30
»Mein Gott, was für ein Anblick«, sagte Mikel.
Pala sah hinauf zum Nordpol und nickte.
Sie hatten den Rand der Stadt erst nach Anbruch der Dunkelheit erreicht, und als sie ihr Zelt aufgeschlagen hatten, war es bereits völlig finster gewesen.
Doch jetzt im Licht des anbrechenden Tages war die Sicht auf das nördliche Ende der Welt frei. Keine Sonne, keine Gebäude, keine Bäume standen mehr zwischen ihnen und dem Nordpol. Nichts verdeckte den Blick auf dieses Wunder der Welt.
Direkt vor Pala begann der Boden, der fast nur aus Fels und Geröll bestand, langsam anzusteigen. Es war, als blicke sie in eine gigantische, kilometergroße Schüssel, die ein mythischer Riese hochgehoben und vor ihr auf die Seite gestellt hatte. Und am tiefsten Punkt dieser Schüssel befand sich der Nordpol. Eine kleine Kuppel stand dort nur. Aber so hoch wollten sie ja gar nicht.
In einiger Entfernung, schon ein gutes Stück die Krümmung hinauf, war ein flaches Gebäude zu sehen. »Ist das diese Station?« Pala zeigte in die Richtung.
»Ich glaube schon«, erwiderte Toma. »Lasst uns schnell zusammenpacken und gehen. Sie kann nicht weit entfernt sein.«
Pala packte für Mikel den Rucksack zusammen. Ihr Vater sah blass aus. Immer wieder hatte sie ihn in der Nacht stöhnen hören, seinen Schweiß gerochen.
»Selbst wenn wir nichts erreichen, so hat sich der Weg alleine für diesen Blick gelohnt«, flüsterte Mikel.
Pala schnaubte. »Wir werden nicht scheitern«, erklärte sie bestimmt. Sie hatten schon zu viel auf sich genommen, um jetzt mit leeren Händen zurückzukehren. Irgendwie würden sie die Probleme in der Energiestation lösen. Pala war fest davon überzeugt, dass auch hier wieder ein dienstbarer Geist der Vorfahren auf sie wartete. Es schien sie tatsächlich in jedem Gebäude zu geben, wenn schon die früheren Expeditionen in der Stadt laut Sanes auf Geister gestoßen waren.
Pala musste laut lachen, als sie sich vorstellte, wie die Männer und Frauen in Panik aus dem ersten Gebäude, das sie in der Stadt betreten hatten, gelaufen und schnell wieder in die Wälder zurückgekehrt waren. Allerdings … wäre Toma nicht gewesen, hätten sie vielleicht genauso reagiert und wären resigniert nach Hause gegangen.
Pala war klar, dass sie schon mehr erreicht hatten als alle anderen vor ihnen seit den Tagen der Vorväter. Sie hatten herausgefunden, dass ihnen in den Städten keine Gefahr drohte und dass man vor den vermeintlichen Geistern keine Angst zu haben brauchte. Vielleicht wäre es sogar möglich, wieder in die Städte zurückzukehren. Oder zumindest an den Stadtrand, um langsam in Erfahrung zu bringen, wie man die Vorteile der Städte für den Stamm nutzen konnte. Wasser gab es am Styx genug, damit sie ihre Felder bewässern konnten. Der Fluss hatte zudem ein Bett, das tief genug war, um ihn bei dem Ruck womöglich nicht über die Ufer treten zu lassen. Sie nahm sich vor, mit dem Proffes darüber zu reden, wenn sie zurückkehrten. Aber zunächst hatten sie noch eine Aufgabe zu erfüllen und ihren Vater zu retten.
»Seid ihr so weit?«, fragte Pala.
»Ja, wir können los«, antwortete Toma.
Wortlos bückte sich Mikel nach seinem Rucksack und stöhnte, als er ihn auf den Rücken setzte.
»Lass nur.« Toma trat an Palas Vater heran und nahm ihm den Rucksack ab. »Ich werde ihn für dich tragen.«
Mikel nickte dankbar.
Pala biss sich auf die Lippen. Toma hatte sich auf der ganzen Reise noch nicht ein einziges Mal beklagt, wie sie es ursprünglich befürchtet hatte. Sie fragte sich immer häufiger, ob sie sich nicht in ihm geirrt hatte. Ob er nicht doch einen guten Partner abgeben würde.