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»Die Explosion muss stärker gewesen sein, als gedacht«, sagte ein General. »Mindestens 200  Kilotonnen.«
»Meinen Sie, das war eine Wasserstoffbombe?« Susan erinnerte sich an Nachrichtensendungen, wonach Nordkoreas Präsident mit der erfolgreichen Entwicklung einer Fusionswaffe geprahlt hatte.
Aber der General schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Eine richtige Wasserstoffbombe hätte sicher im Megatonnenbereich gelegen.«
»Vielleicht ist sie nicht richtig explodiert«, sagte der Präsident. Er zitterte.
»Ich glaube eher, dass es sich um eine mit Tritium verstärkte Spaltwaffe handelt«, mutmaßte der General. »Wenn man das fusionsfähige Gas im Moment der Explosion in einen Hohlraum im Plutoniumkern leitet, kann man durchaus Explosionsstärken im Bereich von über hundert Kilotonnen erreichen.«
Der Präsident seufzte. »Lassen Sie uns nicht über die Bauform der Bombe reden, sondern darüber, wie wir den Menschen in San Francisco helfen können.«
»Wir können von hier aus gar nichts tun«, verkündete ein hagerer Mann im grauen Anzug, den Susan nicht kannte.
»Das ist nicht Ihr Ernst, Richard!«, empörte sich Präsident Gorman.
»Doch, Mr. President. Katastrophenpläne existieren natürlich und die Ausführung liegt beim Staat Kalifornien.«
»Aber wir können doch zusätzliche Hilfe von hier aus dorthin delegieren.«
»Da kämen wir uns nur ins Gehege«, meinte der Mann. »Es steht Kalifornien natürlich frei, jederzeit Bundesmittel anzufordern.«
»Sie sollten sich vielmehr um etwas anderes Gedanken machen, Sir«, sagte General Gunn, der vor dem Präsidenten aufgetaucht war. »Nämlich um die Form des Gegenschlags.«
Susan lief es kalt den Rücken hinunter. Würde Gorman nun seinerseits Atomraketen nach Nordkorea schicken?
Der Präsident nickte langsam und betrachtete die Weltkarte am anderen Ende des Raums. Er zog seine Stirn in tiefe Falten, und sein Blick wurde glasig.
»Mr. President?«, beharrte der General ungeduldig.
Gorman hob die rechte Hand. »Lassen Sie mich einen Moment nachdenken, bitte.«
»Soll ich den Operations Plan holen?«
»Tun Sie das!«
General Gunn drehte sich um und ging davon.
Susan stand auf und näherte sich dem Präsidenten, der immer noch die Weltkarte anstarrte. »Bitte verzichten Sie auf einen nuklearen Gegenschlag«, flüsterte sie. »Es sind schon genug Menschen gestorben. Niemandem ist damit geholfen, wenn wir nun nordkoreanische Städte einäschern.«
Gorman ruckte herum. Sein Blick war eisig. »Halten Sie den Mund. Ich muss nachdenken.«
Susan verstummte. Der General war mit einer dicken Mappe unter dem Arm zurückgekehrt und drängte sie zur Sitzreihe an der Wand. »Überlassen Sie diese Entscheidung dem Präsidenten und seinen politischen und militärischen Beratern.«
»Aber …«
Der General verschränkte die Arme vor der Brust. »Treten Sie zurück oder ich lasse Sie aus dem Situation Room entfernen.«
Zwei weitere Generäle und der Verteidigungsminister stellten sich zum Präsidenten und redete beinahe gleichzeitig auf ihn ein. Gorman brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Was ist Ihre Empfehlung, Jack?«
Einer der Generäle räusperte sich. »Ich empfehle Option G-6 aus dem Operations Plan. Es ist ein kompletter Schlag gegen alle militärischen Ziele und vor allem gegen die vermuteten Raketenstützpunkte.«
»Ein kompletter Schlag? Wie viele Sprengköpfe? Was sagen die Simulationen?«
Der General blätterte in dem Ordner.
»56  Raketen mit 312  Sprengköpfen zwischen 20  Kilotonnen und 1 ,2  Megatonnen. Leider haben die Nordkoreaner viele Militärstützpunkte in dichtbesiedelten Gebieten. Wir rechnen mit acht bis zehn Millionen Toten.«
Der letzte Rest Farbe wich aus dem Gesicht des Präsidenten. »Ich spreche doch nicht das Todesurteil über zehn Millionen Menschen«, sagte er mit hysterischem Unterton.
