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V minus 24 Monate
»Beeindruckend«, sagte Susan, als sie von der Anhöhe hinab in den Talkessel schaute. »Wirklich beeindruckend.«
»Ja, ich muss sagen, dass ich ebenfalls beeindruckt bin.« Crippen hatte eine Rolle Baupläne unter dem Arm. »Man kann es sich noch so gut vorstellen, aber wenn man eine Struktur dieser Größe dann wirklich vor sich sieht, ist es noch einmal etwas ganz anderes.«
»Und das nach gerade mal zweieinhalb Monaten«, flüsterte Brian.
Susan spürte seine Hand an ihrer. Zuerst zuckte sie zurück, ließ es aber dann doch geschehen, wobei sie den Blick nicht von dem gigantischen Bauwerk da unten abwenden konnte.
Am Morgen waren die letzten Stahlplatten verschweißt worden. Die Pusherplatte war nun fertig. Sie maß über einen halben Kilometer Durchmesser. Obwohl sie eine Dicke von dreißig Metern hatte, sah der Pusher so dünn aus wie ein gigantischer Teller aus grauer Pappe, den ein Riese in das Tal gelegt hatte. Die Monteure hatten ganze Arbeit geleistet und so gründlich geschweißt, dass praktisch keine Strukturen auf der Platte erkennbar waren. Aber sie waren hier auf der Anhöhe auch zu weit weg, um die Millionen von Schweißnähten erkennen zu können. Nur in der Mitte gab es ein kleines Loch von einem Meter Durchmesser. »Wofür ist das?«, fragte Susan.
»Dort wird die Abstoßeinrichtung der Atombomben integriert«, sagte Crippen. »Direkt darüber kommt als Nächstes das Magazin. Die Apparatur entnimmt dann automatisch die Atombomben, befördert sie in die Ausstoßeinrichtung und schließt kurz vor der Explosion eine dicke Blende.«
»Ich dachte, als Nächstes werden die Stoßdämpfer montiert«, bemerkte Brian.
Crippen nickte. »Das geschieht zeitgleich. Die Elemente dafür wurden in den letzten Tagen geliefert und vormontiert.«
Er zeigte auf eine Stelle am Rand des Tals, an der mehrere dicke, graue Zylinder lagen, die sicher Dutzende von Metern lang waren. »Sie werden einfach mit Kränen an ihre Position gehoben und auf der Pusherplatte befestigt. Ausstoßmechanismus und Magazin sollten ebenfalls innerhalb der nächsten Woche montiert sein.«
»Wann laden Sie die Atombomben ein?« Susan fühlte sich unwohl, wenn sie an diese schlimmste Massenvernichtungswaffe der Menschheit dachte, die die Passagiere des Raumschiffes nun retten sollte.
»Ganz zum Schluss«, erwiderte Crippen. »Dyson sagt, dass die Produktion bereits begonnen hat, aber ich will hier auf der Baustelle nicht Tausende von Atomsprengköpfen lagern. Sie sind vorerst in der Produktionsanlage, die ja auch gleichzeitig ein Kernwaffenarsenal ist, besser aufgehoben.«
»Rechnen Sie mit Sabotage?«, erkundigte sich Brian.
»Eigentlich nicht«, antwortete Crippen achselzuckend. »Wer sollte ein Interesse haben, diese letzte Chance zu sabotieren? Andererseits arbeiten Tausende von Leuten hier auf der Baustelle. Für ausgedehnte Sicherheitschecks haben wir leider nicht genug Zeit. Niemand kann ausschließen, dass da nicht auch der eine oder andere Spinner darunter ist. Sie können sich vorstellen, dass die Herren Generäle von der Area 51 sich jedes Mal die Haare raufen, wenn eine neue Ladung Arbeiter von Las Vegas herüberkommt. Leider haben wir eine große Fluktuation an Arbeitskräften.«
»Fluktuation?« Susan war überrascht. »Woran liegt das?«
»Ist ein Systemfehler«, sagte Colin. »Jeder, der hier neu auf die Baustelle kommt, kriegt eine Registriernummer, die ihm in der Lotterie die doppelte Chance sicherstellt. Viele nehmen die Nummer und kündigen nach ein paar Tagen wieder.«
»Kann man nicht eine Mindestarbeitszeit einführen?«, wandte Susan ein. »Für die Qualität der Arbeit ist der permanente Wechsel des Personals doch sicher nicht gut.«
Crippen schüttelte den Kopf. »Wir haben nun mal Arbeiter oder Fachleute, die wir nur ein oder zwei Tage lang für spezielle Dinge brauchen. Und jetzt das ganze System wieder zu verändern, wäre mit erheblichem Aufwand verbunden. Außerdem wird die Fluktuation allmählich geringer.«
»Immerhin«, meinte Susan.
Crippens Smartphone klingelte. Er wandte sich ab, um das Gespräch anzunehmen.
»Was meinst du, wie beeindruckend der Anblick erst ist, wenn sich die Arche einen Kilometer hoch in den Himmel erstreckt.« Brian grinste.
»Ich war schon am Burj Khalifa in Dubai. Das Gebäude ist auch fast einen Kilometer hoch.«
»Aber bei weitem nicht so breit«, gab Brian zurück. »Glaub mir, die Arche wird weitaus imposanter sein.«
»Ganz davon abgesehen, dass das Ding in etwas mehr als einem Jahr in den Weltraum fliegen soll.«
»Und wir sind dabei«, flüsterte Brian.
Er beugte sich zu ihr herüber, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie ließ es geschehen, obwohl sie den Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht mochte.
