26
Colin
blinzelte irritiert, als die schwarze Limousine direkt am Washington Monument anhielt und der Fahrer ausstieg, um ihm die Tür zu öffnen.
»Fahren wir denn nicht zum Weißen Haus?«
»Nein, Sir.« Der Afroamerikaner sprach mit sanfter Stimme. »Der Präsident wird in wenigen Minuten eintreffen. Gehen Sie direkt zum Memorial. Ihre Tasche können Sie hierlassen, ich bringe sie in den West Wing.«
Colin seufzte und stieg aus dem Wagen. Eine kühle Brise ließ ihn trotz des sonnigen Wetters frösteln und er knüpfte sich den Mantel zu.
Langsam ging er den kurvigen Weg von der Straße zum Denkmal hinüber. Als er sich näherte, erkannte er Susan und Brian am Fuß des Obelisken. Daneben waren General Gunn und Administrator Boseman in ein Gespräch vertieft. Das ganze Areal um das Denkmal herum war von Polizisten und Secret-Service-Männern in dunklen Anzügen weitläufig abgesperrt. Aber soweit Colin es beurteilen konnte, hielten sich sowieso nur wenige Zivilisten auf dem Gelände auf.
Colin gähnte. Sein Flug aus Houston hatte schon vor der Morgendämmerung stattgefunden. Dabei hatte er noch Glück gehabt, denn viele Flüge waren ausgefallen. Offensichtlich, weil Piloten und anderes Flughafenpersonal nicht zum Dienst erschienen waren. Allison hatte noch geschlafen, als Colin das Haus verließ. Er hatte sie auf die Stirn geküsst und ihr einen Zettel hinterlassen, dass er möglichst bald wieder nach Hause kommen würde.
»Was sollen wir denn hier?«, fragte er, als er Susan und Brian erreichte.
»Offenbar sollen wir den Präsidenten bei seiner Morgenrunde begleiten«, antwortete Brian.
Colin runzelte die Stirn. »Morgenrunde?«
Susan lächelte schwach. »Gormans Morgenrunden um die Mall sind doch inzwischen legendär. Sag nicht, du hast noch nie davon gehört.«
Colin schüttelte den Kopf. Das hatte er in der Tat noch nie, aber er sah auch nicht viel fern.
»Der Präsident macht jeden Morgen einen Spaziergang vom Weißen Haus zu einem der Denkmäler der National Mall. Jedenfalls, soweit es ihm möglich ist.« Brian zeigte auf einen der überall herumstehenden Agents. »Sehr zum Missfallen des Secret Service.«
Colin zuckte die Schultern. Frühere Präsidenten hatten es sich nicht nehmen lassen, quer durch Washington zu joggen, umgeben von einer halben Armee von Agenten.
»Da kommt er schon«, verkündete Susan.
Colin blickte auf. Umzingelt von etlichen Polizisten und Agenten und mit Samantha Davis an seiner Seite, überquerte Gorman die Constitution Avenue und betrat die Washington Monument Grounds. Er begrüßte Boseman und Gunn und trat dann zu ihnen. Mit ernstem Gesicht begrüßte er jeden von ihnen mit Handschlag. »Wussten Sie, dass das Washington Monument eigentlich genau am Schnittpunkt der Sichtachsen von Weißem Haus und Kongress angelegt werden sollte?«
Colin sah sich um. Das Kongressgebäude war rechts von ihm am anderen Ende der National Mall gelegen. Das Weiße Haus stand dazu in einem rechten Winkel. Nein! Wenn man genau hinsah, waren es nicht genau neunzig Grad. »Hat sich der Architekt wohl um einige Meter geirrt.«
Gorman schüttelte den Kopf. »Nein. Allerdings war der Untergrund dort nicht tragfähig genug für die Fundamente und darum hat man das Washington Memorial fünfzig Meter weiter östlich gebaut. Schon früher musste man sich also der Natur geschlagen geben und weichen.«
Colin zuckte mit den Schultern.
»Ich gehe jeden Morgen ein Stück die Mall entlang«, fuhr der Präsident fort. »Ich finde, ein Präsident sollte sich immer der Geschichte seines Landes bewusst sein. Es hilft mir bei dem Verständnis, dass jede Entscheidung – sei sie von kleiner oder
großer Tragweite – am Ende in die Historie des Landes eingeht. Und es hilft mir, die große Verantwortung zu verinnerlichen, die mein Amt unweigerlich mit sich bringt.«
Niemand antwortete ihm.
»Kommen Sie«, sagte Gorman schließlich. »Begleiten Sie mich ein Stück.«
Er marschierte los und Colin und die anderen folgten ihm in einigen Metern Abstand. Sie ließen das Washington Memorial hinter sich, überquerten die 17
. Straße, ließen den Reflecting Pool links liegen und durchquerten die Constitution Gardens. Schließlich erreichten sie das Vietnam Veterans Memorial.
Colin hatte die Gedenkstätte schon früher mehrmals besucht, auch, weil der Name seines Großvaters in die lange Mauer eingraviert war, die neben dem abschüssigen Weg die Namen aller in Vietnam gefallenen US
-Soldaten enthielt.
Langsam schritt Präsident Gorman die Gedenkmauer ab. Immer wieder blieb er stehen und strich beinahe zärtlich über die Namen der Gefallenen. »57939
Namen stehen auf diesem Monument. 57939
Amerikaner, die für ihr Land in den Tod gegangen sind.«
Er wandte sich um und starrte Colin, der ihm am nächsten stand, direkt in die Augen. »Und nun ziehen wir in einen Krieg, der fast alle Amerikaner in den Untergang reißt. Die Zahl derer, die diesen Kampf gegen die Gewalten des Kosmos überleben werden, ist niedriger als die Anzahl der Namen auf diesem Monument.« Er schüttelte den Kopf. »Und das auch nur, wenn der Plan und das Raumschiff funktionieren.«
Colin schluckte.