»Es gibt noch die Alternative eines Schlages gegen die politische und militärische Führung. Diese Option zielt auf Ämter und Einrichtungen der Regierungsspitze sowie auf das persönliche Wohneigentum des Kim-Clans. Aber auch diese Möglichkeit dürfte mindestens fünf Millionen Tote generieren.«
Der Präsident schüttelte den Kopf. »Das mache ich nicht.«
»Nordkorea hat vier Atomraketen auf uns geschossen und San Francisco zerstört.« General Gunns Stimme klang eisig. »Darauf müssen wir angemessen reagieren.«
Der Präsident atmete stoßweise ein und aus. »Und wenn wir auch vier Atomraketen schicken und damit rein militärische Ziele angreifen?«
Susan verfolgte die Diskussion mit angehaltenem Atem. Es war unvorstellbar, dass hier in einem Gespräch zwischen einigen wenigen Menschen über das Schicksal von Millionen entschieden wurde!
»Mr. President, ich rate davon dringend ab«, wandte der Verteidigungsminister ein. »Das würde uns als schwach und unentschlossen dastehen lassen.«
»Davon abgesehen, würde es den Nordkoreanern die Möglichkeit eröffnen, den Rest ihrer Atomraketen auch noch abzuschießen«, gab General Gunn zu bedenken.
»Dann schicken wir gar keine Atomraketen«, entgegnete Präsident Gorman. »Zum einen wird Nordkorea mit all seinen Bewohnern in etwas über einem Jahr sowieso nicht mehr existieren, wenn die Vakuumfront die Erde erreicht. Außerdem verzichten wir damit aus einer überlegenen moralischen Warte auf einen Rachefeldzug, der keinen einzigen toten Amerikaner wieder lebendig macht.«
»Mr. President!« General Gunn hob die Stimme. »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«
»Ben! Das geht nicht.« Verteidigungsminister Graham gestikulierte wild. »Eine solche Reaktion würde niemand verstehen und niemand akzeptieren. Die Amerikaner werden Gerechtigkeit einfordern. Wenn wir keinen Gegenschlag starten, wirst du morgen nicht mehr Präsident sein. Niemand wird mehr auf dich hören.«
»Ich lasse mich nicht zum Massenmörder aus niedrigen Motiven machen«, erwiderte Gorman eindringlich. »Dann gebe ich mein Amt lieber auf.«
Susan zog es angesichts dieses Gesprächs den Boden unter den Füßen weg. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, welche Macht und welche Verantwortung über Millionen von Menschen auf der ganzen Welt das Präsidentenamt mit sich brachte. Sie wäre nie in der Lage, solche Entscheidungen zu treffen, wie sie vom Präsidenten gefordert wurden.
»Und wer soll das Land dann führen?«, fragte Graham. »Der Vizepräsident ist krank. In einem Jahr kommt das Vakuum, und wir müssen uns auf den Bau der Arche konzentrieren. Gerade jetzt brauchen wir einen starken Präsidenten. Wenn du heute das Handtuch wirfst, dann ist das das Ende der Arche.«
»Aber ich kann mich doch nicht an Gott und der Welt versündigen und Millionen von Menschen töten!«
»Die Menschen werden in einem Jahr ohnehin sterben«, sagte General Gunn mit harter Stimme. »Und für uns geht es um alles oder nichts! Um Leben und Tod!«
War das wirklich so? Susan wollte es nicht glauben. Es musste doch einen Weg geben, das Projekt zu Ende zu bringen, ohne dafür Millionen Tote in Nordkorea in Kauf zu nehmen. Allerdings wusste sie auch, dass der Verteidigungsminister recht hatte. Sie kannte genügend Menschen, die nun nach Vergeltung schreien würden. Aber musste das denn unbedingt ein atomarer Gegenschlag sein? Sie hatte eine Idee. »Mr. President, ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Halten Sie den Mund!«, fuhr Graham sie an und machte einen Schritt auf sie zu.
