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»Rinder,
Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner, Pferde, Esel, Hunde, Katzen«, sagte Eva Liu.
Colin glaubte, er habe sich verhört. »Ist das Ihr Ernst?«
»Mein voller Ernst«, antwortete die Agrarexpertin der San Francisco State University. »Und das sind nur die wichtigsten Nutztiere. In die zweite Reihe kommen zusätzlich Meerschweinchen, Kamele, Dromedare, Rentiere, Hirsche, und vergessen Sie bloß nicht Bienen und die wichtigsten Fischsorten.«
Mrs. Liu war eine junge, sehr attraktive Akademikerin. Die chinesischstämmige Schönheit hätte früher ganz sicher Colins Jagdinstinkte geweckt, aber daran war hier und jetzt nicht zu denken. »Wir haben schon Mühe genug, die ganzen Menschen unterzubringen«, erklärte er. »Wir können nicht auch noch die halbe Tierwelt transportieren.«
»Der Mensch hat Tiere immer gebraucht, um überleben zu können«, sagte Liu. »Das wird sich garantiert auch in Zukunft nicht ändern.«
Colin starrte aus dem Fenster auf die Skyline von San Francisco, die sich unter einem blauen Himmel sonnte. In der Ferne war die Golden Gate Bridge hinter einigen Hochhäusern erkennbar.
Der Astronaut fühlte sich in diesem Gespräch fehl am Platze. Samantha Davis hatte ihn gebeten, mit der Agrarexpertin zu reden, und er hatte trotz seiner Bedenken zugestimmt. Doch die Entscheidung, welche Tiere sie mit auf die Arche nehmen sollten, mussten andere fällen. Liu mochte ihre Beweggründe für ihre Auswahl haben, aber Colin war einfach nicht in der Lage, diese Liste zu beurteilen. Das Weiße Haus musste jemand anderen schicken. Colin schloss seine Mappe und verstaute sie in der Ledertasche neben seinem Stuhl.
»Was haben Sie vor, Mr. Curtis?«, fragte Liu.
»Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe, aber für dieses Thema bin ich nicht der passende Gesprächspartner.«
Ihre Augen weiteten sich. »Sie wollen gehen? Jetzt schon? Einfach so?«
Colin machte eine beschwichtigende Geste. »Wie gesagt, ich bin für diese Dinge kein Experte und kann hier auch gar nichts entscheiden. Ich werde dem Weißen Haus aber empfehlen, das Thema auf die Tagesordnung des nächsten Symposiums zu setzen und dafür sorgen, dass man Sie dann einlädt und anhört.«
Das Gesicht seiner Gesprächspartnerin rötete sich. »Warum hat das Weiße Haus mir einen Mann geschickt, der von dem Thema keine Ahnung hat und auch nichts entscheiden kann?«
»Ich vermute mal, weil ich sowieso gerade in San Francisco war.«
Liu seufzte und erhob sich. »Dann beenden wir das jetzt hier, damit wir nicht noch mehr Zeit verschwenden.«
Colin nickte und bückte sich nach seiner Tasche. Sie gaben einander die Hände und Colin verließ den Raum.
Wenige Augenblicke später stand Colin draußen und blickte die Columbus Avenue hinab. Es gab kaum Verkehr auf der Straße. Nur wenige Menschen waren mit dem inzwischen üblichen, apathischen Gesichtsausdruck auf dem Bürgersteig unterwegs. Colins Flug nach Washington war erst am späten Nachmittag, und er fragte sich, was er mit den sieben Stunden Freizeit Sinnvolles anfangen sollte. Er konnte natürlich ein Taxi zum Flughafen nehmen und sich dort mit seinem Laptop in einer Business Lounge verkriechen. Zu tun hatte er genug. Andererseits war es inzwischen doch noch überraschend warm geworden. Er konnte die paar Blocks zum Pier 39
hinabgehen und sich dort mit einer Tasse Kaffee in die Sonne setzen. Zumindest für eine Stunde. Ja, das war eine gute Idee.
Colin wandte sich um und trat auf die Straße zu. Plötzlich rammte etwas gegen seine Seite und riss ihn von den Füßen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Gestalt wahr, die kopfüber auf den Gehsteig knallte. Ein Jogger, der nicht aufgepasst hatte?
