaubte und wandte sich wieder zu ihrem Rechner um.
Susan grinste. So streng Dillinger mit seinem hageren Gesicht aussah und sich gab, so wusste sie doch, dass unter der harten Schale ein sehr weicher Kern steckte.
»Hast du die Datei mit dem Signal bekommen?«, fragte er.
»Hältst du mich für blöde?«, zischte Elena. »Natürlich habe ich. Ich habe längst mit der Auswertung begonnen.«
Dillinger zeigte auf zwei Stühle neben einem Schreibtisch. Susan und Brian setzten sich. Dillinger selber blieb stehen und trat von einem Bein auf das andere. »Zeig!«, verlangte er.
Die junge Assistentin hantierte auf ihrem Rechner herum, dann erhellte sich der große Bildschirm an der Wand. Ein Diagramm erschien und bildete schwarze Kurven auf weißem Untergrund ab, die Susan nichts sagten.
»Was sehen wir hier?«, erkundigte sich Brian.
»Das ist die Signalstärke über die Zeit«, antwortete Elena. »Der gesamte Funkspruch dauerte gerade mal fünf Minuten. Ich musste wegen der Dopplerverschiebung durch die hohe Geschwindigkeit die Frequenz anpassen.«
»Und?«, drängte Dillinger.
»Es scheint in der Tat ein digitales Signal zu sein. Ich kann es durch eine Analyse in kurze Balken mit zwei Energien umwandeln und beiden Energieplateaus die Werte null und eins zuweisen. Die ersten Signale bestehen aus abwechselnd vierundsechzig Nullen und Einsen.«
»Ein 64
-Bit-Signal«, sagte Brian fasziniert.
»Es beginnt dann eine Aufzählung von mehreren Bitfolgen, die offenbar den Zahlenraum von eins bis eintausend darstellen.«
»Ganz recht«, sagte Dillinger voller Begeisterung. »Wie nach dem Lehrbuch. Wenn wir einer außerirdischen Spezies eine Botschaft hätten mitteilen wollen, hätten wir genauso angefangen.«
»Aber was bedeutet die Botschaft denn nun?«, fragte Susan, die von Kommunikationstechnik und Außerirdischen nicht viel Ahnung hatte.
»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Elena. »Aber wir können sagen, dass der erste Teil der Botschaft ein mathematisches
Wörterbuch ist.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte Brian nach.
»Die Fremden arbeiten mit logischen Verknüpfungen«, erwiderte Dillinger. »Wenn ich zwei Einsen, eine Zwei und zwei unbekannte Symbole habe, dann kann ich daraus schließen, dass es sich bei den beiden Unbekannten um ein Pluszeichen und ein Gleichheitszeichen handelt. So teile ich einem Ansprechpartner sukzessive das ganze Wörterbuch der Mathematik mit, auch wenn das Gegenüber nicht dieselbe Sprache spricht.«
Der Bildschirm füllte sich mit Gleichungen und Zahlen.
»Aber die können uns doch nicht nur mathematische Formeln geschickt haben«, meinte Brian.
»Es sieht aber ganz so aus.«
Immer mehr Formeln wanderten über den Monitor. Eine davon kam Susan bekannt vor. »Stopp«, sagte sie. »Kann man das mal anhalten?«
»Sicher«, brummte Elena, und der Bildschirminhalt fror ein. »Ich kann Ihnen aber auch eine Kopie der Datei mailen oder auf einen USB
-Stick ziehen.«
Susan studierte den Bildschirm. Auch wenn einige der Symbole anders als gewohnt aussahen, erinnerte sie sich an lange zurückliegende Vorlesungen. Damals hatte sie einen Professor gehabt, der keine Formelsammlung in der Prüfung erlaubte. Das Auswendiglernen der Gleichungen hatte sie Monate ihres Lebens gekostet. »Das da sind Komponenten des Feldstärketensors. Zusammen ergibt das die Lagrangedichte des Photons.«
»Das sagt mir nichts.« Brian reckte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, während er den Bildschirm studierte.
»Ich muss zugeben, dass ich auch keine Ahnung habe.« Dillinger klang fast schon entschuldigend.