Doch Gorman hielt den Minister zurück, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Lassen Sie sie reden. Ich möchte ihren Vorschlag hören.«
Susan atmete tief ein und wieder aus. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr Plan realisierbar war. Aber sie wollte wenigstens versuchen, einen atomaren Gegenschlag zu verhindern. »Rächen Sie sich an den Personen, die für San Francisco letztlich verantwortlich sind. Nämlich dem Kim-Clan. Ordnen Sie konventionelle Luftschläge an und bombardieren Sie die Besitztümer des Despoten. Bombardieren Sie auch die Hauptsitze der Militärführung und die Produktionszentren ihrer Nuklearindustrie. So erwischen Sie wirklich die Menschen, die für den Angriff verantwortlich sind, ohne die ohnehin notleidende Bevölkerung für etwas zu bestrafen, was sie nicht getan hat.«
Der Präsident blickte sie lange Sekunden schweigend an und nickte dann. »Ein nicht-nuklearer Gegenschlag. Der Plan hat etwas für sich.« Gorman wandte sich an General Gunn, der neben ihm stand. »General?«
Doch der schüttelte den Kopf. »Ist nicht durchführbar und auch nicht sinnvoll.«
»Warum nicht?« Der Präsident funkelte den General an.
»Wir haben nicht die Ressourcen dafür«, sagte Gunn. »Ich darf Sie daran erinnern, dass wir die Pazifikflotte zurück nach Pearl Harbor beordert haben. Viele Soldaten beteiligen sich nun direkt oder indirekt am Bau der Arche. Wir müssten erst einmal die Grundlagen schaffen. Das zieht zum einen Ressourcen von der Arche ab und zum anderen dauern die Vorbereitungen für einen konzertierten nicht-nuklearen Gegenschlag Wochen.«
»Dann dauert es halt Wochen!«, entgegnete der Präsident.
»Ich kann keine Ressourcen von der Arche abziehen!«, beharrte General Gunn. »Wir würden den Zeitplan nicht halten können. Außerdem ist der Aufmarsch gut sichtbar und bietet Nordkorea die Gelegenheit, uns mit weiteren Raketen zu bedrohen.«
»Ich stimme dem zu, Ben«, meldete sich der Verteidigungsminister zu Wort. »Wir können uns das nicht erlauben. Wir sollten einen massiven nuklearen Schlag gegen Nordkorea durchführen und dem Land damit die Möglichkeit nehmen, uns weiter zu bedrohen.«
»Bitte, Mr. President«, flehte Susan. »Bitte tun Sie das nicht!«
»Halten Sie den Mund«, kommandierte General Gunn.
Der Verteidigungsminister redete weiter auf den Präsidenten ein. »Es gibt keine andere Möglichkeit, San Francisco zu vergelten, unser Gesicht zu wahren und die Gefahr eines weiteren Angriffs zu verhindern.«
Der Präsident hob die Hand und brachte Graham dadurch zum Schweigen. Dann wandte er sich um und betrachtete mit zusammengepressten Lippen die Weltkarte. So stand er lange in Gedanken versunken mitten im Raum. Keiner wagte, ihn anzusprechen.
Eine gefühlte Ewigkeit verging. Alle Anwesenden waren verstummt und blickten Gorman an. Im Situation Room war es so still geworden wie auf einem Friedhof.
»Mr. President?«, flüsterte Verteidigungsminister Graham.
Endlich wandte der Präsident den Kopf. Gormans Gesicht glich einer Maske.
Susan wartete auf die Worte.
»Tun Sie es!«, krächzte der Präsident. »Massiver Gegenschlag.«
Susan stürzte nach vorne, ergriff den Arm des Präsidenten. »Nein, bitte! Tun Sie das nicht!«, rief sie laut.
Gorman schüttelte ihre Hand ab und blickte sie einen Moment lang stumm an. Die Entscheidung war gefallen. Susan konnte nichts mehr tun.
Der General wirkte erleichtert. Fast schon sanft nahm er Gormans Arm. »In Ordnung. Kommen Sie mit.«
Der Präsident ließ es geschehen, dass Gunn ihn zum Tisch in der Mitte des Raumes führte und ihn in einen Sessel bugsierte.
»Wo ist der Typ mit dem Atomkoffer?«, fragte der Präsident mit schwacher Stimme.