In den vergangenen beiden Monaten hatte sich ihre Beziehung gefestigt, trotz der Tatsache, dass sie sich nur sporadisch sahen. Susan war die meiste Zeit an der Ostküste unterwegs gewesen und hatte mit Physikern und anderen Wissenschaftlern über den Vakuumzerfall gesprochen. Im November war sie noch bei einem Symposium zu diesem Thema in Deutschland gewesen, als eine Demonstration am Veranstaltungsort in Hamburg außer Kontrolle geraten war und einige Teilnehmer von einem Mob mitten auf der Straße totgeschlagen wurden. Susan war zu diesem Zeitpunkt im Hotel gewesen und hatte es erst aus den Nachrichten erfahren. Noch am selben Tag war sie in die Staaten zurückgeflogen. Solche Angriffe gegen Wissenschaftler hatte es in der letzten Zeit überall auf der Welt gegeben. Susan konnte es nicht nachvollziehen. Es war fast, als würden die Menschen den Akademikern die Schuld geben. Aber schon im Mittelalter waren die Überbringer schlechter Nachrichten gerne gelyncht worden.
Auch andere Gewaltausbrüche häuften sich. In Mali richteten islamistische Gruppen ein Massaker nach dem anderen an, weil sie dachten, Allah bestrafe die Menschen nun für ihre westliche Verdorbenheit. Außerdem hatte es mehrere Versuche gegeben, amerikanische Staatsbürger zu entführen, um damit Plätze auf der Arche zu erpressen.
Susan hatte beschlossen, das Land nicht mehr zu verlassen und auch Inlandsreisen auf ein Minimum zu reduzieren. Und dennoch pendelte sie wöchentlich zwischen Washington, Madison und Nevada hin und her.
Brian blieb die ganze Zeit bei der Baustelle der Arche und unterstützte Crippen, wo es nur ging. Nachts legte er sich für gewöhnlich auf ein Feldbett in irgendeinen Container, von denen es genug auf der Baustelle gab.
Wenn Susan zu Besuch kam, mieteten sie sich meistens ein Hotel in Las Vegas, was gar nicht so einfach war, da die Glücksspielstadt im Wüstensand vor Menschen aus allen Nähten platzte. Offenbar wollten viele wohlhabende Leute mit ihrem Reichtum das Leben noch vor Eintreffen der Vakuumfront genießen, so gut es ging.
»Träumst du?«, fragte Brian.
Susan seufzte. »Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber?«
Susan winkte ab. »Nicht so wichtig. Jedenfalls bin ich überrascht, wie gut die Arbeiten vorangehen.«
»Ja, wir liegen genau im Plan«, bestätigte Brian.
»Das wird aber nicht immer so bleiben«, gab Susan zu bedenken.
»Ach?«
»Ich hatte letzte Woche ein Gespräch mit Präsident Gorman und seinem Sicherheitsberater«, sagte Susan.
»Und?«
»Die Leute gehen davon aus, dass wir eine Arche bauen, die Hunderttausende Leute trägt. Manche reden sogar von Millionen.«
»Völliger Humbug. Das hat doch niemals jemand behauptet.«
»Mag sein, aber es hilft uns, weil die Leute denken, dass sie eine wirkliche Chance haben. Die Regierung dementiert diese Gerüchte nicht, sondern forciert sie mit Hilfe der CIA und der NSA sogar, die das Internet entsprechend manipulieren.«
Brian nickte langsam. »Ich verstehe. Wenn das Raumschiff erst mal Form annimmt, wird man schnell dahinterkommen, dass nur wenige Leute gerettet werden.«
»Fachblätter wie ›Jane’s‹ oder ›Aviation Week‹ haben schon deutlich gemacht, was sie von dem ›Millionenschiff‹ halten, aber die Leute wollen es nicht hören.«
»Ja, die Leute wollen sich ihre Hoffnung nicht kaputtmachen lassen.«
Crippen trat wieder zu ihnen. »Ich muss runter zur Baustelle. Wir sehen uns ja später noch.« Der Schiffsbauer drehte sich um und stapfte den Hügel hinab.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, erklärte Brian. »Spätestens, wenn wir in einigen Wochen damit beginnen, den Stahlzylinder zusammenzuschweißen, der die Hülle des Habitats darstellt, wird man schnell darauf schließen können, wie viele Menschen die Arche maximal befördern kann.«
»Ich fürchte, dass es dann zu Unruhen kommen wird«, sagte Susan. »Der Sicherheitsberater rechnet auch damit und hat schon damit begonnen, Vorkehrungen zu treffen.«
»Und welche sind das?«, wollte Brian wissen.
Susan zuckte mit den Schultern. »Das hat er nicht gesagt.«
Brian fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln auf dem Kinn und brummte.
»Hätten wir nicht noch eine größere Arche bauen können?«, fragte Susan.
Brian schüttelte den Kopf. »Unsere Arche ist schon größer als die ›Super-Orion‹ aus den fünfziger Jahren und definitiv das größte Schiff, das von der Erde aus starten kann.«
»Super-Orion?«
»Das war ein theoretischer Plan für ein Riesenschiff mit einem Durchmesser von 150  Kilometern. Aber das hätte man im Erdorbit zusammenbauen müssen, da es nicht von der Erde hätte starten können. Das hätte sicher Zehntausende Menschen transportiert.«
»Und warum haben wir das nicht gebaut?«, fragte Susan.
Brian lachte laut auf. »Dazu hätte die Zeit niemals gereicht. Das würde Dutzende Jahre in Anspruch nehmen.«
Und die haben wir nicht!