»Wenn wir eine Gedenkmauer – ähnlich wie diese – bauen würden, die alle diejenigen Amerikaner mit Namen aufzählt, die zusammen mit ihrem Land in den Abgrund gehen, dann wäre diese Mauer über dreihundert Kilometer lang und würde von Washington bis New York reichen. Und nur eines dieser Wandsegmente würde für die Namen der Überlebenden reichen.«
Ja, der Präsident hatte recht. Die Dimensionen der bevorstehenden Katastrophe waren einfach nicht erfassbar. Nur durch solche Vergleiche ließ sich ein Einblick in die Tragweite des Ereignisses schaffen.
»Ich habe Aufgaben für Sie.« Gorman schlug einen aristokratischen Befehlston an, der keinen Widerspruch zuließ. »Die Arche wird mit den gesamten Ressourcen unseres militärisch-industriellen Komplexes gebaut. Alles wird sich dem unterordnen. Das Pentagon und die NASA
übernehmen federführend die Bauleitung und die Projektführung. Und Sie werden mein Aufsichtsrat sein. Sie überwachen alle Aspekte und stellen sicher, dass niemand schlampige Arbeit leistet. Sie haben alle Vollmachten und Freiheiten, die Sie dafür benötigen. Sie verantworten sich nur mir gegenüber. Niemandem sonst. Sie erstatten mir regelmäßig Bericht und stehen für meine Fragen jederzeit zur Verfügung. Ist das klar?«
Colin nickte. Von Susan vernahm er ein gedämpftes »Ja«.
Der Präsident trat vor Brian. »Sie sind für den Bau des Schiffes verantwortlich. Stellen Sie sicher, dass es abhebt. Und dass es nach dem Start funktioniert.«
Dann ging er zu Susan. »Sie sind für alle wissenschaftlichen Belange zuständig. Behalten Sie die Vakuumfront im Auge und legen Sie einen Kurs für das Raumschiff fest.«
»Ja, Sir«, erwiderte Susan.
»Gut.«
Präsident Gorman nahm schließlich vor Colin Aufstellung. »Sie kümmern sich als Astronaut um alle Belange der Besatzung. Stellen Sie sicher, dass alles an Bord ist, was die Menschen zum Leben brauchen. Außerdem will ich, dass Sie eine Liste von zweitausend Menschen ausarbeiten, die für eine solche Reise und das Überleben unseres Volkes am wichtigsten wären.«
»Ich dachte, das Los bestimmt, wer an Bord geht und wer nicht«, wandte Colin ein.
Gorman nickte. »Wir können nicht riskieren, dass durch das Los Menschen mit wichtigen Fertigkeiten an Bord fehlen«, erwiderte er. »Darum werden fünfhundert Menschen entsprechend ihrer Wichtigkeit für die Mission ausgewählt und tausend Menschen dann über das Los bestimmt.«
Das machte Sinn. »Aber warum soll ich dann zweitausend Menschen auswählen, wenn nur fünfhundert davon mitfliegen?«
»Falls Leute zu Hause bleiben wollen, weil sie Familie haben«, gab
Gorman zurück.
Colin verstand. Wer herausgefiltert wurde, durfte seine Familie nicht mitnehmen. Das war hart! »Und wenn wir die wichtigsten Menschen auswählen und denen je zwei Begleitpersonen zugestehen?«
Der Präsident schüttelte den Kopf. »Ich habe das mit meinen Generälen in Erwägung gezogen. Dann würde allerdings kein Platz mehr für zufällig ausgewählte Menschen zur Verfügung stehen. Aber es soll jeder Amerikaner eine Chance bekommen, und sei sie auch noch so klein.«
»In Ordnung«, bestätigte Colin.
»Gut. Sie stellen sich völlig in den Dienst Ihrer Aufgabe. Ich erwarte, dass Sie einhundert Prozent geben. Dafür bekommen Sie einen Platz an Bord.«
Colin stieß unwillkürlich die Luft aus. Er würde ein Ticket erhalten. Er musste nicht auf den Zufall hoffen wie alle anderen Amerikaner. Aber eine wichtige Frage stellte sich. »Familie?«
Der Präsident nickte. »Ihnen wird im Gegenzug für Ihre Arbeit und den Dienst an der Arche eine Begleitperson zugestanden. Allerdings unter der Bedingung, dass ein verwandtschaftliches Verhältnis besteht und die Person unter dreißig Jahre alt ist.«
Colin biss sich auf die Lippen. Ganz plötzlich spürte er einen Stich ganz tief im Herzen. Also würde er Allison nicht mitnehmen können. Egal, wie sehr sie sich auseinandergelebt hatten, konnte er seine Frau doch nicht einfach auf der sterbenden Erde zurücklassen. Oder etwa doch? Wäre Allison ein anderer Typ Frau, hätte sie sich bereits vor geraumer Zeit scheiden lassen und den Kontakt abgebrochen. Vielleicht schon längst neu geheiratet. Colin hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Mr. Curtis?«, fragte Präsident Gorman. »Ist alles in Ordnung? Kann ich mich auf Sie verlassen?«
Colin gab sich einen Ruck. Natürlich würde er seine Pflicht erfüllen und alles in seiner Macht Stehende tun, den Bau der Arche zu unterstützen. Mit den offenen Fragen musste er sich später auseinandersetzen. »Sie können sich auf mich verlassen, Sir.«