»Den ›Football‹ brauchen wir im Situation Room nicht«, erklärte General Gunn. »Wir haben hier alle notwendigen Kommunikationsverbindungen.«
Der General wandte sich an einen der anderen uniformierten Soldaten. »Colonel, verbinden Sie uns mit dem War Room im Pentagon.«
Susan durfte das nicht zulassen. »Mr. President, bitte …« Eine Hand legte sich von hinten um ihren Mund. Irgendjemand hob sie hoch und brachte sie in den hinteren Teil des Raumes. Sie wandte den Kopf und erkannte einen Agent des Secret Service. Er hielt sie fest umklammert, und sie konnte dem Geschehen nur noch hilflos zusehen.
»Verstanden«, sagte der angesprochene Oberst in blauer Uniform und drückte eine Schnellwahltaste auf dem Telefon.
Es dauerte nur wenige Sekunden, dann erhellte sich einer der Monitore an der Wand. Ein weiterer Uniformierter im Generalsrang mit kurzen grauen Haaren wurde darauf sichtbar. Susan erkannte ihn als Flint Sanders, den Vorsitzenden der Stabschefs.
»Mr. President?«, sagte der Mann auf dem Bildschirm.
Gorman saß kerzengerade und steif in seinem Sessel. »Ich ordne einen nuklearen Gegenschlag auf Nordkorea an.«
»Verstanden, Sir«, antwortete Sanders. »Wir haben damit gerechnet. Haben Sie eine Option aus dem OPLAN gewählt?«
Der Präsident sah General Gunn fragend an.
»Option G-6 «, flüsterte der.
»Option G-6 «, wiederholte Gorman laut.
Sanders blickte kurz nach unten. »Option G-6 bestätigt«, erwiderte er schließlich.
»Sie müssen sich identifizieren«, erinnerte der Verteidigungsminister.
Susan versuchte, sich aus dem Griff des Agents zu winden, aber sie hatte keine Chance.
Gorman nickte und griff in das Innere seiner Jacke. Er zog eine dünne, rote Plastikhülle heraus, zerbrach sie in der Mitte und holte einen kleinen Zettel daraus hervor. Dann las er eine lange Kombination von Zahlen und Buchstaben vor.
»Bestätige den Startcode«, ließ Sanders verlauten. »Ich brauche noch die Freigabe des Verteidigungsministers.«
»Ich bin hier«, sagte Graham und trat hinter Gorman. »Ich bestätige die Identität des Präsidenten.«
Sanders nickte. »Freigabe bestätigt. Einsatzbeginn?«
»Unmittelbar«, antwortete General Gunn.
»Verstanden, Mr. President.«
Der Bildschirm wurde wieder dunkel.
Der Agent ließ Susan überraschend los. Sie sah ihn wutentbrannt an. »Tut mir leid«, flüsterte er.
Sie wandte sich wieder dem Präsidenten zu, wollte den Wahnsinn noch stoppen. Doch an Gormans Gesicht sah sie, dass es zu spät war. Der Befehl war gegeben und nichts konnte das Inferno mehr verhindern. Sie hätte schreien mögen.
Der Präsident sackte in seinem Sessel wie ein nasser Sack zusammen. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er leise.
»Das Pentagon reicht die Startcodes über Milstar an die Abschussbasen weiter. OPLAN G-6 ist eine Option, die ausschließlich von landgestützten Interkontinentalraketen ausgeführt wird. Es dürften weniger als fünf Minuten vergehen, bis die Raketen in der Luft sind.«
»Mr. President, wir sollten die umliegenden Länder informieren, darunter Südkorea, Japan und China«, empfahl der Verteidigungsminister.
»Kümmern Sie sich darum, Moses«, sagte Gorman mit schwacher Stimme. »Oder, besser noch, geben Sie es an Al weiter.«
Graham nickte, griff nach seinem Telefon und trat beiseite.
Plötzlich entstanden in der Fläche Amerikas auf der Weltkarte kleine gelbe Punkte. Hauptsächlich im Norden des Landes in Montana, North Dakota und Wyoming. Feine, weiße Linien schoben sich von dort aus in langgezogenen Kurven nach Nordwesten. Es wurden immer mehr.
»Möge Gott uns vergeben«, flüsterte Gorman.
»Wir haben uns gerade zu einem Volk von Mördern gemacht«, schrie Susan. »Wir sind nun für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich. Sie sind für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich.«
General Gunn blickte sie eisig an. »Das ist nicht weiter tragisch, denn sie würden in etwas mehr als einem Jahr sowieso sterben.«