25
Susan
wachte vom Jaulen einer Polizeisirene irgendwo draußen vor den Fenstern ihres Hotels auf. Als sie die Augen öffnete, drehte sich die Decke über ihr langsam im Kreis. Das letzte Whiskyglas war wohl eines zu viel gewesen. Sie rieb sich die Augen und blinzelte, bis sie klar sehen konnte. Sonnenlicht fiel an den Seiten der Vorhänge ins Zimmer und erhellte einen schrägen Streifen an der Wand gegenüber. Sie wandte langsam den Kopf und erkannte Brians verstrubbelten Hinterkopf. Gestern Abend hatte sie es noch für eine gute Idee gehalten, gemeinsam mit ihm die Nacht zu verbringen. Jetzt zweifelte sie daran. Wollte sie in Anbetracht der Umstände wirklich eine feste Beziehung eingehen? Vielleicht wäre eine einmalige Angelegenheit das Beste. Auch im Sinne ihrer Arbeit. Aber sie wusste, dass er Gefühle für sie entwickelt hatte und sich mehr erhoffte. Nun ja, darüber konnte sie später noch nachdenken.
Vorsichtig schwang Susan ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Der Boden war kälter, als es die Lufttemperatur erwarten ließ. Abermals fuhr ein Polizeiauto mit Sirene in der Nähe vorbei. Sie stakste zum Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Eigentlich hätte der morgendliche Washingtoner Berufsverkehr in einer langen Schlange vor dem Fenster vorbeischleichen sollen, aber es war merkwürdig ruhig. Nur wenige Autos fuhren über die breite Straße. Fußgänger waren gar keine zu sehen. Stattdessen raste wieder ein Polizeiauto, gefolgt von einem Leiterwagen der Feuerwehr, vorbei. Der Himmel war wolkenlos und stahlblau. In einiger Entfernung ragten mehrere große Rauchsäulen kerzengerade nach oben. Eine davon musste mitten über Georgetown stehen.
Erst jetzt klarte sich Susans Kopf allmählich auf.
Heute ist kein normaler Tag.
Es war der erste Tag, an dem die Menschheit wusste, dass das Ende des Lebens bald auf sie wartete. Wie hatten die Leute darauf
reagiert? Gestern Abend war es erstaunlich ruhig geblieben, aber das konnte sich natürlich schnell ändern.
Susan griff zur Fernbedienung und schaltete den großen Fernseher an, der an einem schwenkbaren Wandgestell hing. Das Bild erhellte sich und zeigte einen sehr prominenten Anchorman der CNN
im Gespräch mit einem weniger prominenten Physiker des BNL
. Susan schaltete weiter.
Auf dem Washingtoner Regionalsender sah sie Aufnahmen von brennenden Gebäuden und Autos. Offenbar hatte es Plünderungen in den Stadtteilen Brentwood und Columbia Heights gegeben, bei denen auch einige Menschen brutal ermordet worden waren. Dann waren Aufnahmen von Konvois der Nationalgarde zu sehen, die einrückten, um die Polizei bei der Sicherung der Stadt zu unterstützen. Offenbar wurden die Notstandsgesetze des Präsidenten schon unnachgiebig angewandt, denn der Sender zeigte Bilder von Soldaten in grünen Uniformen, die auf Menschen vor einer roten Backsteinmauer anlegten. Dann schossen sie, und die leblosen Körper sackten zusammen. Es war wie bei einem Erschießungskommando.
Susan schauderte, als sie sah, dass eine der Leichen ein Heranwachsender – fast noch ein Kind – war.
Waren sie wirklich schon so weit? Hatten zwölf Stunden genügt, um die Zivilisation zusammenbrechen zu lassen?
»Schrecklich … wo ist das?«
»Muss Washington sein«, krächzte Susan. »Ist der Regionalsender.«
»Schalt weiter.«
Susan drückte auf die Fernbedienung.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Brian.
Sie sahen die charakteristische pilzförmige Wolke einer Atomexplosion, die anscheinend jemand mit seinem Handy aufgenommen hatte. Dann hatte eine offenbar an einem Hubschrauber befestigte Kamera eine Stadt aufgenommen, die sich in eine Trümmerlandschaft verwandelt hatte.
»Wo ist denn das?«, fragte Brian. »Schalt doch den Ton lauter!«
»Es geht nicht!« Susan drückte wieder auf die Fernbedienung. »Das Ding funktioniert nicht richtig.«
Endlich wurde ein Ticker eingeblendet. Er informierte über einen nuklearen Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan, bei dem die Städte Neu-Delhi, Jaipur, Surat, Ludhiana, Lahore und Hyderabad vernichtet worden waren. Die Opferzahlen gingen in die Millionen.
»Warum sollten sie das tun?« Susan begriff es nicht. »Warum sollten sie sich gegenseitig Atombomben auf den Kopf werfen?«
Natürlich war ihr der indisch-pakistanische Konflikt um Kaschmir bewusst, der vor einigen Monaten neu aufgeflammt war, nachdem es im Grenzort Madhopur zu einem brutalen Terroranschlag gekommen war. Aber was hatte das mit dem Vakuumzerfall zu tun?