Er selbst prallte mit den Ellbogen auf den Asphalt, da er sich mit der schweren Tasche in seiner Hand nicht richtig abfangen konnte. Der andere war auch hingefallen, rappelte sich aber hektisch wieder auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Colin, doch der Mann ignorierte ihn und lief davon. Erst jetzt fiel Colin auf, dass der Typ einen dicken Mantel trug. Kein Jogger. Der Andere hetzte davon, als sei er vor jemandem auf der Flucht. Colin blickte sich um und erwartete, einen Cop zu sehen, der dem Weglaufenden auf den Fersen war. Aber da kam niemand.
Colin stand ächzend auf und rieb sich den schmerzenden Ellbogen. Das würde wieder heilen. Der aufgescheuerte Mantel schmerzte ihn mehr. Es war der einzige, den er hatte.
Er machte sich erneut daran, die Straße zu überqueren, als einige Meter neben ihm eine Frau aufschrie. Colin zuckte zusammen. Ihre ungewöhnlich langen roten Haare fielen ihm auf. Sie starrte auf ihr Handy und schrie erneut. Dann drehte sie sich um und hetzte davon, als sei der Teufel hinter ihr her.
Colin schüttelte den Kopf.
Was ist denn heute nur mit den Leuten los?
Ein Motor heulte auf. Ein weißer SUV
schoss mit sicher hundert Sachen an ihm vorbei und raste die Columbus Avenue in Richtung Pyramid hinab.
Verrückt! Total verrückt!
Colin blickte sich um. Immer mehr Menschen verfielen scheinbar grundlos in Panik. Zwei Blocks weiter stürzte eine ganze Armada anzugtragender Büroarbeiter aus dem mehrstöckigen Gebäude einer Bank. Einer von ihnen lief auf die Straße, ohne sich umzusehen, und wurde von einem grauen Van erfasst. Das Fahrzeug rumpelte über den Mann hinweg und beschleunigte. Niemand kümmerte sich um den Verletzten. Auch seine Kollegen ignorierten den mitten auf der Straße liegenden Mann.
Was ging hier nur vor sich?
Colin wollte zu dem Unfallopfer laufen, als er eine Vibration in seiner Hosentasche spürte. Während er das Handy herausfischte, bekam er ein ganz mieses Bauchgefühl.
Seine Hände zitterten, als er auf das Display sah. Er hatte eine Nachricht erhalten.
»ALARM
! BALLISTISCHE RAKETEN IM ANFLUG AUF SEATTLE
, SAN FRANCISCO
, LOS ANGELES
, SAN DIEGO
. ETWA
5
–10
MIN
. SUCHEN SIE UNMITTELBAR SCHUTZ
.«
Colin musste den Satz zweimal lesen. Dann begriff er endlich, dass offenbar die Westküste der Vereinigten Staaten von Atomraketen angegriffen wurde. Die Nachricht musste von der FEMA
oder einer anderen Regierungsstelle über das nationale Warnsystem ausgegeben worden sein. Aber wer sollte das tun? Warum schoss ausgerechnet jetzt jemand Atomraketen auf sein Land? Sie befanden sich mit niemandem im Krieg. China? Russland? Nordkorea?
Dann begannen rings um ihn herum, Warnsirenen zu jaulen. Der Lärm war ohrenbetäubend.
San Francisco!
Ich bin im Zentrum von San Francisco!
Die anderen Leute hatten ebenfalls diese Warnung gehört. Darum rannten sie in Panik davon.
Fünf bis zehn Minuten!
Er musste Schutz suchen. Irgendwo. Unter der Erde. Am besten wäre die Metro. Wo war die nächste Station? Das musste Montgomery sein. Aber bis dahin brauchte er selbst im Laufschritt über eine Viertelstunde. Das würde nicht reichen.
Er holte tief Luft. Er verspürte Angst, aber keine Panik. Seine Piloten- und Astronautenausbildung machte sich nun bezahlt. Er hatte gelernt, schnelle und logische Entscheidungen zu treffen, um sein Leben in Extremsituationen zu retten.
In irgendein Gebäude. Und dann in den Keller. Aber wo?
Hinter ihm, in Richtung Aquatic Park, befanden sich nur drei- bis maximal vierstöckige Gebäude, die sicher keine tiefen Keller hatten. Vor sich erkannte er in einigen hundert Metern Entfernung die Hochhäuser des Financial Districs. Darunter die charakteristische Transamerica Pyramid. Diese Häuser hatten Fundamente, die tief in den Boden reichten und von denen die meisten erdbebensicher gebaut waren. Einige von ihnen mochten Tiefgaragen haben, die für ihn gut zu erreichen waren. Das war seine beste Chance.
Colin lief los.
Er merkte, dass die schwere Ledertasche ihn behinderte, also ließ er sie einfach fallen. Hier ging es um sein nacktes Leben!