»Das sind Grundlagen der Quantenfeldtheorie«, erklärte Susan. »Wie aus einem Lehrbuch. Ich bin mir sicher, dass als Nächstes irgendwo Pfadintegrale auftauchen.«
Es war faszinierend. Die Reihenfolge der Gleichungen entsprach ungefähr der Abfolge ihrer Entdeckung auf der Erde. Bei den Fremden musste sich die Wissenschaft ganz ähnlich entwickelt haben.
»Aber warum senden sie uns das?«, fragte Dillinger. »Ich meine, sie müssen sich doch irgendwas dabei gedacht haben. Oder schicken sie uns einfach nur ihre Physiklehrbücher zu?«
»Wenn die Fremden uns ausgerechnet diesen Zweig der Physik zukommen lassen, dann muss eine Aussage dahinterstecken«, vermutete Brian.
Susan war derselben Meinung. »Warum haben die Außerirdischen uns ausgerechnet Formeln aus der Quantenfeldtheorie geschickt und nicht aus der Relativitätstheorie oder etwa der Festkörperphysik? Oder kommt das später noch?«
»Nein«, erwiderte Elena. »Die Sendung ist bald vorbei. Sehr viel mehr kommt da nicht.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Dillinger. »Die Kommunikation läuft zwar wie nach dem Lehrbuch, aber inhaltlich hätte ich etwas anderes erwartet. Zum Beispiel, dass nach einer kurzen mathematischen Einführung Bilder gesendet werden, um ein gemeinsames Vokabular aufzubauen.«
»Aber da ist nur Mathematik«, sagte Elena.
»Nein.« Susan schüttelte den Kopf. »Das ist keine Mathematik mehr. Das ist Physik.«
Elena zuckte mit den Schultern.
»Wenn die mit uns Kontakt aufnehmen wollen, müssen sie uns doch einen Schlüssel zu ihrer Sprache geschickt haben.« Dillinger klang ernüchtert. »Oder mehr Informationen über sich selber. Warum der Schwerpunkt auf diesen abstrakten Theorien?«
»Vielleicht machen wir hier einen Denkfehler«, sagte Brian ruhig. »Wir sollten den Kontext nicht vergessen.«
»Welchen Kontext?« Dillinger war irritiert.
»Die sind mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch unser Sonnensystem gerast. Womöglich wussten sie noch nicht einmal, dass unser System bewohnt ist. Sie haben es unter Umständen erst kurz vor ihrem Vorbeiflug bemerkt.«
Das war ein gutes Argument. Wahrscheinlich hatten die Fremden nicht viel Zeit gehabt, ihre Botschaft an die Menschheit zu verfassen.
Vielleicht können wir froh sein, dass sie sich überhaupt mit uns in Verbindung gesetzt haben.
»Und doch lassen sie sich nicht stören und rasen weiter durch das
All, als wäre nichts geschehen«, sagte Elena.
»Genau.« Brian nickte. »Sie interessieren sich nicht für uns und sie wollen auch keinen Kontakt mit uns aufnehmen. Sie erwarten keine Antwort von uns. Sie wollten uns nur etwas mitteilen.«
»Aber was?«, grübelte Dillinger.
Susan dachte an den Sternhaufen der Hyaden, aus dem das fremde Raumschiff mutmaßlich gekommen war, an den Stern, der verschwunden war, an die plötzlich auftauchenden Neutrinos. Neutrinos entstanden auch aus der Wechselwirkung von Feldern. Quantenfeldern.
Es hatte alles etwas miteinander zu tun. Und die Sendung der Außerirdischen war ein weiteres Stückchen des Puzzles.
»Aber was
wollen sie uns mitteilen?«, wiederholte Dillinger seine Frage.
Susan blickte durch ihn hindurch. Wenn das Raumschiff der Fremden nun mit annähernd Lichtgeschwindigkeit in die den Hyaden entgegengesetzte Richtung flog, dann konnte der Funkspruch eigentlich nur eines sein. Und das machte Susan eine Scheißangst.
Sie schaute Brian an, der ihren Blick erwiderte. »Eine Warnung«, flüsterte sie.