»Vielleicht ist jemand zu dem Entschluss gekommen, den Konflikt endlich auszutragen und einen Gewinner zu bestimmen, bevor das Spiel vorbei ist.«
Susan schüttelte den Kopf und wies auf den Bildschirm, auf dem einige grausam verbrannte Leichen zu sehen waren. »Bei so etwas gibt es keine Gewinner.«
»Das scheinen einige noch nicht begriffen zu haben.«
Kanal für Kanal schalteten sie sich durch die Nachrichten. In der Türkei war es zu einem Militärputsch gekommen, wobei das Ergebnis noch nicht feststand, da rund um den Präsidentenpalast weiterhin gekämpft wurde. Auch in einigen anderen Ländern waren interne Konflikte aufgeflammt. In Nepal hatten sich zahlreiche Mönche selber angezündet und in Ruanda hatten Massaker stattgefunden, bei denen einige Bevölkerungsgruppen sich für lange zurückliegende Säuberungen rächten.
Interessanterweise hatten sowohl Russland als auch China Pläne bekanntgegeben, eigene Archen zu bauen, wozu die zwei Nationen als Atom- und Weltraummächte gewiss in der Lage waren. Beide Länder hatten außerdem sämtlichen Export von Rohstoffen umgehend gestoppt, was im von russischem Gas abhängigen Europa bereits zu Versorgungsengpässen geführt hatte. Einige europäische Nationen hatten wohl versucht, Hunderte Tickets für eigene Eliten in der amerikanischen und der russischen Arche zu kaufen, was von beiden Staatschefs aber umgehend abgewiesen wurde. Trauer stieg in Susan auf. Es war eine Ironie, dass gerade im Angesicht des Untergangs die Länder in Nationalismus und Konkurrenzkampf
zurückfielen, anstatt zusammen an den Archen zu bauen.
In Amerika war die Lage, abgesehen von einigen Plünderungen und Brandstiftungen, halbwegs ruhig geblieben, was sicher auch Präsident Gormans schnellem Entschluss zu verdanken war, der Arche grünes Licht zu geben und jedem Bürger eine Chance auf Flucht zu versprechen.
Susan blickte aus dem Fenster, als wieder ein Polizeifahrzeug mit Sirenengeheul vor dem Hotel vorbeifuhr. Die Leere der Straßen war für diese Tageszeit an einem Wochentag völlig untypisch. Vermutlich hatte sich der Großteil der Menschen krankschreiben lassen, freigenommen oder blieb einfach zu Hause, trotz der Aufforderung Präsident Gormans. Womöglich befanden sich die meisten noch in einer Schockstarre und versuchten, die Bedeutung der Ereignisse zu verinnerlichen.
Susan spürte Brians Hände auf ihrer Schulter und seine Wange an ihrer. Sie schüttelte ihn ab und trat einen Schritt zur Seite.
»Ist alles in Ordnung?«, wollte er wissen.
Sie sah ihm in die Augen. »Mir ist gerade nicht nach Berührungen. Entschuldige bitte.«
Er zwang sich ein Lächeln auf. »Sicher. Ich dachte nur …« Er verstummte.
»Was dachtest du?«
»Bitte sag mir, dass das nicht nur eine Einmalgeschichte war.«
Susan seufzte. Sie hatte es geahnt. Sie trat zu ihm und nahm seine Hand. »Ganz ehrlich, ich mag dich.«
»Du magst mich«, wiederholte er leise.
Susan nickte. »Ja, ich mag dich. Und ich fand es schön, dass wir letzte Nacht das Bett geteilt haben.«
»Aber …«
Susan seufzte wieder. »Ich weiß nicht, ob ich etwas Ernstes daraus machen möchte. Schon gar nicht in Anbetracht der Umstände, in denen wir uns befinden.«
»Wäre es nicht gerade deswegen wichtig, die uns verbleibende Zeit zu nutzen?«, fragte er sanft.
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht so recht, wofür ich die übrige Zeit nutzen will und kann. Ich meine, wir sind nun diesem Projekt zugeteilt und werden wahrscheinlich bis zum Start kreuz und
quer durch das Land geschickt. Und das ganz sicher nicht immer zusammen.«
»Du …« Er zögerte. »Du liebst mich nicht.«
»Nein«, antwortete sie ehrlich. »So funktioniert das auch bei mir nicht. Ich habe mich noch nie nach kurzer Zeit in jemanden verliebt. Bei mir wächst dieses Gefühl mit der Zeit, die ich mit einem Mann verbringe. Oder eben auch nicht. Verstehst du?«
Er starrte sie einen Moment lang still an, dann fragte er: »Was schlägst du vor?«
Sie wusste es nicht. Am einfachsten würde es sein, die Sache hier und jetzt zu beenden. Aber sie musste zugeben, dass sie es schön gefunden hatte, neben Brian einzuschlafen und aufzuwachen. Und sie konnte es sich – entsprechende Gelegenheiten vorausgesetzt – in Zukunft durchaus wieder vorstellen. Doch sie wollte kein kompliziertes Verhältnis daraus entstehen lassen. Nur – wie sollte sie ihm das begreiflich machen?
Ein Telefon klingelte irgendwo im Raum. Ihres war es nicht, das lag vor ihr auf der Fensterbank.
Brian fischte sein Handy aus dem Jackett, das über dem Sessel in der Ecke lag. »Gould.« Er hörte einige Sekunden lang zu und nickte dann. »Ich habe verstanden. Sie brauchen Susan nicht anzurufen, sie ist gerade bei mir.« Er legte auf und lächelte Susan schwach an.
»Was ist denn?«, fragte Susan.
»Der Präsident will uns sprechen. In einer halben Stunde. Ein Wagen ist bereits unterwegs.«