Menschen rannten ihm entgegen, einige von ihnen schreiend. Es sah so aus, als wollten die meisten aus dem Financial District flüchten, aber wie weit konnten sie innerhalb von zehn Minuten aus
dem Stadtzentrum kommen?
Colin war völlig außer Atem, als er die Washington Street erreichte.
Die Transcontinental Pyramid türmte sich vor ihm in den Himmel. Auch aus dem Gebäude flohen die Menschen in Panik.
Ein bulliger Mann mit raspelkurzen Haaren in einem ausgeleierten Shirt zog plötzlich eine Pistole und schoss auf eine Frau, die in einem Jeep am Straßenrand saß und gerade den Motor startete. Die Verwundete kippte auf den Beifahrersitz. Der Schütze kletterte in den Wagen, gab Gas und brauste davon.
Colin kümmerte sich nicht weiter darum, er sah sich suchend um.
Wo ist die verdammte Tiefgarage?
Aber da war nichts.
Wie viele Minuten waren seit der Warnung schon vergangen? Fünf? Zehn? Jeden Augenblick konnte über seinem Kopf eine Atombombe explodieren.
Wohin jetzt, verflucht?
Die Pyramid. Das war seine letzte Chance!
Er rannte auf das weiße Gebäude zu und lief zwischen den großen Säulen hindurch auf den Eingang zu. Bei den ganzen ihm entgegenströmenden Menschen hatte er Mühe, sich einen Weg zu bahnen.
In der Lobby hallten ihm die Schreie der Fliehenden entgegen. Der Lärm war kaum auszuhalten.
Eine kleine, blonde Frau stieß mit ihm zusammen und fiel zu Boden. Colin packte sie unter den Achseln und zog sie hoch. Sie wollte sich losreißen und den anderen Menschen nach draußen folgen. Colin hielt sie fest. »Nein, nicht hinaus!«, schrie er.
»Wohin denn sonst?«, schrie sie zurück.
»In den Keller!«, brüllte Colin. »Wir müssen Deckung suchen. Die gibt es draußen nicht.«
»Doch, wir müssen zur Metro!«
Colin schüttelte den Kopf. »Die ist zu weit weg. Das schaffen Sie nie! Kommen Sie mit in den Keller, wenn Sie leben wollen.«
Die Frau starrte ihn einen Augenblick an und nickte dann.
»Ein Treppenhaus! Wo ist ein Treppenhaus?«
Die Frau zog ihn mit sich. Sie liefen um einige Säulen herum und
dann war da endlich neben einem versteckten Wartungslift eine Tür mit dem charakteristischen Treppensymbol. Colin stieß sie auf. Sie gelangten in ein schmales Treppenhaus.
Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte er hinab, die Frau mit sich ziehend.
Vier Stockwerke waren sie nach unten vorgedrungen, dann endete die Treppe. Colin riss die Tür auf. Ein schmaler Korridor führte vom Treppenhaus weg. Er zerrte die Frau hinter sich her. Rechts und links von ihm befanden sich Räume. Besen- und Lagerkammern, Geräte der Gebäudeinstallationen. Er stürmte in eins der Depots und schloss die Tür, als auch seine Begleiterin durch war. Die Regale an den Wänden waren leer. Die Neonröhre an der Decke flackerte leicht und summte.
»Auf den Boden! Unter eines der Regale!«
Die Frau tat, was er sagte, und Colin legte sich neben sie, den Kopf nach unten. Die Hände verschränkte er schützend über dem Kopf.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Ann«, flüsterte die Frau. »Und Sie?«
»Colin.«
Dann lagen sie schwer atmend nebeneinander.
Colin blickte auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten waren seit der Raketenwarnung vergangen.
Er roch den herben Schweiß der Frau neben sich. Sie schluchzte. Er zitterte.
Plötzlich bebte der Boden. Es krachte, als hätten tausend Kanonen gleichzeitig direkt neben seinem Ohr gefeuert. Ann schrie. Colin rückte näher an die Frau heran, legte sich halb auf sie, um sie mit seinem Körper zu schützen. Er hörte berstenden Beton direkt über sich und ein schwerer Gegenstand stürzte auf seinen Rücken. Er schrie auf. Mit einem Knall zerplatzte die Neonröhre, während das Krachen von außen immer lauter wurde.
Dann bekam er einen Schlag gegen die Schläfe und sein Kopf wurde zur Seite gerissen. Er hatte noch Zeit für einen letzten Gedanken.
Das war’s dann wohl!